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 3  Die Todesbestimmtheit 

 Neuffer-1992

 

  

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Jedes Menschenleben endet mit dem Tod - eine so banale wie überwältigende Einsicht. Der Mensch als lebendes System wird vernichtet, die Person ausgelöscht. Das Ich, das jeder ist, solange er lebt, der Zentralbezug des Universums, ohne den alles seinen Zusammenhang verliert, wird um seine Existenz gebracht. Das Grundgesetz der organischen Kreatur, zu leben, wird aufgehoben. Der Mensch kennt die unvermeidlich bevorstehende Annullierung seines Daseins und setzt sich mit ihr auseinander.

Die Kenntnis des Todesschicksals ist eine Last. Ob man sie auf sich nehmen will oder nicht, steht nicht zur Debatte. Es handelt sich um Zwangswissen. Irgendwann im Reifeprozeß des jungen Menschen kommt der Augenblick, in dem er erkennt, daß nicht nur andere Menschen sterben, sondern daß er auch selbst sterben wird. Die Einsicht wird gnädig dadurch gemildert, daß dieser Zeitpunkt schier unendlich weit in der Zukunft zu liegen scheint. Das mindert seine Relevanz. Man kann so unerfreuliches Wissen erst einmal wegschieben.

Das Wegschieben, Nicht‐daran‐Denken, Abdrängen des eigentlich gewußten Todesschicksals wird dann zur lebenslänglichen Taktik auch des Erwachsenen. Seine Lebensgegenwart und Lebenszukunft erfordern so viel Aufmerksamkeit, Mühe, Kraft, daß kein Raum für die Beschäftigung mit der Nichtlebenszukunft danach bleibt. Aber auch ohne das Ausgefülltsein und die Beschlagnahme durch die Lebensgegenwart ist die Fähigkeit des Menschen, Unerquickliches nicht zur Kenntnis zu nehmen, gar zu leugnen, vorzüglich ausgebildet.

Der Tod anderer ist freilich ein Thema. Katastrophen, Morde, Bürgerkriege sind bevorzugte Unterhaltungskost in allen Medien. Todesanzeigen werden vermutlich ebenso gern gelesen wie Heiratsannoncen und erregen oft unfreiwillige Heiterkeit. Überhaupt können wir mit dem Tod der anderen gut leben. Die Verdienste prominenter Verstorbener werden in Nachrufen so freundlich wie sachlich dargestellt. Von Erschütterung über den ungeheuerlichen Vorgang, daß da ein lebendiger Mensch ausgelöscht worden ist, wird in unseren Reaktionen kaum je etwas spürbar. Von Interesse ist noch die Todesursache. Durch welche Ängste, durch welche Schmerzen, durch welche Trostlosigkeiten einer gehen mußte, ehe er als verstorben gemeldet werden konnte, davon erfahren wir - notgedrungen - so gut wie nichts.

Sogar zum eigenen Tod eine solche konversationsfreundliche Distanz herzustellen gelingt uns in der Regel, wenn er denn zum Thema wird. Die Tatsache, daß das Leben »open end« verläuft, daß zwischen dem Jetzt und dem Ende noch eine unbekannt lange, allen Hoffnungen Raum gebende Spanne liegt, erlaubt uns solche Gelassenheit. Wir nehmen das noch nicht wirklich ernst. Eine AIDS‐ oder Krebs‐Diagnose ändert alles freilich schlagartig. Aber auch sonst gelingt das Wegschieben nicht immer vollständig. Das Todeswissen ist zu machtvoll, als daß man sich seiner Vergegenwärtigung dauernd entziehen könnte. Es kann das Sterben besonders nahestehender Menschen sein, welches das eigene Schicksal jäh ins Bewußtsein rückt.

Mit dem Prozeß des Alterns, mit Krankheiten, mit der Minderung beruflicher Aktivitäten und sozialer Pflichten mehren sich die Anlässe, an den eigenen Tod zu denken, sich seiner Unausweichlichkeit und mörderischen Endgültigkeit bewußt zu werden.

