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3.1  Katastrophen im Kleinen und Großen - eigenes Krisenmanagement

Krise kann ein produktiver Zustand sein. Man muss ihr nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.   Max Frisch (470)

 

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Krisenhafte Ereignisse bleiben im Leben zwangsläufig nicht aus. »Minikrisen« passieren im Grunde täglich: der Bus fährt einem davon, beim Einkaufen drängelt sich jemand vor, die Kinder bringen schlechte Noten heim und der Partner kommt wieder mal abends erst so spät nach Hause. Daraus entstehende Momente und Phasen von Ärger, Niedergeschlagenheit und Resignation sind nichts Ungewöhnliches. Geht es dann eine Nummer größer um einschneidende Ereignisse - der Partner verlässt einen, am Arbeitsplatz gibt es Ärger mit dem Chef, der Stress wird zu groß, ein lieber Mensch aus der Umgebung stirbt -, ist schnell die Grenze der möglichen Bewältigung erreicht und der Weg zu Depression oder Wut nicht mehr weit. Generell tritt dann eine Krise ein, wenn sich eine Lebenssituation wesentlich ändert, insbesondere wenn Hindernisse auftreten, die der Betroffene nicht mit seinen bisherigen Erfahrungen und Methoden bewältigen kann, so dass er in einen Zustand allgemeiner Labilisierung gerät.(471)  Was die komplexen und globalen Probleme betrifft, reichen die bisherigen Erfahrungen und Methoden wohl tatsächlich nicht aus, Labilisierung droht.

  Phasen des Krisenverlaufs

Zunächst einmal kann man eine bevorstehende Krise gut leugnen und verdrängen, im Großen, wie sich bei der Psychologie des Nichtstuns zeigte, aber auch im Kleinen. Ab und zu Konflikte mit dem Partner zu haben, ist das Eine, aber an eine Trennung wird man ja wohl nicht gleich denken. Umso überraschender ist dann die Situation, wenn der andere plötzlich ausgezogen ist und man feststellen muss, dass man das Problem zu lange ignoriert oder unterschätzt hat. Vielleicht zur Vorbeugung späterer Überraschungseffekte und zur Überwindung von Verleugnungsmechanismen erfolgte die Darstellung der ökologischen Krise am Anfang des Buches so ausführlich; auch sie wird im Grunde noch nicht ernst genug genommen.

Schon bei den kleinsten Alltagskrisen zeigen sich die typischen Bewältigungsmuster, ohne dass einem das immer bewusst wird. Der Bus ist weg, man steht konsterniert an der Haltestelle, ist wütend, enttäuscht oder beides zugleich. Automatisch jedoch werden Techniken des Problemlösens herangezogen: man schaut auf dem Fahrplan nach der nächsten Fahrtmöglichkeit, ruft ein Taxi oder geht zu Fuß (und entdeckt hierbei vielleicht die Muße des Gehens, was ohne diesen Anlass nicht geschehen wäre). Versagen diese Mechanismen, fährt also lange kein Bus mehr, kein Taxi steht da und der Weg ist zu weit, wächst das innere Unbehagen, die zunehmende Anspannung mobilisiert weitere innere und äußere Ressourcen, so wird man jetzt vielleicht jemanden anrufen, der einen abholen kann.

Vier Phasen des Krisenverlaufes werden dabei deutlich: zunächst zeigen sich die üblichen Rezepte der Problembeseitigung wirkungslos, dann wächst die innere Anspannung, weil man erkennt, dass man das Problem nicht lösen kann. Diese Anspannung wiederum stimuliert und mobilisiert weitere innere und äußere Kräfte, andere Lösungen werden probiert, das Problem eventuell neu definiert. Bei Ausbleiben von Erfolgen schließlich nehmen Spannung und Unbehagen zu, es kommt zur Desorganisation der Person, also zur Entwicklung von Krisensymptomen, etwa zu Schlafstörungen oder Gereiztheit, in schlimmeren Fällen bis hin zu Aggression, Depression oder Suizidalität.

