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3.2    Die vier letzten Dinge - die existenzielle Sichtweise       Meißner-2017

Es ist an der Zeit, die Entdeckung zu nutzen, dass du weder dein Körper bist, noch deine Identität,
noch deine Bücher, sondern ein Teil von etwas, dem all das gleichgültig ist.
Das könnte dem Menschen eines Tages helfen, einen Weg zu finden.
(Tiziano Terzani, 489)

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Eine 42-jährige Allgemeinärztin schreibt:

Wir führen ein verschwenderisches Luxusleben voller Egoismus und kämpfen darum, dass es immer noch besser wird. Doch so richtig glücklich macht das anscheinend nicht, woher kommen bloß die vielen Depressionen? Fehlt der Sinn des Lebens? Zu viele Reize und Informationen, die auf uns einstürmen? Alles zu materialistisch, konsumorientiert? Manchmal wünsche ich mir einfach nur Ruhe und innere Leere (beim Yoga bin ich gelegentlich ganz nah dran, aber das Meditieren ist unheimlich schwer). Das Annehmen des Endes und auch des Todes fiele mir bedeutend leichter, wenn ich endlich wirkliche innere Ruhe und Gelassenheit finden könnte. Unwichtige Pseudosorgen und -probleme nehmen zu viel Platz ein.(490)

   Zurückgeworfen auf sich selbst  

Im Grunde stecken in diesen nachdenklichen Worten die wesentlichen Aspekte, die zuvor schon angeklungen sind: Das Erkennen der Missstände, die Schwierigkeiten, dagegen etwas zu tun, das Eingenommensein von den Alltagssorgen, und - bei aller Hoffnung auf fähige Politiker, gute Vorbilder und technische Fortschritte - das immer am Ende aller Überlegungen stehende Zurückgeworfensein auf sich selbst. Der weite Bogen über die Darstellung der ökologischen Krise, ihre evolutionäre Entwicklung, die Rolle der Entropie und die Hoffnung auf Lösungen, die vergeblich sein muss, wenn nur auf Vorgaben von oben gehofft wird, führte hin zu der Frage, wie der Einzelne (auch Entscheidungsträger sind »Einzelne«) selbst Krisenmanager werden kann.

Hierfür bedarf es jedoch eigener Selbsterfahrung, eines Zugangs zum inneren Ich, zu Psyche und Seele, um dann auch wieder leichter die Beziehung zur Natur und zu anderen Menschen aufnehmen können. Denn wie wir gesehen haben, weisen die meisten von Experten geforderten Werte (wie etwa Empathie, Gerechtigkeit, Humanität, Verantwortung) auf die Bedeutung von Beziehungen zu den nächsten oder entfernter lebenden Menschen hin, was grundsätzlich auch auf das Verhältnis zur Natur zu übertragen wäre, die wir im Eigeninteresse ja bestmöglich erhalten wollen.

Doch wie sollen die genannten Werte entstehen, wenn doch Gesetze, Normen, Vorschriften und Moralpredigten nicht unbedingt zu den gewünschten Wertvorstellungen beitragen? Durch Selbsterfahrung und Selbst­transzendenz (also aus sich heraus gehen, sich auf andere beziehen), Erlebnisse der gemeinsamen Ekstase genauso wie durch Erfahrungen der Stille und Tiefe kann es grundsätzlich zu länger gültigen Werten kommen, wie wir schon von soziologischer Seite her gesehen haben. Also kommen wir auch hier vom weiten Bogen allgemeiner Prinzipien sowie notwendiger Regeln und Gesetze wieder zurück zu jedem Einzelnen von uns. Doch auf der individuellen Ebene gibt es viele Hindernisse für eine fruchtbare Selbsttranszendenz. Der Philosoph Hans Georg Gadamer meint dazu:    wikipedia  Hans-Georg_Gadamer  1900-2002

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Wer mit sich selbst nicht Freund, sondern mit sich selbst zerfallen ist, ist gerade zu keiner Hingabe an andere und zu keiner Solidarität fähig. Hier scheint mir der tiefste Grund der Selbstentfremdung zu liegen, die wir im modernen Zivilisationsleben sich ausbreiten sehen, und umgekehrt liegt hier die unverlierbare Chance unser aller, inmitten der durch nichts zu beschönigenden Zwangsformen unserer modernen Gesell­schaft die eigene Tätigkeit mit dem Bewusstsein eines eigenen Sinnes zu erfüllen, wo wir nur ein Bewusstsein echten Wissens und echten Könnens besitzen.491

Die Endlichkeit der Ressourcen, des Planeten wie auch des eigenen Lebens, die Freiheit, selbst Entscheidungen treffen und in eigenen Wertbindungen bei sich sein zu können - durch weniger Selbstentfremdung mit sich selbst Freund zu sein -, das Zurückgeworfen-Sein letztlich auf sich selbst mit der Notwendigkeit, den eigenen Sinn und die eigene Befriedigung zu finden: all dies weist hin auf ganz existenzielle Gegebenheiten, die vier letzten Dinge: Tod, Freiheit, Isolation und Sinn.(492)

Ein Bewusstsein davon kann zu tieferen zwischenmenschlichen Beziehungen und Selbsttranszendenz verhelfen, aber auch zur Akzeptanz der Endlichkeit, und dies wiederum zu leichterem Umgang mit der schwierigen ökoglobalen Situation. Daher lohnt es sich, sich mit diesen letzten Dingen im Folgenden etwas näher zu beschäftigen, gestützt auf Überlegungen des amerikanischen Psychotherapeuten und Schriftstellers Irvin Yalom zu einer »existenziellen Psychotherapie«.493

  Isolation  

Zunächst bereitet es ein Unbehagen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Vielfache Ablenkungen und vermeintliche Sachzwänge helfen über die meiste Zeit im Alltag, das zu vermeiden. Die daher seltenen Momente der Ruhe führen dann erstaunlicherweise oft zu großer innerer Unruhe, man kennt das vom Urlaub: die ersten Tage vermeintlicher Ruhe sind nicht selten von erheblicher Anspannung gekenn­zeichnet.


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In der Auseinandersetzung mit sich selbst stößt man darauf, dass man im Grunde unerbittlich alleine ist, innerlich getrennt von der Welt. Niemand kann von außen die eigenen Gedanken und Gefühle vollständig kennen, immer bleibt auch ein Rest, den man nicht jemand anderem verständlich machen kann. Die Trennung zwischen Mensch und Welt wird wohl am deutlichsten erkennbar im Sterben als einsamster menschlicher Erfahrung überhaupt. Es geht also nicht um das Alleinsein als solches, etwa nach einem Todesfall oder einer Trennung, sondern es geht um eine Isolation, der man sich in letzter Konsequenz nicht entziehen kann, seien auch noch so viele Menschen um einen herum oder auf Facebook aktiv.

