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2.1   Trügerische Hoffnungen: Lösungsansätze von Experten     Meißner-2017

Es gibt aber Leute, die inniger an den Fortschritt glauben als je ein Heiliger an Gott,
und diese werden mit Recht darauf hinweisen, dass die Hunderte von Millionen, die im kommenden
Nuklearkrieg umkommen werden, an der Beulenpest nicht hätten sterben können, denn die haben wir überwunden. 
 Erwin Chargaff, 303

 

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Die Notwendigkeit zu handeln wird - zumindest auf Expertenebene - immer mehr erkannt. Umweltjournalisten, Ökoinstitute, Naturschutzorganisationen und Wissenschaftler publizieren in diesen Jahren Bücher um Bücher mit vielen nachdenkenswerten Vorschlägen. Sie alle darzustellen würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Zentrale Aspekte und die Frage der jeweiligen Realisierbarkeit sollen aber erörtert werden.

   Der zentrale Begriff: Nachhaltigkeit  

Im Zentrum steht die Forderung, nachhaltig zu leben und zu wirtschaften, und das kann man so definieren:

Erstens dürfen nicht-erneuerbare Ressourcen, beispielsweise die Ölvorräte in der Erdkruste, nicht schneller verbraucht werden als sich erneuerbare Alternativen wie Sonnenenergie entwickeln. Zweitens dürfen Gewässer, Luft und Böden nicht dermaßen verschmutzt werden, dass sie sich nicht regenerieren können. Und drittens muss für mehr Gerechtigkeit in der Welt gesorgt werden. Solange die Kluft zwischen Arm und Reich so immens wie heute ist, wird es keine nachhaltige Entwicklung geben.(304)

Deutlich wird bei dieser Definition, dass es auch um horizontale Gerechtigkeit zwischen verschiedenen Regionen der heutigen Welt geht sowie um vertikale Gerechtigkeit zwischen den heute Lebenden und zukünftigen Generationen. Und es geht nicht nur um kosmetische Korrekturen, sondern um eine grundsätzliche Änderung der Lebensweise vor allem in den Industrieländern. Im Gegensatz zu den ersten beiden Revolutionen, der land­wirt­schaftlichen und industriellen, die sich wie von selbst (mit Eigendynamik) vollzogen haben, ist nun jedoch eine bewusste, willentliche und gezielte Umsteuerung zur Nachhaltigkeit notwendig, und dies noch dazu nicht nur für einen Teil der Menschheit, sondern möglichst global.

  Viele allgemeine Forderungen - wenige konkrete Modelle  

Anschauliche Entwürfe für eine nachhaltige Gesellschaft sind bisher jedoch Mangelware. Zumeist bleibt es bei allgemeinen Überlegungen und Appellen, was sich in Wirtschaft und Politik ändern muss. So wurden in einem Global-Marshall-Plan etwa die Implementierung einer weltweiten Ökosozialen Marktwirtschaft als Fernziel, Ideen für ein institutionelles Design für »Global Governance« und Vorschläge für Internationale Finanz­ierungs­instrumente gefordert.305 Klingt gut, heißt aber was konkret? Zumindest die für 2015 angepeilten Milleniumsziele wurden teilweise erreicht.306 Sie sind fortgeschrieben worden in den 17 Nachhaltigkeitszielen mit 169 Unterpunkten, die alle Länder in die Pflicht nehmen, aber freiwillig sind, keiner Kontrolle unterliegen und somit vage und unverbindlich bleiben.

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Etwas konkreter wird Jakob von Uexküll, Stifter des Alternativen Nobelpreises: er fordert
 - eine Energiewende mittels erneuerbarer Energien,
 - eine Agrarwende weg von der energieintensiven Landwirtschaft hin zu lokaler Produktion,
 - eine Verkehrswende mit radikalem Ausbau des Nahverkehrs und der Eisenbahn sowie
 - eine ökologische Steuerreform.(307)

An einen hypothetischen Modellentwurf herangewagt hat sich der Architekt Dirk Althaus.(308)  qwant  prof+dirk+althaus   Als wesentliche Energiequellen sieht er - wie viele andere Autoren und Wissenschaftler auch - die oben kurz skizzierte Solarthermie und die Photovoltaik, mit dezentraler Energiegewinnung. Was die Materie betrifft wird demnach Recycling die neue Wirtschaftsform, mehr also noch als schon heute. Er schlägt weiter vor, »in Zukunft der Politik jegliche laienhafte und immer parteiische Einmischung in das Wirtschaftssystem zu nehmen« und Politik allein mit dem ethnischen Zusammenhalt der Gruppen, die sie vertreten, zu beauftragen. Er nimmt an, dass sich in den unternehmerisch geführten Betrieben klassische Strukturen natürlicher Sozial­gemein­schaften bilden werden, das kreative Potenzial werde dabei erhalten und gesteigert.