Ja mehr, der natürliche Alterstod erscheint als ein Ereignis, das sich in einer ganzen Folge von Abbau‐Schritten vollzieht, die der Mensch noch bei mehr oder weniger vollem Bewußtsein durchlebt und durchleidet. Bei aller Verschiedenheit der individuellen Krankheits‐ und Altersschicksale stellen sie alle einen Reduktionsprozeß dar, in dessen Verlauf bisherige Fähigkeiten und glückliche Befindlichkeiten abhanden kommen und durch eine Vielzahl von Leiden und Lebensdefiziten ersetzt werden.

Während die Erwartungs‐ und Erfüllungslinien des jungen und des erwachsenen Menschen nach oben gerichtet waren, sieht der sich seines Alters Bewußtwerdende den kontinuierlichen Abstieg vor sich. Seine körperlichen Kräfte lassen nach, seine Reaktionen werden langsamer, seine Erinnerungen lückenhafter, Konzentration und geistige Arbeit fallen ihm schwerer, das sexuelle Empfinden schwindet, die sinnlichen Wahrnehmungen werden notleidend, die körperliche Schönheit verfällt dramatisch.

Krankheiten und Gebrechen häufen sich und werden in ihrem Verlauf belastender, gefährlicher. Schlimme Ängste treten hinzu: Angst vor dem Verlust der Selbstkontrolle durch den Abbau der Gehirnfunktionen, Angst vor dem Verlust der Lebensautonomie durch Pflegebedürftigkeit, Angst vor Armut und würdelosem Ausgeliefertsein, vor dem Verbrennen bei Feuer und vor dem Sturz vom Klosett.

Nirgendwo sind die Bedrängnisse des Alters wohl ähnlich eindrucksvoll‐authentisch erfaßt und dargestellt worden wie von Simone de Beauvoir in ihrem voluminösen Werk »Das Alter«. Was sie hier in einzigartiger Fülle an Forschungsresultaten sowie vor allem an Selbstzeugnissen in Briefen und Tagebüchern, an literarischen Belegen zusammengetragen hat, fügt sich zu einem so dichten wie bedrückenden Panorama des letzten Lebens­abschnitts zusammen. - Aber wir wissen es auch so, wenn wir den Mut haben, uns umzuschauen: Es ist das sprichwörtlich »bittere Ende«, mit dem wir unser Leben beschließen.

Natürlich ist dies nicht die einzige Form, in der das Todesschicksal erfahren wird. Man trifft immer wieder Menschen, die über eine elementare Lebenskraft und Zuversicht verfügen, die sich in heiterer Gelassenheit und oft voller Tätigkeit bis an ihr Ende tragen. In anderen ist der Wunsch nach Ruhe so stark geworden, daß sie den Tod gern und friedlich erwarten.

Dieser letzte Lebensabschnitt vor dem Sterben muß nicht elend oder schrecklich sein. Für allzu viele freilich - so fürchte ich - ist er ziemlich trostlos. Der Blick in die alten Gesichter erschreckt.

In einer grundlegend anderen Situation befindet sich allerdings, wer im Tod kein absolutes Ende, sondern nur den Durchgang in eine andere Form des Weiterlebens sieht. Daß der physische Tod nicht das Ende der persönlichen Existenz bedeutet, ist vielfältiger, uralter Menschenglaube. Über Jahrtausende der Vorgeschichte hinweg kennen wir die Grabbeigaben, die Reiseproviant und Ausrüstung für das Leben im Jenseits sein sollten. Und sicher weit länger, als es schriftliche Überlieferungen gibt, wird über das ewige Leben nach dem Tode spekuliert.

Die großen monotheistischen Religionen, die den abendländischen Kulturraum geprägt haben, Judentum, Christentum, Islam, lehren die Unsterblichkeit der Seele ‐ bis hin zur freilich auch theologisch umstrittenen Verheißung der leiblichen Wiederauferstehung am Ende der Zeit. Für den Gläubigen wird dem Tod somit viel von seinem Schrecken genommen. Die Perspektive eines nicht nur ewigen, sondern auch glückseligen Lebens im Jenseits gibt dem physischen Tod den Charakter einer Art Transformationsstation, deren Passage zwar vielleicht mißlich, aber keineswegs endgültig vernichtend ist.