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Eine seelische wie auch körperliche Krise führt somit zu einem labilen Zustand, der Betroffene hat ein sehr viel größeres Bedürfnis nach Hilfe als sonst und ist folglich auch viel leichter beeinflussbar. Eine spezifische Therapie von außen ist häufig nötig. Ähnlich schwankend zeigte sich 2008 das Banken- und Finanzsystem, es benötigte nun erhebliche staatliche Hilfen, die es sonst stets abgelehnt hatte, und war leicht durch Äußerungen zu beeinflussen, die daher sorgfältig formuliert werden mussten, um den Abwärtstrend nicht noch zu verstärken.472 Die Krise hatte auch hier einerseits die klassischen Bewältigungsstrategien außer Kraft gesetzt und andererseits ein längeres Zuwarten - wie etwa bei der ökologischen Krise - aufgrund drohender Pleiten von Banken und Versicherungen sowie entstandener Rezession nicht mehr erlaubt. Durch die akut und spürbar gewordenen Folgen war die vorherige Verleugnung durchbrochen worden.

   Nachhaltiges Krisenmanagement - mit offenem Ausgang  

Also kam es - um bei der Finanzkrise zu bleiben - zu erheblichen staatlichen Kriseninterventionen. Durch Gewährung von Geldspritzen und Bürgschaften wurde versucht, einen drohenden Bankenkollaps zu vermeiden. Ähnliches gilt auch im persönlichen Bereich: häufig wird durch Zuwendung und Unterstützung akute Hilfe geleistet und so einer weiteren psychischen Dekompensation vorgebeugt.

Doch akutes Krisenmanagement alleine ist nicht nachhaltig, wird also zukünftige Krisen nicht verhindern können. Daher wird im idealen Fall Krisennachsorge betrieben, Helfer und Betroffene forschen gemeinsam nach tieferen Ursachen der Krise und bearbeiten sekundäre Folgen. Im Beispiel der Bankenkrise erfolgte dies allerdings nur halbherzig, mittlerweile droht schon wieder eine neue Finanzblase. Man hätte allerdings das System durchaus bremsen und regulieren können, um dem vorzubeugen.

Grundsätzlich jedoch wäre es einseitig, nur die Bedrohung durch Krisen zu betrachten. Welchen Ausgang Krisen nehmen, bleibt generell zunächst offen, die Prognose ist ungewiss. In Studien haben sich einige Voraus­setzungen als günstig für eine gelingende Krisenbewältigung herausgestellt: hilfreich sind demnach eine realistische Selbsteinschätzung sowie Wahrnehmung und Analyse der Situation (was bei der Umweltkrise immer noch gerne vermieden wird);


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weiter sind nützlich intellektuelle Fähigkeiten, Kreativität, Humor sowie die Bereitschaft sich Hilfe zu holen und jemandem anzuvertrauen. Auch in der Krisenliteratur begegnet uns zudem erneut die Fähigkeit, Probleme zu lösen und vorausschauend zu handeln.473

Wurden vorher schon mehrfach Krisen positiv bewältigt, indem sie dafür genutzt wurden, problematisch gewordene Gewohnheiten zu ändern, mag auch im akuten Fall die Chance für eine gelingende Anpassung umso höher sein. Für Süchtige etwa stellen oft ein Führerscheinentzug, ein drohender Arbeitsplatzverlust oder die kurz bevorstehende Trennung des Partners wesentliche Einschnitte dar, durch die zumindest irgendwann im Verlauf die Verleugnung der Krankheit durchbrochen wird, und die dazu motivieren können, mit aufwändigen Therapien die Abstinenz zu erreichen. Die rohstoffabhängige Weltgesellschaft jedoch hat bereits reichlich Stationen zum Umsteuern vorbeiziehen lassen, man denke nur an die Ölkrise der 70er Jahre oder eben die Finanzkrise 2008, als man die üppigen Finanzspritzen leider nicht mit einer wirtschaftlichen und ökologischen Neuorientierung verknüpft hat. Eine Garantie für einen positiven Wandel sind auftretende Krisen somit nicht.