In der Persönlichkeitsentwicklung, im Größer- und Älterwerden des Kindes, stellt sie zunächst den Preis dar für notwendiges Wachstum und Loslösung. Die nötige Abnabelung von den Eltern bringt Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, aber dann auch ein manchmal erschreckendes Auf-Sich-Gestellt-Sein. Das kann gerade in Übergangsphasen wie der Pubertät, aber auch später zu schweren Krisen führen. Dementsprechend kann Isolation wiederum geleugnet werden durch Verschmelzung in Beziehungen, indem man sich etwa von einem Partner übermäßig abhängig macht, oder durch Größenideen im Glauben an die eigene Besonderheit, etwa indem man sich in seiner Arbeit für unersetzlich hält. Bricht hier das Gebäude zusammen, verlässt einen etwa der Partner oder gibt es Ärger am Arbeitsplatz, gerät man psychisch leicht in Turbulenzen.

Auch bei der Betrachtung der ökologischen Krise fühlen wir uns oft alleine. Wir bemühen uns vielleicht, etwas Sinnvolles zu tun, sehen aber, dass andere weiter zum Flughafen für die Urlaubsreise eilen. Wir achten beim Kauf des Autos auf einen sparsamen Motor, sehen aber, dass die Politiker und Regierungen kaum Anreize geben, um Abgase zu reduzieren. Hilflos fühlen wir uns zudem unbestimmten Gefahren und hereinbrechenden Naturgewalten ausgeliefert, mit denen wir jetzt umso mehr zu rechnen haben. Zugleich ist es schwer, aus dem üblichen Kreislauf auszubrechen, stecken doch hinter Arbeit, Karrierestreben, Konsum und Statussymbolen letztlich auch eigene psychische Bedürfnisse wie das Streben nach persönlicher Erfüllung, Befriedigung und Anerkennung, vielleicht sogar die Stabilisierung eines sonst fragilen Selbstwertgefühls.494


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Vielleicht gelingt es dem in der Ökokrise Orientierung Suchenden anzuerkennen und auszuhalten, dass die existenzielle Isolation nicht zu eliminieren, allenfalls in zwischenmenschlichen Begegnungen zu lindern ist. Hilfreich ist es auch, neue Arten zu entdecken, »in der Einsamkeit zu ruhen«, Perioden selbst auferlegter Einsamkeit oder Meditation können Mittel dazu sein. Irvin Yalom meint dazu:

Die Menschen lernen dabei [in solchen Perioden], in die Isolation einzutauchen, was sie am meisten fürchten. Sie werden aufgefordert, in die Isolation einzutauchen - und was noch wichtiger ist, dies nackt, ohne die gewohnten Schutzmechanismen der Verleugnung zu tun. Sie werden aufgefordert, >los-zulassen< (statt sich anzustrengen und etwas zu erreichen), ihren Geist zu leeren (statt zu kategorisieren und Erfahrung zu analysieren) und auf die Welt zu reagieren und mit ihr in Harmonie zu sein (statt sie zu kontrollieren und sie zu unterwerfen).495

Das hieße fast, etwas zurückzukehren zur schon beschriebenen Jäger-und Sammler-Mentalität: das zu nehmen, was da ist (»auf die Welt reagieren«) und nicht auszubeuten und zu vernichten (»statt sie zu kontrollieren und zu unterwerfen«), Menschen ziehen sich daher gerne für einige Tage in die Wildnis zurück, entsprechende Seminare erfreuen sich zunehmender Beliebtheit.

Bei solchen Experimenten können dann aber Unbehagen und Langeweile auftauchen, die gerne vermieden werden, jedoch zu den ersten zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit gehören. Matthias Drobinski schreibt zu diesem selten bedachten Phänomen der Langeweile:

Sie kam in die Welt, als sich die Steinzeitmenschen satt vor ihre Höhle setzten, rülpsten und dachten: Was nun? Und sie die eigene Existenz zu jucken und kratzen begann. Ohne Langeweile hätten die Griechen nie die Olympiade erfunden. (...) Vielleicht ist die grassierende Langeweile der Kinder ein Reflex auf die Verdrängung der Erwachsenen. Sie quengeln um Aufmerksamkeit und nicht um Ablenkung, um die Befreiung vom


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Überangebot und nicht, weil sie ein neues Nintendo-Spiel wollen. Deshalb: Mut zur Langeweile! (...) Sie kratzt und juckt, erzeugt Überdruss, zunächst einmal ist sie überhaupt nicht schön. Dann aber weckt sie Sehnsucht, sie macht das Unerfüllte bewusst, und nur so kann Neues keimen. (...) Wer die Windstille der Seele nicht kennt, kann auch nicht zur glücklichen Fahrt aufbrechen.496

Andere Wege zu persönlicher Erfüllung und Befriedigung sind also möglich, nicht immer ist Geld dafür notwendig. Die Auseinandersetzung mit der Isolation kann auch dabei helfen, die zum Umgang mit der ökologischen Krise hilfreiche Empathie zu entwickeln, mit anderen Menschen die Sorgen zu teilen und hierdurch auch das Alleinsein mit den ökologischen Fragen und Ängsten zu relativieren. Studien haben zudem gezeigt, dass, je geringer das Gefühl persönlicher Erfüllung und die Lebenszufriedenheit sind, die Todesangst umso ausgeprägter ist. Beim Spüren der eigenen Isolation in der Auseinandersetzung mit uns selbst werden wir somit zwangsläufig auch konfrontiert mit Gedanken an unsere eigene Endlichkeit.

Tod

Wer denkt schon gerne an das eigene Sterben! Viele, damit konfrontiert, äußern, nein, der Tod mache ihnen keine Angst. Bei genauerem Nachfragen stellt sich dann heraus, dass es sehr wohl große Furcht gibt: vor dem eventuellen Siechtum durch Krankheiten, vor dem Zurücklassen von Familie und Freunden, vor dem, was danach kommt oder nicht, und vor allem davor: aufzuhören zu sein.

Und irgendwann nähert man sich dem Punkt, an dem die Frage auftaucht, ob man eigentlich mit dem eigenen Leben etwas »Sinnvolles« angestellt hat, ob man die Möglichkeiten, die sich geboten haben, genutzt hat, ob man selbst überhaupt versucht hat, solche Möglichkeiten entstehen zu lassen, und wie man die Kontakte zu Menschen, die einem wichtig waren, gestaltet hat. Mit dem Älterwerden, der Möglichkeit, krank zu werden oder zu versterben, sind wir immer wieder konfrontiert:


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etwa bei Unfällen, bei denen es gerade noch einmal gut gegangen ist, bei Todesfällen im Umfeld, aber alleine schon bei Geburtstagen, die einem deutlich signalisieren, dass man dem Ende wieder einen Schritt näher gekommen ist.