Am eindrucksvollsten wird das bei den islamischen »Märtyrern« sichtbar, denen ein ganz direkter Übergang von diesem ins nächste Leben verheißen wird: Soldaten, die im als »heilig« erklärten Krieg den Tod finden, gehen sofort ins Paradies ein und werden all seiner unermeßlichen Freuden teilhaftig.

Mit dieser Versicherung haben die iranischen Geistlichen im Krieg mit Irak die jungen Revolutionsgardisten über die gegnerischen Minenfelder gejagt. Und die Iraker haben zur Verherrlichung ihrer Opfer einen gloriosen Blutbrunnen errichtet, der vom Ruhm und von der Seligkeit der Märtyrer künden soll.

Man wüßte gern, wie tief und dauerhaft solche Erlösungszuversicht verankert ist und ob es nicht mancher doch vorgezogen hätte, noch unerlöst zu bleiben und ein normales, mühseliges Erdenleben zu führen. Die klagenden Mütter der jungen Gefallenen auf beiden Seiten schrien ihren Schmerz hinaus und schienen durch keine paradiesische Transformation getröstet zu sein.

Wie dem auch sei, der feste Glaube an die Unsterblichkeit der Seele ist im Islam offenbar tief verankert. Dagegen haben im christlichen Kulturkreis immer mehr Menschen Schwierigkeiten mit solchen Vorstellungen. Die Abwendung von den Kirchen und ihren Lehren hat ein Ausmaß erreicht, das auf eine weitverbreitete Glaubenslosigkeit schließen läßt. Auch wo die formale Kirchenzugehörigkeit erhalten bleibt und die religiösen Riten von Taufe, Trauung und Beisetzung beachtet werden, bedeutet dies noch keineswegs ein volles »Leben im Glauben«. Nach einer 1989 in der Bundesrepublik veranstalteten Umfrage glaubten 84 Prozent der Katholiken und 72 Prozent der Protestanten wenigstens noch an Gott. Die Anteile derer, die an Auferstehung und ewiges Leben glauben, wird man deutlich geringer veranschlagen müssen.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind oft kulturkritisch analysiert worden. Sicher spielt die dominante Durchsetzung des naturwissenschaftlichen Weltbilds dabei eine zentrale Rolle. Dieses steht mit der Annahme einer göttlichen Schöpfungskraft und der Unsterblichkeit der Seele zwar nicht im Widerspruch. Aber es lassen sich ihm eben leider auch nicht die geringsten Anhaltspunkte für ein solches Fortleben der menschlichen Seele nach dem Tod entnehmen. Eher erscheint im Gegenteil das menschliche Individuum als eine Art Wegwerfartikel der Evolution ‐ worauf gleich zurückzukommen sein wird.

Jedenfalls wird man davon ausgehen müssen, daß die christlichen Kirchen ihre traditionelle Rolle als sinnstiftende und trostspendende Gemeinschaften nur noch für immer weniger Anhänger wahrnehmen. Die Suche nach Sinn und Trost in diesem kurzen Erdenleben wendet sich zunehmend in andere Richtungen. Fernöstliche Lehren, allerlei Sekten, fundamentalistische Evangelisten besetzen einen Teil des entstandenen Vakuums.

In den Jenseitslehren des Buddhismus und Hinduismus stoßen wir dabei auf eine von der abendländischen durchaus verschiedene Todesproblematik. Auf ihre Darstellung und Interpretation sollte sich nur einlassen, wer sich dem Thema umfassender und intensiver zugewandt hat, als das bei mir der Fall ist. Auch für den Fernstehenden ist es jedoch eindrucksvoll, wie konsequent das diesseitige Leben als Leiden verstanden und in seinem Eigenwert verworfen wird. Die »Erlösung« im Nichtsein des Nirwana erscheint zugleich als unbedingte Absage an jede Lebensverherrlichung, wie sie für die christlichen Lehren charakteristisch ist.