Eine Rolle spielt weiter die Bereitschaft, präventive Warner oder helfende Personen ernst zu nehmen, auch wenn sie unangenehme Botschaften verbreiten. Im Fall der Umweltkrise ist ihre Reichweite aufgrund der noch vorherrschenden Verleugnung bisher gering, bereits vorhandene Symptome werden nicht erkannt, zu der nötigen Problemanalyse kommt es nicht. Ähnlich ist das bei frühen Krankheitsanzeichen, die man gerne beschwichtigend ignoriert mit dem Gedanken, es werde schon nichts sein, man solle nicht zu schwarz sehen, was auch hier mahnende Worte etwa aus der Familie wirkungslos werden lässt. Erst bei Eintritt des Fiebers ist schließlich die Schwere der Krankheit nicht mehr zu verleugnen, zumeist eröffnen sich erst dann Chancen auf Behandlung und Besserung.

Allerdings kann es Situationen geben, in denen Kriseninterventionen trotz erkannter Bedrohung einfach zu spät kommen, weil schon zuviel Unumkehrbares passiert ist. Verschlepptes Fieber und Lungenentzündung können auch tödlich enden. Nach einer schwierigen Phase kann die Entwicklung somit grundsätzlich, einem U-förmigen Verlauf entsprechend, wieder nach oben gehen, genauso gut aber auch einen negativen


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Ausgang nehmen oder erst nach sehr langer Zeit wieder zu einer Erholung führen, womit gerade im Fall der ökologischen Krise am ehesten zu rechnen ist. Es kann hier zu länger anhaltendem wirtschaftlichem Niedergang kommen, zu erzwungener Rückkehr zu vorindustrieller Lebensweise, zu erheblichen Konflikten und Kriegen, in letzter Konsequenz zu einem Aussterben der Menschheit, was selbst seriöse, nicht apokalyptisch orientierte Autoren diskutieren. Genauso aber ist nach schmerzhafter Anpassung auch eine positive Weiterentwicklung möglich.

Eigene Haltung im Kleinen zur Bedrohung im Großen

Kleinere akute Krisen, wie sie laufend im persönlichen, sozialen und politischen Bereich jeden Einzelnen beschäftigen, helfen dabei, genau dieses nicht mehr ganz unwahrscheinliche Krisenausmaß im Großen nicht erkennen zu müssen. Die moderne Gesellschaft hält sich aus gleichem Grund ebenso mit ihren Alltagsproblemen auf. Insgesamt aber ist sie multimorbide, die Chance einer Gesundung erscheint daher nicht groß. Vielmehr stellt sich die Frage, ob wir uns nicht schon in einem Palliativstadium befinden, in dem Symptome nur noch gelindert, aber nicht mehr geheilt werden können.474 Aber auch schwer Erkrankte haben häufig schon länger gelebt als vorausgesagt, nicht ganz unabhängig von der Haltung, die sie dazu eingenommen haben.

Ganz entscheidend dabei ist es, wie es gelingt, die nun schon mehrfach angesprochene Verleugnung zu überwinden. Dies kann freiwillig geschehen, indem man sich dem Problem stellt, vor dem zugenüge bereits gewarnt wird. Oder eine Zuspitzung der Situation wird erst dazu führen, dass die Verleugnung durchbrochen wird, ähnlich wie im Fall der Finanzkrise. Dabei entscheidet letztlich jeder Mensch selbst darüber, ob und wie eine Situation oder Gefahr wahrgenommen und bewertet wird.

Bei der somit nun vorherrschenden chronischen globalen Krise gibt es im Grunde niemanden, der nicht betroffen ist, was tröstlich sein mag. Man ist nicht allein damit. Die Auswirkungen der Katastrophe sind jedoch unterschiedlich, was gegenseitige Hilfe erfordert (grundsätzlich könnten die weniger betroffenen Länder in den gemäßigten Breiten die jetzt schon stärker betroffenen ärmeren Länder unterstützen).


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Das Eingeständnis der Krise nach Überwindung der Verleugnung und die eigene Haltung dazu sind höchst individuell. Diese kann reichen von der optimistischen Annahme, dass man den Menschen nur genügend richtige Informationen zur Hand geben muss, damit sie letzten Endes weise werden, um weitsichtige und humane Lösungen zu finden, bis hin zu einer resignativen Einstellung, wonach die Menschheit bis zum bitteren Ende kurzfristige Ziele wie steigenden Konsum, Beschäftigung und finanzielle Sicherheit verfolgen und dabei die immer deutlicher werdenden Signale ignorieren wird, bis es zu spät ist.