Also stürzen wir uns ins Leben, in die Hektik des Arbeitsalltages und des Freizeitstresses. Der Verleugnung der Todesangst dabei dient auch die schon beschriebene Flucht in virtuelle Welten, um nicht wahrnehmen zu müssen, dass es nicht immer nur aufwärts gehen kann, weder im persönlichen Leben noch etwa beim Wirtschaftswachstum. Rückschläge, Krankheiten und Tod gehören jedoch zum Leben dazu, sind aber schwer auszuhalten, wie auch die eventuell existenziell bedrohliche (und damit dann den Tod näher bringende) Ökokrise.

Die Todesangst blitzt dann aber immer wieder auf durch Träume sowie die Konfrontation mit dem Altern und mit Krankheiten, stärker noch im Erleben ausgeprägter Angst bei Panikattacken. Schon Kinder sind allerdings sehr mit dem Tod beschäftigt und erlernen die Verleugnung als wesentliche Strategie im Umgang mit der Todesfurcht. Spricht ein Kind vom möglichen eigenen Tod oder dem etwa der Großmutter, wird vom Erwachsenen sogleich beschwichtigt und beschönigt, weil man ja selbst nicht damit konfrontiert werden will.

Die zwei Hauptformen der Verleugnung werden häufig ins Erwachsenenalter mitgenommen: zum einen der Glaube an die persönliche Unverletzlichkeit und Besonderheit mit daraus resultierendem hohen Streben nach Autonomie, Macht, Effizienz und Kontrolle, psychopathologisch dann sich äußernd etwa in unpassenden Größenideen, leichter Kränk-barkeit und Arbeitssucht, sowie zum anderen der Glaube an den »letzten Retter«. Hier steht im Vordergrund der Glaube an ein Wesen, das uns ewig beobachtet, liebt und beschützt oder einen allmächtigen Diener darstellt (z. B. Eltern, Partner, Gott); in Beziehungen führt dies häufig zu Abhängigkeit und Unterordnung, bei stärkerer Ausprägung vielleicht auch zu Verlustängsten, Depression und Panik vor dem Alleinsein.

Auch ökologisch gesehen sind wir vom »letzten Retter« enttäuscht. Wir erkennen, dass weder Gott noch die Politik uns aus der gegenwärtigen Situation erlösen können (im Zusammenhang mit ausbleibenden Regenfällen auf Zypern wurde von der Kirche schon das regelmäßige Beten dafür verordnet - allerdings ohne Erfolg). Aber wir verlangen


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immer wieder, dass doch »die da oben« endlich etwas tun oder Werte vorgeben sollten; auch die Wirtschaft solle doch mit gutem Beispiel bei der Lösung der großen Fragen voran gehen. Genau das ist die Gefahr mit dem »letzten Retter«: die Hoffnung darauf verführt in letzter Konsequenz dazu, sich unreflektiert Autoritäten anzuvertrauen. Dass »die da oben« aber selbst oft nicht weiter wissen, haben wir schon festgestellt.

Eine weitere Parallele fällt auf: nach durchlebten Krankheiten sind wir, aus Erleichterung darüber, dass es noch einmal gut gegangen ist, gerne bereit, das Bewusstsein von Krankheit und Tod wieder weit hinten anzustellen. Das ist grundsätzlich sinnvoll. Es hilft nicht weiter, die ganze Zeit daran zu denken. Genauso aber kehren wir gerne etwa bei abklingender Finanzmarktkrise schnell zur vorherigen Normalität zurück, und die wieder gesunkenen Ölpreise lassen uns rasch vergessen, wie endlich dieser Rohstoff trotzdem bleibt, die Chance zum Wandel bleibt erneut ungenutzt. Auch die der Todesangst ähnliche Furcht davor, alte Gewohnheiten aufgeben zu müssen, ohne Sicherheit für das noch unklare Neue garantiert zu bekommen, wird dabei gerne vermieden. Zum Sinn der Begrenztheit jedoch äußert sich der Naturphilosoph Bernulf Kanitscheider:

Der Tod ist nicht die einzige bedeutungsvolle Sache im Leben. Wer immer nur auf das Ende des Daseins blickt, nimmt sich die Chance, sein Leben erfüllt zu gestalten. Man kann es auch umgekehrt sehen: Es ist gerade die Sterblichkeit, die ein menschliches Leben kostbar macht. Wenn wir unendlich viel Zeit zur Verfügung hätten, könnten wir jedes Ziel in die unbegrenzte Zukunft verschieben.497

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit könnte uns also helfen, die Endlichkeit auch des Planeten und seiner Ressourcen annehmen zu lernen (sie kann allerdings ebenso dazu führen, es sich bewusst gut gehen zu lassen, auch mit Luxus und Fernurlauben, schließlich kann der aktuelle Tag schon der letzte sein). Grundsätzlich erleichtert diese Auseinandersetzung es uns, den Gedanken an eine Endlichkeit von Gesellschaften498 oder auch unserer im Grunde noch jungen menschlichen Kultur aushalten zu können. Immer nur auf ein solches Ende zu


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blicken, scheint auch hier nicht sinnvoll. Sich dessen grundlegend bewusst zu sein könnte aber ein Ansporn sein, den Menschen und seine Kultur als kostbar zu begreifen und ihren Erhalt zu fördern (der hier, im Gegensatz zum eigenen Leben, ja sogar möglich wäre). Stattdessen verhalten uns unter Ausblendung der ökologischen Folgen aber so, dass wir nur umso schneller ihrem Ende entgegen kommen. Das erinnert an die schon angestellten Überlegungen zum Todestrieb, der unbewussten Sehnsucht nach dem Ende.

Ähnliches fällt wiederum auch im Umgang mit der individuellen Todesangst auf. Wir verneinen, eine Todesangst zu haben, setzen uns aber durch Umgang mit riskanten Techniken, durch häufige und schnelle Mobilität, mit Nikotin- und Alkoholkonsum, Fehlernährung und teilweise gefährlichen Freizeitaktivitäten einem hohen Lebensrisiko aus. Dann eilen wir zum Arzt, dem »letzten Retter« im Gesundheitswesen, der es wieder richten soll (oder wir meinen - eher im Glauben an die eigene Besonderheit - dass wir das schon alleine schaffen würden). Auch hier sind die Mutigeren selten, die uns reinen Wein einschenken oder auch einmal ihre eigene Ratlosigkeit zugeben.