Der immer skeptische Abendländer nimmt sich freilich heraus, noch ein wenig zu spekulieren. Könnte der mühsam‐leidvollen Kette von Wiedergeburten nicht auch ein wenig Beruhigung darüber entnommen werden, daß der endgültige Abschied von dieser so unzulänglichen Welt noch um einige Inkarnationen hinausgeschoben wird?

Wir müssen die Todesproblematik unter einem weiteren Aspekt betrachten.

Es geht um die Frage, was menschliches Leben im Funktionszusammenhang der Evolution bedeutet. Die Evolution bedient sich zur Aufrechterhaltung organischen Lebens auf der Erde weithin des Generationen‐Prinzips. Organismen bilden sich aus Einzelzellen heraus, durchlaufen einen Wachstums‐ und Alterungsprozeß, pflanzen sich durch Keimzellen fort und sterben ab. Jedes individuelle Leben ist eingespannt in den unumkehrbar fließenden Strom der Zeit und endet mit dem Tod.

Das Verfahren ist ziemlich aufwendig, weil ständig neue Organismen aufgebaut werden müssen. Es besitzt entwicklungsmäßig jedoch deutliche Vorzüge. Die rasche Aufeinanderfolge immer neuer Generationen von Lebewesen ermöglicht in Verbindung mit der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung einen breiten Strom neuer Gen‐Kombinationen mit hoher Innovationsträchtigkeit. Zugleich führt die im allgemeinen enorme »Überproduktion« von Ei‐ und Samenzellen zu einem scharfen Ausleseprozeß unter großen Massen von Fortpflanzungsmaterial. Beide Mechanismen kommen einer variationsintensiven Evolution, die weithin nach dem Trial‐and‐error‐Prinzip funktioniert, in hohem Maße zugute.

Ein weiterer evolutionstechnischer Vorteil wird darin gesehen, daß das Verfahren die Verhaltensflexibilität der Spezies erhöht, insbesondere im Intelligenzbereich. Menschen im Erwachsenenalter verlieren an geistiger Beweglichkeit. Es fällt ihnen schwer, von einmal erworbenen Auffassungen abzulassen, auch wenn sie überholt sind, und sich ganz neuen Einsichten zu öffnen. Es ist demgegenüber einfacher, die gealterten, unflexiblen Individuen durch eine neue Generation unbelasteter jüngerer Menschen zu ersetzen. Die Anpassung an den jeweiligen Stand von Wissen und Können und seine Fortentwicklung vollziehen sich so rascher und reibungsloser. Jedenfalls sind die Menschen aus solchen Ausleseprozessen hervorgegangen und unterliegen den gleichen Entwicklungsregeln wie andere Organismen. Generation auf Generation wird buchstäblich ab ovo neu aufgezogen, erhält Gelegenheit (und starke Anreize) zur Fortpflanzung und wird nach Überschreitung des Leistungshöhepunkts wieder fortgeräumt. Der Einzelorganismus hat in diesem Prozeß seine Materialmassen‐Funktion, erscheint aber selbst nicht als Ziel, sondern nur als Mittel zum Erreichen des schließlichen Züchtungserfolgs.

So drängt sich die Frage auf, ob Menschen im Rahmen der Schöpfung nicht auch eine Art Zwischenmaterial ohne darüber hinausgehenden Eigenwert darstellen.

Es gibt schließlich keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Mensch eine Lebensform bildet, die ihre höchstmögliche Entwicklungsstufe bereits erreicht hat. Die Evolution mag sich noch sehr viel ehrgeizigere Ziele als die Ausbildung des homo sapiens sapiens gesetzt haben.

Dann kann man sich auch der Frage nicht mehr entziehen, ob der Schöpfer als Urheber der Weltveranstaltung dem Schicksal jedes einzelnen menschlichen Individuums wirklich mehr Interesse und Aufmerksamkeit zuwendet, als im Rahmen des züchterischen Funktionszusammenhanges erforderlich ist.