Auch gibt es natürlich die optimistische Annahme, dass alles viel zu negativ gesehen wird und nur »Apokalypse im Kopf« sei.475 So gaben sich Journalisten große Mühe, zum Jahresende 2016 nach Brexit, Trump und Syrienkrieg gute Stimmung zu verbreiten. Schließlich sei der Anteil der in extremer Armut lebenden Menschen an der Weltbevölkerung dramatisch zurückgegangen, ebenso Analphabetentum und Kindersterblichkeit. Beklagt wird, dass die Wahrnehmung auf Schlechtes geeicht sei. Negative Ereignisse gingen meist mit einem großen Knall einher (Erdbeben, Attentate etc.). Langfristige Trends zum Besseren aber würden im Stillen verlaufen. Langfristige Trends zum Negativen jedoch ebenso, muss hier der Pessimist leider erwidern und auf die Shifting Baselines verweisen. Und auch wenn vieles eine Frage der Wahrnehmung und Bewertung ist, und wir vermeintlich die Welt nur im Gehirn erschaffen, »in dem als psychische Benutzeroberfläche des Körpers dann eine subjektive Wirklichkeit konstruiert wird«476, lassen sich immer mehr spürbare und existenziell bedrohliche Fakten der Umweltkrise nicht ganz ignorieren.

Niemand aber muss sich deswegen im Alltag permanent verrückt machen, eigene Haltung und Hoffnung können auch zwischen verschiedenen Polen pendeln:

  • Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch, schlägt der Literaturwissenschaftler Terry Eagleton als Haltung vor.477

  • Als pathologischen Optimisten bezeichnet sich der Naturschützer Hubert Weinzierl. Er hoffe immer noch, dass wir der Natur eine Chance geben würden. Er sei zerrissen.478

  • Eine heitere Hoffnungslosigkeit im Angesicht der ökologischen Katastrophe propagiert der Autor Gregory Fuller.479

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Er verweist auf die Neutralität des Seins, die Eigendynamik, mit der der Verstand seine Möglichkeiten ausleben wolle, und schlägt vor, zu lernen, das Ende zu akzeptieren, was nur scheinbar pessimistisch sei. Vielmehr folge daraus eine Leichtigkeit des Seins im Alltag, aber auch mit Wachsamkeit, allein schon für die Selbstachtung, aber auch um nächsten Generationen noch ein Überleben zu ermöglichen.

  • Ohne Hoffnung, aber nicht Verzweiflung, so würden wohl seine Ausführungen klingen, meint der Psychoanalytiker Wolfgang Schmid-bauer, und räumt mit mehreren Illusionen auf, etwa die heutigen Strukturen durch unseren Willen, unsere Einsicht und unser Engagement zu verändern. >Eine andere Illusion ist die Rückkehr in die tropischen Paradiese, die Wiederaufnahme des Stammeslebens, des Einklangs mit der Natur. Eine dritte Illusion ist der Glaube an den Fortschritt der Wissenschaft, die eine Lösung finden wird<.480

  • Für intelligente Optimistinnen und konstruktive Skeptiker, so beschreibt das Schweizer Journal >Zeitpunkt< im Untertitel seine Zielgruppe.

  • Dem Chaos standhalten, ohne verrückt zu werden, lautet eine Perspektive des Arztes und Coaches Chris Johnstone und der Ökophilosophin Joanna Macy.481

Die letztgenannte Autorin ist die herausragende Vertreterin der tiefenökologischen Strömung, die versucht, eine Vertiefung der Beziehung zur Natur anzuleiten und zu »Hoffnung durch Handeln« zu ermutigen. Sie sieht bereits einen »Großen Wandel«, an dem teilzunehmen jeder die Chance hat. Um die Bewegung und die Attraktivität einer Beteiligung daran zu fördern, schlägt sie fünf Strategien vor. So könne man Begeisterung als wertvolle erneuerbare Ressource erkennen, die Definition von Aktivismus erweitern, dem inneren Kompass einer tiefen Freude folgen, für sich neu definieren, was ein gutes Leben sei, sowie Erfolg mit neuen Augen sehen und genießen.