Und wie wird die Gesellschaft konkret leben? Mit abnehmendem Luxus der Industrieregionen unserer fossilen Episode würden die Gruppen engen Zusammenlebens wachsen. Demnach könnten zwölf bis zwanzig Personen als »familiäre« Wirtschaftseinheit fungieren, die drei bis vier Generationen beherbergen und versorgen könnte; nur einige würden »draußen« arbeiten.

In Form von Ökodörfern gibt es so etwas schon heute. In »Sieben Linden« in Sachsen-Anhalt etwa, einem der größten alternativen Lebensprojekte Europas, leben heute 100 Erwachsene und 40 Kinder dauerhaft, hinzu kommen Jugendliche im Freiwilligen Ökologischen Jahr; schon 80 Prozent des konsumierten Gemüses und die Hälfte der Kartoffeln stammen aus Eigenproduktion; Konsensprinzip der Lebensgemeinschaft ist eine Zwei-Drittel-Demokratie.309

Auch das Ökodorf Torri Superiori in Mittelitalien, nahe dem Mittelmeer an der Grenze zu Frankreich gelegen, basiert auf dem Prinzip der Solidarökonomie:310 die drei vorhandenen Autos werden geteilt, jeder bekommt das gleiche Gehalt. 30 Menschen leben fest dort, davon zwölf Erwachsene.


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Sechs arbeiten fest im Tourismus-, Gäste- und Restaurantbetrieb, drei fest in der Landwirtschaft (von der alleine nicht zu leben wäre; im Vordergrund steht der Oliven- und Weinanbau), zwei sind Künstler, eine arbeitet als Lehrerin im traditionell geprägten Unterdorf (Torri Inferiore). Es gibt noch eine Ziegenherde, die Landwirtschaft funktioniert nach den Prinzipien der Permakultur, es gibt eine Töpferund Holzwerkstatt, Seifen werden selbst hergestellt, entsprechende Kurse können belegt und auch anderweitig Seminare abgehalten werden. An zwei Wochenenden im Jahr kommt jeweils ein Mediator, um Diskussionen zu weiteren Projektplanungen und Konflikten zu leiten.

Denkbar sind auch nachhaltig geplante Siedlungen im Rahmen bestehender Städte, wie das Modellprojekt Vauban in Freiburg oder der seit 20 Jahren bestehende »Cherbonhof« in Bamberg.311 Diese Ökosiedlung ist wie ein Dorfanger angelegt, um den sich 25 Einfamilienhäuser mit drei Einliegerwohnungen sowie 21 Mietwohnungen für Senioren gruppieren. Bei monatlichen Treffen werden wichtige Vorhaben oder gemeinsame Aktivitäten besprochen, bei größeren Problemen und Konflikten außerordentliche Versammlungen einberufen.

Aus solch kleinen Einheiten würden sich, so weiter bei Althaus, dann kleine demokratische Gemeinden zusammensetzen, die optimale Größe hierfür läge etwa bei 7.000 Personen. Diese Gemeinde sollte demnach auch ein lokales Rathaus haben und Basis größerer Strukturen auch innerhalb von Großstädten etwa sein. Staatliche Sozialhilfe gäbe es schon aus ökonomischen Gründen nicht mehr, in Not Geratenen werde in Zukunft wieder durch Nächstenliebe geholfen; für das entsprechende Sozialsystem der Nächstenliebe sei eine dann »integrale weibliche Kirche« besonders geschaffen. Die wachsende Recyclingwirtschaft bringe viel Arbeit, die dennoch nicht Eingebundenen könnten Aufgaben wie Kinderbetreuung, Altenpflege und Nutzgartenarbeit gemeinschaftlich übernehmen; die einfließenden Gehälter aus selbst- und fremdbestimmter »Arbeit« würden bei weitgehender Selbstversorgung allemal reichen. Die Medien wiederum könnten Ideen der Neugestaltung der unvermeidlich auf uns zukommenden postfossilen Epoche aufnehmen, darüber sprechen, schreiben und filmen, Ideen weiter entwickeln oder über Weiterentwicklungen berichten.


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Ökologisches Wohnen gilt also als Zukunftsrezept, erfordert aber gerade in der Stadt ein hohes Maß an Mehrarbeit, Wissen und Selbstdisziplin, etwa um ein Mülltrennsystem zu handhaben, gemeinschaftliche Pflanzen­kläranlagen zu warten oder auf Chemie in Haushalt und Garten sowie auf Autos zu verzichten. Städtebaulich gesehen werden von Sozialwissenschaftlern eine Verminderung des Flächenverbrauches mit ökologisch sinnvoller Förderung von Wohn- und Hausgemeinschaften sowie Gemeinschaftseinrichtungen empfohlen.312 Technisch erscheint eine umweltverträgliche und energiesparende Ausstattung von Gebäuden notwendig.