Die Biologie versucht sogar, daraus eine Art naturwissenschaftlich begründeter Akzeptanz‐Grundlage für das Sterben zu gewinnen: Es diene dazu, neuem Leben Platz zu schaffen. Der Tod sei notwendig, weil ihm die unverzichtbare Funktion zukomme, dafür Sorge zu tragen, daß der Gleichgewichtszustand des Lebens auf der Erde dem eines echten Fließgleichgewichts, eines stetigen Wechsels von Werden und Vergehen entspricht. »Es ist die Aufgabe, zu gewährleisten, daß ausreichender Raum bei der stetigen Wiedergeburt des Lebens zur Verfügung steht«

Erben, Leben heißt Sterben, S.25       wikipedia  Heinrich Erben 1921-1997       wikipedia  Memento_mori 

Auch von philosophischer Seite wird uns die Sache schmackhaft gemacht. Ich zitiere noch einmal aus Jonas, Das Prinzip Verantwortung (S. 49f.):  

»Aber vielleicht ist eben dies die Weisheit in der harschen Fügung unserer Sterblichkeit: daß sie uns das ewig erneute Versprechen bietet, das in der Anfänglichkeit, der Unmittelbarkeit und dem Eifer der Jugend liegt, zusammen mit der stetigen Zufuhr von Andersheit als solcher... Auch muß die Rolle des memento mori im Leben des einzelnen bedacht werden und was seine Abschwächung zu unbestimmter Ferne ihr antun würde. Vielleicht ist eine unabdingbare Grenze der von uns zu erwartenden Zeit für jeden von uns notwendig als Antrieb, unsere Tage zu zählen und sie zählen zu machen.« 

Gegen all das läßt sich schwer etwas sagen ‐ außer daß dieser Aspekt dem seinem Sterben entgegenlebenden Einzelnen wenig Trost bringt.

Daß ein »ewiges Leben« beträchtliche neue Probleme aufwürfe, ist nicht zu verkennen, auch wenn es religiöser Verheißung entspräche. Daß man Platz machen muß für die Jungen, folgt zwar aus dem Generationsprinzip des Lebens auf der Erde. Es dient, wie wir gesehen haben, dem evolutionären Mechanismus in hervorragender Weise. Unsere Fragestellung zielt aber nicht darauf ab, ob das uns auferlegte Lebenssystem funktioniert, sondern ob es zu Bedingungen funktioniert, mit denen wir uns einverstanden erklären können. Noch einmal Erben:

»Im andauernden Wechsel des Werdens und Vergehens stellen das Sterben und das Aussterben die Voraussetzung für die Perpetuierung jenes großartigen Phänomens dar, welches wir das Leben nennen.«

Man kann das auch anders sehen: Angesichts eines Individuen verbrauchenden, nicht erhaltenden Systems könnte man statt von großartig, eher von mörderisch sprechen. Auf jeden Fall bleibt das von der Evolution gewählte Verfahren aus der Sicht des bewußt lebenden Individuums höchst unbefriedigend.

Für die eigene Entwicklung seiner Fähigkeiten, die Aneignung des sozial verfügbaren Wissens, die Umsetzung seiner Erfahrungen, die Ausschöpfung seines kreativen Potentials, sein Liebesleben, das Eindringen in künstlerische und metaphysische Erlebnisfelder steht ihm eine vergleichsweise kurze Lebensspanne zur Verfügung.

Diese ist in erster Linie mit Anstrengungen zum Lebensunterhalt ausgefüllt. Die Aufzucht der nächsten Generation, ihr Anlernen, die Weitergabe des Wissens an sie erfordern einen weiteren großen Aufwand. Dabei ist gerade letztere mit enormen Übertragungsverlusten verbunden. Jeder junge Mensch muß in seiner Entwicklung eben doch wieder ganz von vorn anfangen. Andererseits gehen auch höchstentwickelte Fähigkeiten, geht die gesamte lebenslängliche Aufbauleistung des Individuums an sich selbst mit dem physischen Tod zugrunde.