Der große Wandel umfasst demnach drei Dimensionen, letztlich drei Handlungsebenen, die genützt werden können:(482)

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Die drei Dimensionen haben zudem den Vorteil, dass man von der, in der man sich gerade bewegt, in eine andere wechseln kann, wenn Stagnationsprozesse eintreten. Dies kann Aktivisten hilfreich sein, um nicht auszubrennen in all den gut gemeinten Bemühungen.

Die hier sehr verkürzt skizzierten Gedanken der Tiefenökologie mögen manchmal etwas naiv und weltfremd klingen, beinhalten aber viel Trost und Hilfestellung, erlaubt man sich den Anblick der Welt und die Wahrnehmung des Schmerzes dabei.

Der moderne Mensch ist also mit seiner eigenen ganz individuellen Krisen- und Krankheitsbewältigung gefragt, so wie auch etwa Krebskranke ganz unterschiedlich mit dem plötzlich vor Auge stehenden Lebensende umgehen. Es sind nur wenige, die nun destruktiv reagieren, sich zusätzlich selbst schädigen oder sich gar das Leben nehmen. Auch sonst macht eine fatalistische Haltung wenig Sinn, nur weil man am Ende des Lebens sowieso irgendwann einmal sterben wird, woran grundsätzlich nichts zu ändern ist. Trotzdem versucht man, ein sinnvolles Leben zu führen.

Daher ist der Gedanke, dass man ja ruhig ökologisch so weiter wirtschaften könne, wenn man sowieso kaum etwas daran ändern könne, zwar erst einmal nahe liegend, aber sogleich wieder obsolet. Viele Krebskranke werden sich im Angesicht ihres Endes ihrer Verantwortung für ihre Familie und Mitmenschen bewusst und sorgen für ihre Nachkommen vor. Genau das ist - das drohende Ende und die Machtlosigkeit im Großen vor Augen - auch eine Möglichkeit, mit der ökologischen Krankheit dieser Welt individuell sinnvoll umzugehen.

Dafür ist es jedoch nötig, die Chancen, die auch diese schwere, so noch nie da gewe-


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sene Krise birgt, auch wahrzunehmen und zu ergreifen. Egal, ob dies global umsetzbar ist und zu einem effektiven Krisenmanagement führt -jedem Einzelnen steht selbst noch im finalen Krankheitsstadium in der persönlichen Krisenbewältigung dieser Weg offen, im Sinne einer eigenen freien Bewertung, der Freiheit des eigenen Wollens und Handelns.

Vielfältige Chancen der ökologischen Krise

Die ökologische Krise kann grundsätzlich - um es banal zu formulieren - auch eine in vielerlei Hinsicht bessere Zukunft bringen. Das wird bei allen Schreckensszenarien gerne übersehen, wenngleich es schwer vorhersagbar ist, wohin die Eigendynamik einer solchen Krise, noch dazu einer weltumfassenden, führen kann. Aber es gibt Chancen für einen Weg von der heutigen Lebensweise, die gekennzeichnet ist von hoher Entropie und fast unvermeidbarem umweltschädlichen Verhalten, zu einem niederentropischen Dasein, das unseren Nachkommen zumindest noch die Möglichkeit eines erträglichen Lebens lässt.

Das Schwergewicht unseres Daseins wird nach der Krise mit ihren einschneidenden Umwälzungen nicht mehr auf materiellem Konsum liegen. Die Grundbedürfnisse werden befriedigt werden können, nicht aber ausgefallene Wünsche, wie sie heute immer noch von der Werbung als dringend zu erfüllen suggeriert werden. Diese Dinge werden nicht vermisst werden, da eher die Vorteile dieses vermeintlichen Verzichts zu spüren sein werden. Die Produkte, die dann noch zur Befriedigung von Grundbedürfnissen erhältlich sind, werden dafür wieder wertvoller werden.

Anders formuliert: wer kein Auto besitzt, braucht sich keine Sorgen zu machen über unnötige Kosten, Reifenwechsel, Tankstellen und Werkstätten, Staus, Unfälle oder Autodiebe. Car-Sharing-Teilnehmer wissen das heute schon zu schätzen und nützen ein Auto allenfalls dann, wenn sie es wirklich brauchen. Ihr finanzieller Aufwand ist dadurch zudem geringer.

