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  2   Gründe für ein Nein 

 Neuffer-1992

 

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Evolutionäre Rahmenbedingungen und soziales Versagen

Die Antwort auf die Frage, ob die menschliche Existenz der Nichtexistenz von Menschen vorzuziehen sei, kann immer nur subjektiv gefunden und begründet werden. Hier kommen Wertungen ins Spiel, die sich der rationalen Nachprüfung entziehen. Allerdings gibt es einige thematische Felder, die für die Entscheidung als besonders bedeutsam erscheinen. Es handelt sich einmal um bestimmte biologische Bedingungen unserer Existenz, die wir als gegeben hinnehmen müssen. Es handelt sich zum anderen um gravierende Mängel in unserem Sozialverhalten, auf das wir Einfluß nehmen können.

Der folgende Überblick über die wichtigsten Einwände gegen die menschliche Existenz und die Widersprüche, denen sie unterworfen ist, grenzt die Themen ein, die anschließend in eigenen Abschnitten ausführlicher erörtert werden.

1. Die Todesbestimmtheit

Als Individuum ist der Mensch nicht nur sterblich, wie er selbst es oft verharmlosend ausdrückt. Er ist vielmehr zum Sterben bestimmt, lebt vom Augenblick der Geburt an dem unvermeidbaren Verfall und Tod entgegen. Die ihm zugemessene Lebensspanne ist im Vergleich zu den seinem Denken und Empfinden zugänglichen Zeiträumen überaus bescheiden.

Die lebenslange Aufbauleistung des Menschen an sich selbst, sein Erwerb an Wissen, an Fähigkeiten, an Erfahrung, an Einfühlungsvermögen, an Differenzierungs­vermögen, an Verständnis, an Weisheit bricht als lebendige Qualität im Augenblick des Todes in nichts zusammen (soweit Teile davon nicht schon in der vorausgegangenen Abbauphase verlorengegangen sind).

Nur Fragmente dieser Erwerbungen lassen sich umwegig‐mittelbar an die nachwachsenden Generationen, an die eigenen Kinder und Enkel weitergeben. Jeder neugeborene Mensch muß wieder am Punkt Null für sich neu beginnen.

2. Glücks‐ und Leidensbestimmtheit

Jedes menschliche Leben umschließt ‐ in unterschiedlicher Weise und in unterschiedlichem Maße ‐ Glücks‐ und Leidenserfahrungen. Glücklich erfüllte Lebensläufe vollziehen sich parallel zu desolaten, unendlich qualvollen. Ihre Komponenten sind weder im individuellen noch im kollektiven Schicksal gegeneinander aufrechenbar.

Die Lage des Leidenden wird nicht dadurch erleichtert, daß er andere glücklich weiß. Dagegen kann die Freude des Glücklichen über sein günstiges Schicksal durch das Wissen um die gleichzeitige Qual anderer tief überschattet werden. Menschen haben zwar Schutzmechanismen entwickelt, durch die sie sich dem Mitempfinden, der Qual anderer in erstaunlichem Maße entziehen können. Aber sie leiden noch unter ihrer eigenen Mitleids­verweigerung. Das Leiden, fremdes wie vor allem eigenes, holt sie schließlich immer wieder ein.

3. Der biologische Überlebenskampf

Die Existenz des biologischen Organismus Mensch beruht vollständig auf dem Verzehr von Pflanzen und Tieren, also von anderen lebenden Organismen. Jede Behauptung und Weiterentwicklung eines Lebewesens auf der Erde setzt Vernichtung und Verdrängung konkurrierender Lebensformen voraus.

Biologisch befindet sich der Mensch wie alle seine Erd‐Mitbewohner im lebenslangen Vernichtungskampf des Fressens oder Gefressenwerdens. Die Entscheidung der Evolution, alle höheren organischen Systeme durch Verbrauch niederer oder gleichrangiger Systeme aufzubauen, steht in grundlegendem Widerspruch zum präsumtiven ideellen Evolutionsziel der kreatürlichen Solidarität.