Meist verschanzen sie sich hinter Schreibtischen, Rezeptblöcken und technischen Apparaten, erhöhen so im Sinne der Entropie den Input mit dann aber nur geringem Output, und verschaffen uns dadurch die Illusion, dass alles schon machbar sei. Hilfe von Rettern in Anspruch zu nehmen, aber gleichzeitig auch sich selbst zu helfen und somit selbst aktiv zu werden, diese Balance zwischen Ich und Außen fällt schwer.

Offensichtlich ist die Tatsache schwer zu akzeptieren, dass diese Welt eines Tages aufhören wird zu existieren, ebenso wenig wie wir die Tatsache unseres eigenen Todes akzeptieren wollen.499 Das Aufgreifen und Annehmen der verleugneten, jedoch wirkenden Todesangst kann helfen, die zunächst schrecklich erscheinende Wahrheit der Endlichkeit anzunehmen und die Lebenszufriedenheit zu erhöhen, indem das Leben als »Möglichkeit der Möglichkeiten«500 erfahren wird vor dem Hintergrund des Todes als »Unmöglichkeit weiterer Möglichkeiten«.501 Dies erkennen, bewerten und danach handeln zu dürfen, ist eine besondere Form der Freiheit, die hier ebenso existenzielle Bedeutung annimmt.


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Freiheit

Freiheit, sie ist von diesen »schweren« letzten Angelegenheiten zunächst am leichtesten anzunehmen. Freiheit wollen wir alle: Meinungsfreiheit, Wahlfreiheit, Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit im politischen System. Warum also sich damit auseinandersetzen?

Unsere Freiheit heute ist scheinbar grenzenlos. Wir können zwischen Dutzenden von Automodellen und Smartphones, Gurkengläsern und Zahnpastasorten, zwischen unzähligen Reise- und Aktivitätsmöglichkeiten wählen. Hier kann die Wahlfreiheit ein erdrückendes Ausmaß annehmen, etwa auch bei der Berufswahl, steht doch ein Vielfaches an Ausbildungs- und Studienwegen zur Verfügung verglichen mit einer Zeit noch vor wenigen Jahren. Viele junge Menschen haben daher trotz großer Freiheit Probleme, ihren eigenen Weg zu finden, der dann ja noch zielstrebig und schnell - etwa im Bologna-Studien-System - erledigt werden soll. Die Freiheit, zu sein oder zu werden, der man ist, erscheint da eher erschwert. Denn alles ist bereits vorgesehen, alles ist geregelt, und auszuscheren ist nicht leicht.

Der Freiheitsbegriff hat im existenziellen Zusammenhang jedoch keine politische oder gesellschaftliche Bedeutung, sondern erfasst die grundlegenden persönlichen Kategorien der Verantwortung sowie des Wählens und Handelns. Wie jeder sich entscheidet, wie jeder etwas betrachtet und bewertet, ob und wie jeder danach handelt, all das liegt allein in der persönlichen Freiheit wiederum eines jeden. Yalom gibt dazu ein schönes Beispiel von sich selbst:

Auf der tiefsten Ebene steht Verantwortung für Existenz. Dies wurde mir durch eine einfache Erfahrung vor vielen Jahren nahe gebracht, die so mächtig war, dass sie mir lebhaft in Erinnerung geblieben ist. Ich schnorchelte allein in dem warmen, sonnigen, klaren Wasser einer tropischen Lagune und erlebte, wie ich es oft im Wasser habe, ein tiefes Gefühl von Freude und Wohlbehagen. Ich fühlte mich zu Hause. Die Wärme des Wassers, die Schönheit des Korallengrundes, die glitzernden, silbernen Elrit-zen, die neonhellen Korallenfische, der königliche Engelsfisch, (...) das ästhetische Vergnügen, durch das Wasser zu gleiten -


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alles zusammen erschuf ein Unterwasser-Elysium. Und dann erfuhr ich, aus Gründen, die ich niemals verstanden habe, einen plötzlichen Wandel der Perspektive. Ich wurde mir plötzlich bewusst, dass keiner meiner Genossen im Wasser meine heimelige Erfahrung teilte. Der königliche Engelsfisch wusste nicht, dass er schön war, die Elritzen, dass sie funkelten, die Korallenfische, dass sie strahlten. Die Seeigel mit ihren schwarzen Stacheln oder die Abfälle auf dem Grund (die ich zu übersehen versuchte) wussten auch nichts von ihrer Hässlichkeit. Das Zuhausesein, die Wohligkeit, die lächelnde Stunde, die Schönheit, die Verführung, die Annehmlichkeit - keine von diesen existierte wirklich! Ich hatte die gesamte Erfahrung geschaffen! Ich könnte in gleicher Weise durch ölschlickiges Wasser voller leerer Plastikbehälter gleiten und mich dafür entscheiden, es entweder schön oder abscheulich zu finden. Auf der tiefsten Ebene waren die Wahl und die Schöpfung mein Werk.502

Wahrnehmung ist also auch etwas sehr Subjektives; entscheidend dabei ist, welche Bedeutung man selbst Ereignissen oder Schicksalen zumisst. So wenig Verantwortung dafür beim Betroffenen häufig bestehen mag (wenngleich das bei manchen Umständen näher zu betrachten wäre), so sehr ist er verantwortlich für deren Bewertung und Einordnung (wir sind diesem Phänomen schon bei der »Apokalypse im Kopf« begegnet). Eindrucksvoll ist das wiederum oft zu beobachten bei Menschen, die an einer schweren Erkrankung leiden, etwa einem Krebsleiden. Im Angesicht der plötzlich nahe gerückten Endlichkeit des Lebens neigen manche Betroffene zur Bewertung der Erkrankung als Katastrophe, zu Resignation und Verzweiflung im Umgang mit der nicht bewältigten Todesangst, andere nehmen nach anfänglichem Schock die ihnen verbleibende Chance an und leben eher auf.

In diesem Sinne ist man selbst Schöpfer seiner eigenen Welt, was eine Schwindel erregende Empfindung im Sinne der schon diskutierten existenziellen Isolation darstellen kann. Nicht das so oft beklagte Schicksal oder die äußeren Umstände sind es alleine, die uns belasten, sondern vor allem wir selbst, mit unserem Blickwinkel dazu. Es erwächst daraus eine Verantwortung für die eigene Lebensführung. Irgendwann nützt es


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nichts mehr, die Eltern, die Erziehung, die Gesellschaft oder früher erlittene Enttäuschungen als schuldig für die Situation jetzt anzuklagen.