Ebenso wird Arbeit, vor allem muskelbetriebene und fürsorglich-pflegende, einen anderen Stellenwert erhalten. Heute gering geschätzte und daher schlecht bezahlte Tätigkeiten wie in der Pflege und Kinderversorgung werden besser anerkannt werden - es erstaunt immer wieder, wie wenig heute noch nach fünfjähriger Ausbildung für die


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Motivation von Erzieherinnen getan wird, denen das Wertvollste, was wir haben, nämlich der noch kleine Nachwuchs, überlassen wird. Stattdessen ist die hohe Bezahlung von Managern dafür, dass sie virtuelle Geldsummen vermehrt oder überflüssige Produkte vermarktet haben, dann nicht mehr notwendig.

Der Sinn von Arbeit wird erkennbarer werden, wenn der Mensch nicht mehr nur zum »Rädchen im Getriebe« degradiert ist, sondern weiß, warum er etwas tut oder zu tun hat. Kann er dann noch teilhaben an Organisations- und EntScheidungsprozessen, wird das die Motivation zusätzlich fördern. Dass dies auch heute schon keine Utopie sein muss, zeigen genossenschaftliche Unternehmensstrukturen, die sich unabhängig machen vom Shareholder Value.483

Tauschringe sind ein weiteres heute schon vereinzelt angewandtes Modell, sich auf wirkliche Bedürfnisse und gegenseitige Unterstützung zu konzentrieren. Anstelle von Rohstoff verbrauchender Produktion werden zudem Recycling, Reparatur und Wartung im Vordergrund stehen.484 Das produzierende Gewerbe wird sich umstellen müssen. In der Autoindustrie lässt sich heute schon beobachten, wie es ist, wenn man die Zeichen der Zeit nicht erkennt bzw. die drohende Krise leugnet.

Ölabhängige Industriezweige werden einen Niedergang erleben, Investoren ziehen hier bereits jetzt große Geldsummen ab. Im Bereich der sie ersetzenden erneuerbaren Energien liegt zudem ein enormes Potenzial an Arbeits­plätzen, wie sich jetzt schon zeigt. Weiter kann Sonnenenergie dezentral genutzt werden, jeder kann hier auch Selbstversorger oder Strom erzeugender Unternehmer werden, sofern politisch Bereitschaft entsteht, die derzeit noch zentralisierte Energieerzeugung zu verlassen.

Die nötige Energieersparnis und ein geringerer Dichtestress, der uns heute im Verkehr, in überfüllten Kinokomplexen oder beim Kampf um Arbeitsplätze zu schaffen macht und gerne mal zu Aggression oder Panikattacken führt, könnten sich durch den Versuch einer Rückkehr zu einem Leben in Gruppen erreichen lassen, es wurde bei den Lösungsansätzen schon angedeutet; hierfür werden neben den Familien-Gruppen Gemeinden etwa in der Größenordnung von 7000 Einwohnern vorgeschlagen.


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Dementsprechend wäre der Städtebau auszurichten, etwa mit Zusammenlegen von Wohnungen oder Aufstockung von Einfamilienhäusern im Stadtrandgürtel, um Gruppenwohnen zu ermöglichen. Die Schatten spendende Pergola auf dem Dachgarten wäre dabei ein solares Kraftwerk, nicht mehr nötige Parkplätze würden solar besetzt, Straßen würden zu Alleen, mit Bäumen oder Photovoltaik betreibenden Elementen.485

Großstädte dürften daher - entgegen dem derzeit noch bestehenden Trend - der Vergangenheit angehören, werden zumindest schrumpfen statt weiter wachsen.486 Damit wird auch der Verkehr sich ändern; öffentliche Verkehrs­mittel sowie Fahrräder werden an Bedeutung gewinnen, Reisen nicht mehr soweit in die Ferne führen, Geschäfte wieder wohnortnäher eingerichtet werden, wofür gerade ältere und nicht mehr so mobile Menschen im Zeichen der parallel ablaufenden demographischen Entwicklung dankbar sein dürften.