4. Individuelle und kollektive Isolation

Mensch zu sein heißt, mit anderen Menschen zu leben, denen man notwendig zugehört und von denen man gleichzeitig unüberbrückbar getrennt bleibt. Den Beziehungen Liebe, Fürsorge, Solidarität, Freundschaft stehen Irritation, Haß, Grausamkeit, Gleichgültigkeit, oft sogar im raschen Wechsel zu gleichen Individuen, gegenüber. Auch da, wo sich eine Verbindung als verläßlich erweist, kann sie letztes Alleinsein im Leid und angesichts des Todes nicht durchbrechen. Ebenso kann die Menschheit als Ganze aus physikalischen Gründen nicht damit rechnen, in einen fruchtbaren Austausch mit anderen intelligenten Lebensformen im Kosmos zu treten.

5. Perspektivlosigkeit der Evolution

Der Blick hinaus in die Welten des Kosmos und auf seine weitere Entwicklung ist, was die Sinnhaftigkeit menschlichen Existierens angeht, wenig ermutigend. Entgegen allen Raumfahrtträumereien bleiben wir grund­sätz­lich auf die Erde angewiesen und beschränkt. Auch hier werden die chemischen und klimatischen Bedingungen für menschliches und organisches Leben überhaupt zwar noch beträchtliche, aber doch begrenzte Zeit bestehen.

Als Lebensform ist die Menschheit nur eine Episode. Schließlich ist sogar der Kosmos als Ganzer dem Entropietod bestimmt. Die Zukunft dieses unseres Weltalls, von dem wir erstaunlich viel wissen, ist die ereignisloseste, gestaltloseste, trostloseste Ödnis, die wir uns nur vorzustellen vermögen, eine in jeder Beziehung »unmenschliche« Welt.

6. Das ethische Versagen der Menschen

Von den gravierenden Mängeln in unserem Sozialverhalten ist an erster Stelle die Unfähigkeit zur Beachtung der gesellschaftlich anerkannten moralischen Normen zu nennen. Für als richtig und gut zu bewertendes Verhalten hat die Menschheit inzwischen ein hohes Maß an Übereinstimmung erzielt. Das universelle Liebesgebot und die Respektierung der Menschenrechte sind ‐ bei aller historisch bedingten Differenzierung ‐ als oberste Werte, der »kategorische Imperativ« ist als Verhaltensmaxime anerkannt. Tatsächlich verstoßen die Individuen ebenso wie die Kollektive ständig in der brutalsten Weise gegen die Gebote der Ethik, zu denen sie sich bekennen. Ausbeutung und Unterdrückung sind, wenn auch in unterschiedlicher Form und Intensität, kennzeichnend für alle sozialen Systeme. Es ist den Menschen bisher nicht gelungen, Gewaltanwendung zu verhindern und nach innen und außen stabile Friedensordnungen zu etablieren. Dafür haben sie Massentötungsmittel aufgehäuft, deren Einsatz einer Apokalypse gleichkäme.

7. Das politische Versagen der Menschen

Als Kollektiv gehören die Menschen zu den erfolglosesten Erfolgreichen, die sich vorstellen lassen. Sie haben Erkenntnisse gesammelt, die fast grenzenlos weit über den Rahmen ihrer eigenen Existenz hinausreichen. Sie haben sich Kräfte nutzbar gemacht, Vorrichtungen erfunden, die ihre animalisch‐natürlichen Möglichkeiten unvorstellbar gesteigert haben.

Gleichzeitig haben sie durch die Maßlosigkeit ihres Herrschafts‐ und Ausbeutungsstrebens globale Krisen heraufbeschworen, die sie in Gefahr bringen. Ein hypertrophes Bevölkerungswachstum und gravierende klimatische Veränderungen stellen die Weiterexistenz der Menschheit in Frage.

Soziale Stabilität ist weder für die verelendeten Völker des zerfallenden Sowjetimperiums noch für die der bitterarmen dritten Welt zu erwarten. Ein Ende der ethnisch und religiös bedingten gewaltsamen Ausein­andersetzungen in allen Teilen der Erde steht nicht in Aussicht.

Es spricht wenig dafür, daß die für ein Überleben der Menschheit notwendigen radikalen Verhaltensänderungen sich durchsetzen werden. Insbesondere ist ein Ende des alle Probleme verschärfenden Bevölkerungs­wachstums nicht in Sicht. Auch bei optimistischer Einschätzung der weiteren Entwicklung wird man katastrophenartige Teilzusammenbrüche der menschlichen Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten für wahr­scheinlich halten müssen.

Befassen wir uns zunächst etwas näher mit diesen für das Menschenschicksal kritischen Feldern.

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Martin Neuffer Nein zum Leben Ein Essay 1992