Die Parallele zur ökologischen Krise drängt sich auf: es bringt nichts, die vor Jahrhunderten erfolgte Industrialisierung oder gar den Übergang vom Jäger- und Sammler-Dasein zu Ackerbau und Sesshaftigkeit als ursächlich für die jetzige Situation zu beschuldigen. All das hat sich von selbst, mit entsprechender Eigendynamik, ohne bösen Willen vollzogen. Und so sehr das aktuelle Dilemma von Umständen, Politik und Weltgeschehen abhängig ist, so sehr haben wir selbst die Möglichkeit, zu entscheiden, wie sehr wir uns davon frustrieren lassen wollen oder ob wir eine »ökologische Lebenskunst«503 entwickeln, bei der wir dann ganz bei uns sein können. Auch die Umwelterkrankung könnte durchaus in ihrer Bewertung Menschen und Kollektive dazu bringen, die dennoch verbleibende Chance anzunehmen.

Die Plastikbecher im Meer nun aber direkt als schön anzusehen, wäre dann doch eher eine Fehlbewertung, die erfolgreich vom Handeln abhalten würde. Denn in der Verleugnung werden häufig Entscheidungen gemieden, die uns die ureigenste Verantwortung für all das bewusst machen könnten. Die geben wir lieber nach oben ab, wie wir schon gesehen haben. Existenzielle Selbsterfahrung kann hier helfen, die eigene Rolle in den entstandenen Lebensstrukturen zu erkennen und Verantwortung für das Hier und Jetzt zu übernehmen. Wichtige Aufgabe ist es dabei, den wirklichen »Widrigkeitskoeffizienten« des eigenen Schicksals zu identifizieren, also das zu analysieren, was nicht geändert werden kann und somit tatsächlich zu den oft beklagten »widrigen Umständen« gehört, und hiervon zu trennen, was letztlich in eigener Verantwortung aus bestehenden Beeinträchtigungen gemacht oder aus Möglichkeiten nicht gemacht wurde.

Hierfür ist es jedoch auch nötig, eigene Wünsche zu spüren, eigene Präferenzen, eigene Bedürfnisse, Vorlieben oder auch Abneigungen. Um zu einem Willen zur Veränderung zu kommen, müssen wir also zunächst Wünsche und die Tatsache, dass eine eigene Freiheit für Wahl und Entscheidung besteht, in ihrer vollen Bedeutung erkennen. Eigene, auch unangenehme Gefühle wahrnehmen zu können, ist für Wunsch, Wille und schließlich bewusste Wahl entscheidend, entsprechend der diskutierten »emotionalen Ergriffenheit« zur Veränderung von Werten.


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In der ökologischen Situation erfährt der Mensch somit die äußerste Konsequenz moderner Freiheit, der er nicht entrinnen kann, worauf der Philosoph Wilhelm Schmid hinweist:

Jeder einzelne ist frei mit darüber zu befinden, welches Ausmaß die ökologische Zerstörung annehmen kann und ob es, wenn das äußerste Ausmaß ins Auge gefasst wird, eine Menschheit noch geben soll oder nicht.504

Jeder wählt also dabei, sei es durch aktive Lebensgestaltung oder durch implizite passive Wahl; das Abstimmungsergebnis wird erst nach langer Zeit bekannt sein. Die Alternativen, so Schmid, würden sich darauf zuspitzen, »klug oder tot zu sein, tertium non datur«,505 einen dritten Weg gibt es nicht. Also kann das hochemotionale Ergriffensein von der ökologischen Krise die Voraussetzung dafür schaffen, ein Ende der weiteren Umwelt­schädigung zu wünschen, eine Veränderung der Situation zu wollen, neue Werte für sich zu wählen und sich für verändertes Verhalten zu entscheiden, und letztlich damit Verantwortung zu übernehmen - ähnlich der schon erwähnten Forderung von Hans Jonas nach einem »Prinzip Verantwortung«, für sich selbst, für das eigene Verhalten, aber auch von Menschen für Menschen. Und das kann dann sehr »sinnvoll« sein.

Sinn

Die Suche nach dem Sinn dürfte wohl ein grundlegendes Menschheitsproblem sein, vielleicht entstanden im Rahmen der evolutionären Vergrößerung des Hirnvolumens mit Entwicklung eines Bewusstseins von sich selbst. Sie wäre somit die Schattenseite der gepriesenen Selbstrefle-xivität. Deutlich zum Vorschein gekommen ist sie durch die Entfernung von der Agrokultur, wie schon beschrieben. Ratgeber zur Sinnfindung füllen heute jedenfalls die Regale von Buchhandlungen, Religionen versuchen eine Antwort darauf zu geben, in Therapien wird häufig von der Sinnlosigkeit des Daseins gesprochen. Und das hängt zumeist mit der beschriebenen Isolation und der verdrängten Todesangst zusammen.


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So berichtet Yalom vom Schriftsteller Leo Tolstoj, der den größten Teil seines Lebens mit der Sinnlosigkeit gerungen habe. Er zitiert aus dessen autobiographischem Fragment »Meine Beichte«:

Die Frage, die mich in meinem fünfzigsten Lebensjahr zu Selbstmordgedanken geführt hatte, war die einfachste aller Fragen, die in der Seele jedes Menschen verborgen liegt, vom unentwickelten Kind bis zum größten Weisen: >Was ist der Sinn von dem, was ich jetzt oder vielleicht morgen tue? Was ist der Sinn meines ganzen Lebens?< Anders ausgedrückt - >Warum sollte ich leben? Warum sollte ich irgendetwas wünschen? Warum sollte ich irgendetwas tun?< Wieder mit anderen Worten: >Gibt es irgendeinen Sinn in meinem Leben, der nicht durch den unausweichlichen Tod, der mich erwartet, zerstört wird?<506

Der Mensch scheint Sinn zu brauchen. Denn Sinn vermittelt auch Macht, nämlich das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben. Um unser Gefühl der Hilflosigkeit angesichts zufälliger, strukturloser Ereignisse zu bewältigen, versuchen wir, diese zu ordnen und dadurch beherrschbar zu machen (was im Sinne der Entropie viel Kraft und Energie kosten kann). Noch wichtiger aber ist es, dass Sinnfindung zur Entstehung von Werten und damit zur Entstehung von Verhaltensnormen führt.

Dementsprechend ruft es sehr viel Kummer hervor, ohne Sinn, ohne Ziele, Werte oder Ideale zu leben. Aber - wie wir vorher gesehen haben - es gibt nicht das einzig wahre Absolute, wir erschaffen uns unsere Welt oft selbst mit unserer Wahrnehmung, Verarbeitung und Bewertung, das heißt: alles, was ist, hätte auch anders sein können. Im Grunde gibt es daher keinen »Sinn«, kein großartiges Design im Universum, keine Leitlinien für das Leben außer denen, die der Mensch sich selbst schafft.