Aus der Sicht der Evolution mag das Stakkato des Generationenprinzips vorteilhaft sein. Für den Einzelmenschen erscheint es als schlechthin unzumutbar.

Vor allem stellt die grandiose Lebensverschwendung der Natur das in unserer Sittlichkeit tief verankerte Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben oder gar der Heiligkeit des Lebens von Grund auf in Frage. Eine Schöpfung, die ihren »Betrieb« und ihre evolutionäre Weiterentwicklung ausschließlich über den Weg einer permanenten Massenvernichtung aller ihrer lebenden Geschöpfe betreibt, läßt nicht gerade darauf schließen, daß sie dem einzelnen Lebewesen ‐ und sei es vernunft- und empfindungsbegabt ‐ irgendeinen Eigenwert zuerkennt. Wenn Rückschlüsse vom Verhalten eines Systems auf die Intentionen seines Urhebers, in welchem Maße auch immer, überhaupt Aufschluß geben können, so läßt sich für unseren Kosmos daraus nur die Hypothese gewinnen, daß sein Schöpfer dem individuellen Leben keinen besonderen Rang, sondern im Gegenteil völlige Gleichgültigkeit hat zuteil werden lassen.

So fragt sich, was außerhalb des religiösen Verheißungsbestandes denn zugunsten einer Akzeptanz des Todesschicksals ins Feld geführt werden kann.

Am ehesten überzeugt da wohl der Wunsch des altgewordenen Menschen, nach einem vollen und kräftezehrenden Leben zur Ruhe zu kommen und von den Pflichten und Unzulänglichkeiten der eigenen Existenz endgültig erlöst zu werden. Der Wunsch, ganz frei zu sein von einem Leben, das so vieles gebracht hat, friedlich hinüberzugleiten ins Nicht‐mehr‐da‐Sein, mag so an Gewicht gewinnen. Das ist ja im Grunde nicht so verschieden vom Nirwana‐Ziel, der Sehnsucht nach Erlösung vom Leben und seinen - wo nicht Leiden, so doch - Lasten.

Heinrich Albertz (Am Ende des Weges, S. 70) erinnert an die lutherdeutsch‐biblische Wendung »alt und lebenssatt« beim Tode Abrahams, Isaaks und Davids.

Glücklich, wem solche Verzichtsbereitschaft aus reicher Lebens­erfüllung zuwächst. Die Regel ist das allerdings kaum. Von den ganz anderen Fällen abgesehen, in denen Hinfälligkeit und Leiden Anlaß geben, den Tod als letzten Ausweg herbeizusehnen, wird er eher als feindliche und bedrohliche Macht erlebt, nicht als erlösende Wohltat. In der aktuellen Sterbephase mag sich das ändern, aber davor liegt eine lange Periode wachsender Ängste und Bedrückungen.

Auch Albertz fügt seiner Lobpreisung der satietas vitae keine Betrachtungen über das Sein nach dem Tode an, sondern eine Schilderung seines pflichtenfreien, komfortablen, in engen menschlichen Beziehungen eingebetteten glücklichen Alterslebens. Er weiß, wie anders das auch sein kann, und er notiert (a.a.O., S. 71):

»Gestern ist ein alter Mann gestorben, dessen Frau seit Monaten im Krankenhaus liegt. Er hat sie täglich besucht. <Ich kann nicht mehr, ich halte es nicht mehr aus, sie leiden zu sehen.> Lebenssatt? Wer sagt der Frau, daß sie nun unbesucht bleibt?«

Das glücklich ausgelebte Leben ist ein Geschenk ‐ nicht frei von eigenem Verdienst ‐, das nur wenigen zuteil wird.
Als Basis für die Zustimmung aller Menschen zum Todesschicksal reicht das nicht aus.

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 satietas vitae - in Weisheit altern


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Martin Neuffer  1992