Ebenso wird die heute oft zentralisierte und hochtechnisierte Landwirtschaft der Selbstversorgung und einem dezentralen regionalen Kleinanbau weichen müssen, allein die steigenden Transportkosten machen das notwendig. Biobauern praktizieren das heute schon, beliefern Märkte vor Ort und bieten Verbrauchern mit Ökokisten einen praktischen Vorortservice mit geringem Energieaufwand für den Transport. Wenn ein Transporter mit etwa 200 Kisten einmal wöchentlich die Runde durch ein Stadtviertel dreht, ist das sparsamer als wenn aus jedem der 200 Haushalte mehrmals wöchentlich jemand mit dem Auto zum Supermarkt fährt. Auch für die Entwicklungsländer werden große Chancen für Kleinbauern gesehen.487

Sicher liegt es auf der Hand, solche Szenarien, wie sie auch oben schon skizziert wurden und noch weiter fortgesetzt werden könnten, etwa auch für Wissenschaft und Forschung, als unrealisierbare Utopien zu bezeichnen. Aber unter dem Gesichtspunkt, die ökologische Krise als Chance zu betrachten für eine konstruktive Weiterentwicklung der Menschheit danach, erhalten sie eine ganz andere Bedeutung. Bei sich weiter zuspitzender Krise werden sich heute als utopisch anmutende Visionen noch als wertvoll erweisen können.

Und schließlich wird es wahrscheinlich auch zu einem Rückgang der Population des Menschen kommen,(488) was zunächst ein ganz normaler Vorgang in Ökosystemen ist. Die entsprechenden Regulations­mechanismen werden das erfordern. Der Planet würde nicht mehr übernutzt werden wie heute, andere Lebewesen und Pflanzen würden von einem neuen Gleichgewicht profitieren. Warum sollte es grundsätzlich schlecht sein, wenn nur noch drei Milliarden Menschen auf der Erde leben, wie dies noch vor 1960 der Fall war?

Bei solchen Überlegungen wird einem rasch unterstellt, man würde hier nun ein gegenseitiges Schlachten und Morden vorschlagen. Es dürfte sich aber eher um einen auf lange Sicht sich entwickelnden Populations­rückgang handeln aufgrund sich verschlechternder Umwelt- und Lebensbedingungen. Große Sorgen macht dabei allerdings schon, dass außer nachlassenden Geburtenzahlen vor allem katastrophale Konflikte, etwa um Rohstoffe, zu der nötigen Anpassung beitragen könnten. Wünschenswert ist dies keinesfalls!

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Krisen sind etwas völlig normales. Im Kleinen und Großen treten sie immer wieder auf und führen nach meist schmerzhaftem Tiefpunkt oft zu einer konstruktiven Weiterentwicklung. Aber so wie mancher Verlust oder manche schwere Krankheit nicht überwunden werden können, kann auch die ökologische Krise in eine Sackgasse führen, etwa wenn die Komplexität ihrer vielfältigen Auswirkungen mit einem anhaltenden Ausblenden ihrer Bedrohung zusammenwirkt.

Diese führt hin zu existenziellen Fragen des Daseins. Welche Lebensentwürfe sind sinnvoll, welche Haltung wird eingenommen, wie kann die erkennbar gewordene Endlichkeit bewältigt werden? Das Gewahrwerden von Wut, Angst und Ohnmacht im Angesicht der Krise und das Aussprechen dieser Gefühle in Gruppen mit Gleichgesinnten mag eine gute Sofortmaßnahme im akuten ökomentalen Krisenfall sein.

Für ein nachhaltiges, darüber hinaus reichendes Management bedarf es aber zusätzlicher Therapien: neben Änderungen des Lebensstils ist auf der Ebene des Einzelnen auch eine Besinnung auf grundlegende Fragen des Daseins hilfreich. Diese haben mit der eigenen Isolation, der Freiheit eigener Entscheidungen, der Konfrontation mit dem Tod und dem Sinn durch Selbst­transzendenz zu tun. Durch die Ausein­ander­setzung damit könnten sich die nach Aufgabe der Verleugnung zahlreich auftretenden negativen Gefühle leichter aushalten und bewältigen lassen sowie eine eigene Haltung gefunden werden.

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