Die Existentialisten um Sartre oder Camus haben besonders scharf nach dem Lebenssinn gefragt angesichts der Tatsachen, dass wir in der selbst erschaffenen Welt leben und dann sterben müssen sowie letztlich wohl allein im gleichgültigen Universum sind. Die jüdisch-christliche Tradition hat hier die Annahme angeboten, dass die Welt und das menschliche Leben Teil eines von Gott bestimmten Plans sind. Der kosmische Sinn, den eine religiöse Weltsicht anbietet, ermöglicht eine


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Vielzahl von Interpretationen des persönlichen Lebenszwecks - einige davon doktrinär, andere höchst illusionär. Durch den Glauben, dass es ein übergeordnetes zusammenhängendes Lebensmuster gibt, werden viele Menschen getröstet. Mit Annahme der eigenen Freiheit und Verantwortung wird dieses Bezugssystem jedoch brüchig.

Sinnsysteme können aber nicht ersatzlos aufgegeben werden, also erscheint statt der Frage, warum wir leben, eher die Frage sinnvoll, wie wir leben sollten. Die Suche nach dem Sinn - ähnlich wie die Suche nach dem Glück - funktioniert nur über indirekte Wege; je mehr bewusst danach gesucht wird, umso unwahrscheinlicher ist es, fündig zu werden.

Sowohl für Sartre als auch für Camus sei es wichtig gewesen, so Yalom, dass menschliche Wesen erkennen würden, dass man seinen eigenen Sinn erfinden müsse (statt den Sinn Gottes oder der Natur zu suchen), und dass man sich völlig darauf einlassen müsse, diesen Sinn zu erfüllen. Das erfordere einen Sprung in die Verpflichtung. In dieser Hinsicht würden die meisten westlichen theologischen und ästhetischen existenziellen Systeme übereinstimmen: »Es ist gut und richtig, in den Strom des Lebens einzutauchen.«507

Als weltliche Aktivitäten, die Menschen ein Gefühl von Zweck vermitteln, führt er an den Altruismus, die Hingabe an eine Sache, Kreativität und den Hedonismus, also die Fähigkeit, über das Wunder des Lebens zu staunen und in dessen natürlichen Rhythmus einzutauchen, letztlich das Streben nach Lust.508 Des Weiteren nennt er Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz, der wir beim Soziologen Hans Joas zur Frage der Werteentstehung schon begegnet sind.

Er geht davon aus, dass Altruismus nicht ausschließlich der Befriedigung der eigenen Seele dient, etwa indem man den anderen indirekt durch Hilfe und Zuwendung wieder für sich verpflichtet, sondern dass diese Hingabe auch frei von eigenen Beweggründen möglich ist.

Zur Kreativität führt er aus, dass ein kreativer Umgang mit dem Lehren, Kochen, Spielen, Studieren, Buchhalten, Gärtnern das Leben mit etwas Wertvollem bereichere; Arbeitssituationen, die Kreativität abwürgen und uns zu Automaten machen würden, würden unabhängig von der Gehaltshöhe immer Unzufriedenheit erzeugen.

Die Selbstverwirklichung sei ein natürlicher Prozess, vielleicht sogar der grundlegende organismische Prozess im menschlichen Wesen mit


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evolutionärem Drängen nach immer erfüllterem Sein. So gäbe es eine Hierarchie innewohnender Motive: die grundlegendsten dieser Motive seien - vom Standpunkt des Überlebens aus - physiologisch. Seien diese befriedigt, wende der Mensch sich der Befriedigung höherer Bedürfnisse zu - Sicherheit, Liebe und Zugehörigkeit, Identität und Selbstwertgefühl. Wenn diesen Bedürfnissen entsprochen sei, dann wende er sich den Bedürfnissen der Selbstverwirklichung zu, die aus kognitiven Bedürfnissen - Wissen, Einsicht, Weisheit - und ästhetischen Bedürfnissen - Symmetrie, Kongruenz, Integration, Schönheit, Meditation, Kreativität, Harmonie - bestünden.509 Die im Buch nun schon häufiger angesprochenen Antreiber lassen sich also in eine Bedürfnishierarchie ordnen.

Selbsttranszendenz schließlich geht über die Konzentration auf sich selbst hinaus, hat zu tun mit dem Bezug auf andere und auf anderes. Besonders deutlich wird das in zwischenmenschlichen Beziehungen: Je mehr man sich beispielsweise in sexuellen Kontakten auf sich selbst konzentriert, desto geringer ist schließlich die Befriedigung, so Yalom. Nach Maslow würden daher selbstverwirklichte Menschen sich selbsttranszendenten Zielen widmen, etwa an groß angelegten globalen Aufgaben -wie zum Beispiel Armut oder Ökologie - oder in kleineren Bereichen am Wachstum derer arbeiten, mit denen sie zusammenleben würden.

Selbsttranszendenz hat zudem ihren Platz im Lebenszyklus: Während die Aufmerksamkeit in der Adoleszenz sowie im frühen und mittleren Erwachsenenalter sich auf das Selbst richte, das darum kämpfe, eine stabile Identität zu erreichen, intime Beziehungen herzustellen und ein Gefühl der Beherrschung professioneller Aufgaben zu erreichen, gehe man zumeist in den vierziger und fünfziger Jahren in eine Phase über, in der man Sinn in selbsttranszendenten Aufgaben finde.510

Was das nun für die ökologischen Betrachtungen heißt? Es klang schon an: Ein weiteres psychologisches Hindernis, sich mit der Umwelt-krise ernsthaft zu beschäftigen, mag darin liegen, dass wir noch mit anderen uns wichtigen Bedürfnissen beschäftigt sind oder im Lebenszyklus noch nicht an der Stelle angekommen sind, uns mit derart selbsttranszendenten Aufgaben zu befassen. Genau darin könnte jedoch die Möglichkeit einer »nachhaltigen« Sinnfindung liegen, die also nicht nur im Augenblick Gültigkeit hat. Nach Yalom ist die wichtigste Antwort auf


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die eigentliche Sinnlosigkeit des Daseins das Engagement, der »Sprung in die Verpflichtung und Handlung«, das Finden eines Zuhauses, von Ideen und Projekten, das sich kümmern um Andere, was die wenig hilfreiche Frage nach dem Sinn des Lebens ersetzen, in zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie in großen Fragen wie etwa der Umweltkrise jedoch enorm weiterhelfen kann.

Die Kluft zwischen innen und außen

Das sagt sich so leicht: »das sich kümmern um Andere«; von Nächsten-und Fernstenliebe war nun schon mehrfach die Rede. Hier deutet sich ein weiteres zentrales Problem an: Die Eigenliebe an sich fällt häufig schon schwer. Viele Menschen haben ein enormes Problem mit ihrem Selbst-bewusstsein, mit innerer Stabilität und Identität, so dass sie wenig im Sinne Gadamers mit sich selbst Freund sein können. Statt für sich zu sorgen, wird mit abhängigen Tendenzen erwartet, dass Andere - der Partner, die Eltern, die Kinder, die Vorgesetzten oder andere wichtige Bezugspersonen - für einen steten Zufluss von Anerkennung und Zuwendung sorgen.

Dies führt häufig genug zu Enttäuschungen. In Therapien wird daher oft daran gearbeitet, besser für sich selbst sorgen zu lernen. Etliche Selbsterfahrungs- und Esoterikanbieter haben hier einen großen Markt erkannt: »Finde den Guru in Dir selbst«, »Einstieg in die Quantum-Welt der Seele«, »Die Chance, mit sich selbst und seiner Tiefe in Liebe in Kontakt zu sein«, lauten gängige Seminartitel.511

Eine Verinnerlichung und Versenkung in sich selbst wird dadurch erreicht werden können, aber auch ein Sprung nach außen, in die Verpflichtung, in den Kontakt und die Fürsorge, in ein Mitdenken und Mitfühlen für den Anderen und für die Gemeinschaft? Zumindest ökologisch ist dies nicht erkennbar, ein weiteres, oben noch nicht explizit erwähntes Dilemma wird hierbei deutlich. Individualismus und Konkurrenzdenken haben hier in eine fatale Situation geführt. Schmid stellt fest, dass wir in einer Epoche gelebt haben, »in der Menschen sich vorzugsweise für die Innerlichkeit ihrer selbst interessierten und die äußere, technisch werdende Welt sich selbst überließen«. Die schon angeklungene Kritik an Psychotherapie fällt einem dabei wieder ein. Nicht einmal miteinander, so Schmid, seien die Individuen beschäftigt, sondern jeder sei es mit sich selbst.


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Das weist erneut auf die fatalen Folgen der heute instabilen sozialen Bindungen hin. »Der Autismus modernen Menschseins war ausschlaggebend dafür, dass sich die von Menschen geschaffene Technik verselbständigen konnte, ohne dass dies recht bemerkt worden wäre«,512 so Schmid weiter. Eine Kluft besteht somit zwischen dem Einzelnen und seinen Mitmenschen sowie zwischen dem Mensch an sich und einer eigendynamisch entkommenen technischen Welt. Eine Kluft besteht aber ebenso zur Natur, deren Übernutzung und Schädigung sich ebenso verselbstständigt haben, ohne dass dies recht bemerkt worden wäre.

Bei Betrachtung der aktuellen Situation kann nach Schmid aber »ökologische Klugheit« hervorgehen, wenn nicht bei der Introspektion des Selbst verharrt wird. Immer deutlicher wird also der generelle Stellenwert der Interaktion. So ist die gestörte Wechselbeziehung zwischen Mensch und Umwelt entscheidend gewesen für die problematische ökologische Entwicklung, so besteht ein ständiger Materie- und Wärmeaustausch zwischen den Menschen als offene Systeme und ihrer Umwelt, so hat die Entwicklung sozialer Beziehungen unter den Mitgliedern einer Gruppe mit zur evolutionären Hirnvergrößerung verholfen, und so sind diese Beziehungen heute noch wesentlich für die Entwicklung einer stabilen Psyche und für ökologisches Engagement.

Aus gutem Selbstvertrauen kann in zwischenmenschlichen Beziehungen wiederum Vertrauen nach außen entstehen, dessen Notwendigkeit heute im wirtschaftlichen Bereich so oft betont wird. Vertrauen ermöglicht das Äußern eigener unangenehmer Gefühle, wie etwa der Angst bei Betrachtung der globalen Situation. Vertrauen ist auch entscheidend in der Zuwendung bei Krisen und bei ärztlicher Behandlung generell. Ein ganz anderes Beispiel, wieder aus der großen Welt: ohne entstandenes Vertrauen zwischen dem früheren Außenminister Genscher und dem früheren Bundeskanzler Kohl auf der einen und dem damaligen sowjetischen Machthaber Gorbatschow auf der anderen Seite hätte es wohl auch keine deutsche Einheit geben können.513 Wohl auch deshalb sind die vielen, oft nutzlos erscheinenden Politikergipfel wohl doch nötig (wenngleich zur Problemlösung meist nicht ausreichend):


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zur Vertiefung von zwischenmenschlichen Beziehungen und zum Schaffen von Vertrauen, was dann überhaupt erst gemeinsame Beschlüsse ermöglichen kann (der Slogan »America first!« lässt daher auf eher geringes Selbstvertrauen schließen).

Die Überlegungen sollten aber nicht bei den zwischenmenschlichen Beziehungen stehen bleiben, wollen wir die Natur nicht schon wieder als Partner ausblenden, wie wir das die letzten Jahrhunderte getan haben. Die Notwendigkeit einer emotionalen Beziehung zur Natur wurde oben bereits betont. Auch ihr könnte mehr vertraut werden, was durch ein besseres (Wieder-)Kennenlernen ihrer Mechanismen sowie ihrer »Wirkungen und Nebenwirkungen« gelingen könnte. Sie ist neutral, will uns im Grunde also nichts Böses, trotz mancher Unwetter und Überschwemmungen. Wie mit anderen Partnern kann man mit ihr umgehen und auch schlechte Seiten integrieren, ohne sie schädigen oder gar zerstören zu müssen.

Auch auf persönlicher Ebene die Kluft zwischen Innen und Außen zu überwinden, vielleicht ist das die Hauptaufgabe bei Betrachtung des ökologischen Dilemmas. Mit Bewusstwerden der existenziellen Angelegenheiten, etwa der Endlichkeit, der Isolation sowie der Kluft zwischen Innen und Außen, wie sie beim Sterben am ausgeprägtesten besteht, kann ein eigener, und damit auch ein ökologischer Sinn gefunden werden. Hierfür lohnt es sich, die beschriebenen Verleugnungsmechanismen zu durchbrechen, da die weitere Unterdrückung des Schmerzes, der für die Welt gefühlt wird, einen eher isoliert, das Aussprechen und die Wendung nach außen jedoch enorme Erleichterung bewirken können.

Grenzen des existenziellen Ansatzes

Es ist schon erstaunlich: da beschäftigen wir uns hier lange mit der ökologischen Krise, ihren Folgen und Gefahren, dem evolutionären Weg dahin und den biologischen sowie psychologischen Hemmnissen ihrer Bewältigung, um dann - ganz banal, möchte man sagen - bei zwischenmenschlichen Beziehungen zu landen. Aber wenn jeder nur auf sein eigenes Wohlergehen bedacht ist, bleibt jeder auch mit seinen Problemen und Sorgen allein. Und auch Nationen und Staatenverbünde


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werden die großen Herausforderungen unserer Zeit nicht bewältigen können, solange sie nur auf ihren eigenen Vorteil achten und nicht - selbsttranszendent und mit adäquatem Selbstvertrauen - auf andere zugehen können und ihnen uneigennützig bei der Verringerung von Armut oder der Bewältigung der Folgen der ökologischen Krise helfen.

Das Finden von Werten, das Ergriffenwerden, die Auseinandersetzung mit den vier letzten Angelegenheiten sowie die Sinnfindung in der Beschäftigung mit übergeordneten Themen sind aber letztlich eine höchstindividuelle Angelegenheit. Nicht ganze Nationen oder Kulturkreise können einer existenziellen Selbsterfahrung oder Therapie unterzogen werden, so nötig gerade die westlichen Industriestaaten dies hätten.

Und das zeigt die Grenzen dieses Ansatzes auf. Während Einzelne individuell über diese Selbsterfahrung vielleicht in die Lage kommen können, sich auch ökologisch »sinnvoll« zu verhalten, indem sie insbesondere neben der eigenen Endlichkeit auch die Endlichkeit des Planeten und seiner Ressourcen anerkennen, steht dieser Weg für die breite Masse nicht ohne weiteres zur Verfügung. Zwischen guten Erkenntnissen in der Innenwelt und dem Lauf der Dinge in der Außenwelt besteht auch in dieser Hinsicht - im Sinne der beschriebenen Isolation - eine fast unüberbrückbare Kluft. Erkenntnisprozesse - etwa auch beim Lesen eines Buches oder in der Psychotherapie - sind immer zunächst individuelle und daneben auch langwierige Vorgänge, und führen nicht immer zu anhaltendem Wandel - nicht beim Einzelnen und noch weniger im Großen.

Zweifel des Psychiaters

Es mag seltsam klingen, wenn ein Psychiater als Autor dieses Buches der Möglichkeit der Änderung der menschlichen Psyche so geringe Chancen einräumt. Aber in Psychotherapien und Selbsterfahrung wird deutlich, wie schwer schon geringe Veränderungen fallen beim Versuch, Beziehungen konstruktiver zu gestalten oder Umstände anders zu bewerten und zu handhaben, oder etwa auch beim Versuch, mit der eigenen Vergangenheit Frieden zu schließen.


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Ein langer Prozess der Erkenntnisgewinnung und Selbsterfahrung ist meist dafür notwendig. Wissenschaftlich ist zudem belegt, dass es Menschen jenseits der 30 zunehmend schwer fällt, sich zu verändern - auch wenn viele das ersehnen.514 Alte und eingefahrene Gewohnheiten sind schwer zu ändern, wie schon deutlich wurde. Gerade demjenigen, der große Veränderungen anstrebt, misslingen häufig die kleinsten Korrekturen. Je stärker Menschen davon überzeugt sind, das Ruder problemlos herumreißen zu können, desto weniger gelingt es ihnen.

Bewusste psychische Veränderungen, die sich dann auch auf das Verhalten auswirken, sind möglich, aber zumeist sehr mühsam, und nur mit kleinen Schritten, realistischen Zielen, hoher Motivation sowie Intro-spektions- und Reflexionsbereitschaft. Die Eigendynamik, bei einem größeren Problem oder einer sich existenziell zuspitzenden Krise trotz aller Vorsätze wieder rasch in alte Muster zurück zu verfallen, kennen sicher viele. So ist etwa beim nächsten heftigen Streit mit dem Partner das Vorhaben, einen solchen Konflikt zukünftig »besser« austragen zu wollen, schnell vergessen. Die Chance, mit Hilfe der existenziellen Überlegungen auch mit der ökologischen Situation besser umgehen und vor allem sie besser aushalten zu können, ist aber für jeden Einzelnen grundsätzlich gegeben, auch wenn das vielleicht nicht immer konsequent durchgehalten werden kann.

* * *

Die Frage nach Werten, die von vielen Experten meist noch vor technischen und politischen Lösungen als essentiell bei der Suche nach Antworten auf die ökologische Entwicklung angesehen wird, sowie die Notwendigkeit eines nachhaltigen Krisenmanagements berühren existenzielle Angelegenheiten des Daseins. Sowohl von der Bewältigung der Todesangst als auch von der bewussten Übernahme von Verantwortung im Sinne der persön­lichen Freiheit wie auch von der Annahme der ureigensten Isolation führen Wege hin zur Frage nach der tieferen Bedeutung des persönlichen Lebens. Das Bewusstsein des Zufalls unseres Daseins, ja unserer ganzen Welt, wenn also alles genauso gut anders hätte sein können, und die Anforderung, sich innerhalb dieser zufälligen Welt selbst einen eigenen Lebensentwurf schaffen zu müssen, verschärfen die Sinnfrage.

Die lässt sich offenbar umso besser beantworten, je mehr das Streben von den eigenen Bedürfnissen weiter führt zum Bezug auf andere Menschen und zu über einen selbst hinaus reichende Themen, wie etwa die Umwelt. Wohl auch daher haben viele Experten Werte und Eigenschaften genannt, die mit zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun haben. Die existenziellen Fragen erleichtern darüber hinaus in einem ersten Schritt die Ausein­andersetzung mit der aktuellen globalen Situation und können »therapeutisch« wirksam sein gegen die dabei entstehende Frustration. So kann Lebensfreude gerade im Bewusstsein der Endlichkeit beibehalten, das »ökologische Selbstwertgefühl« durch entsprechendes Verhalten gestärkt und ein entlastendes Miteinander gelebt werden trotz gleichzeitiger Erkenntnis, dass man den Fortgang der ökologischen Krise eben nicht entscheidend aufhalten kann. Im Sinne eines realistischen Zieles muss man das auch nicht.

Die ersten Schritte gegen Resignation und Lähmung sind an dieser Stelle geschafft: die Verleugnung der ökologischen Krise ist brüchig geworden, die Autorität der Entscheidungsträger ist relativiert, dafür die Verantwortung des Einzelnen deutlich geworden, das Krisenmanagement dafür nun eingeleitet. Woher aber soll die Energie kommen, all das umzusetzen, selbst wenn manches davon schon vom Kopf her verstanden erscheint? Es wird dafür noch eine weitere Stufe der antiresignativen Betrachtung benötigt.

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