Es ist gut, wenn utopische Modelle ohne Denksperren entworfen und ansatzweise auch schon umgesetzt werden. Ob sie aber zur Abwendung der Krise mit der nötigen Geschwindigkeit im großen Maßstab, gar global wie jetzt eigentlich nötig, realisiert werden können, noch dazu wenn man wie Althaus der Politik eine regulierende Funktion dafür nicht mehr zugesteht, sei dahingestellt. Die vorgeschlagenen Gemeinschafts­einrichtungen greifen zwar unsere Sippen- und Stammesprägung auf, laufen aber dem hedonistischen Konsumismus und der großstädtischen Vereinzelung, die von vielen im Sinne von Autonomie und Selbstentfaltung durchaus auch gewünscht ist, zuwider und erscheinen daher nur schwer durchsetzungsfähig. Die Bedeutung der Nächstenliebe wird noch betrachtet werden, aber sie wird wohl kaum, angesichts der dargestellten biologischen und psychologischen Grundlagen, für die Tragfähigkeit eines Sozialsystems insgesamt ausreichen.

All diese Modelle und Überlegungen aber - das sei schon an dieser Stelle erwähnt - zeigen jetzt schon Chancen auf für eine Situation nach einem - wohl schmerzhaften - Veränderungsprozess, wenn es um eine tief greifende Wandlung von Lebensstrukturen geht.

Veränderungen aus dem bestehenden System heraus müssen sich jedoch zwangsläufig an den bestehenden Strukturen orientieren. Hier geben bis heute Wirtschaft, Politik und Forschung den Ton an. So fordert der früher bei der Weltbank tätige Ökonom Hermann E. Daly für eine nachhaltige Wirtschaft längere Produktzyklen, fairen Handel sowie eine Besteuerung nicht des Arbeitseinkommens, sondern des Energie-und Materiedurchflusses.313 Arbeitsplätze sollten in Wartung und Reparatur geschaffen werden.    wikipedia  Herman_Daly  *1938 in Houston bis 2022


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Lokale Ökonomie soll dabei der Schwerpunkt vor globalisierter Wirtschaft werden, dies nicht nur wegen kurzer Transportwege, sondern vor allem um Arbeitsplätze vor Ort zu sichern und damit eine Grundlage für den Zusammen­halt der lokalen Gemeinschaft zu schaffen. Dies müsste einhergehen mit einer Dezentralisierung der Entscheidungsprozesse hin zur lokalen Ebene. Denn möglich wäre durch beide Entwicklungen auch eine Stärkung der heute brüchigen sozialen Bindungen in den Familien und Gemeinden.314

Dementsprechend wird in vielen Büchern und Diskussionen betont, dass in den kommenden Jahrzehnten Politiker wie Führungskräfte der Wirtschaft die Rahmenbedingungen richtig setzen müssten, um der Menschheit eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen. Wenn es Wissenschaft und Technologie gelinge, den Menschen ein Wohlergehen zu sichern, dann sei das weit spektakulärer als der Bau von Raumfahrtstationen oder von Kolonien auf dem Mars.(315)

Manchmal stellt sich jedoch die Frage, ob die Entscheidungsträger all die vielen Bücher mit den sinnvollen Konzepten, die es mittlerweile gibt, überhaupt noch wahrnehmen können oder wollen, auch hier steigt die Entropie.

  Fragliches Vertrauen in Technik     ^^^^     

Ein Teil der von Experten zum Nachhaltigkeitsziel gemachten konkreten Vorschläge bezieht sich somit auf technische Lösungen, die schon diskutiert wurden (siehe bei den »Scheinlösungen der Energiesüchtigen«). Da wird angesichts des Klimawandels nun je nach Sichtweise mehr auf erneuerbare Energien oder auf die Renaissance der Atomenergie gesetzt, Hoffnungen auf neue Methoden zur Endlagerung von CO2 und des Atommülls werden aufrecht erhalten, Methoden des Geo-Engineerings bereits getestet. An sparsameren und andere Energiequellen nutzenden Automotoren wird nun endlich ernsthafter geforscht, die Nutzung der Sonnenenergie wird intensiviert, viele fruchtbare Initiativen sind hierzu lokal, aber auch national und international in Gang gekommen.

Aber die Begrenztheit dieses Ansatzes wurde schon erörtert: technologische Entwicklungen benötigen Zeit, müssen getestet werden, Marktreife entwickeln und erschwinglich für den Einzelnen sein.


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Reboundeffekte (etwa sparsamere Automotoren, dafür mehr Fahrten und schwerere SUVs) heben oft positive Effekte mehr als auf; zudem haben technische Neuerungen leider nur allzu häufig durch zunehmende Komplexität wieder selbst Komplikationen zur Folge, die dann neue Problemlösungen erfordern. Man denke nur an die aufwändige unterirdische CO2-Lagerung oder an Sonnenspiegel im All. Auch das Auto und das Flugzeug waren einst enorme Erleichterungen und verhalfen dazu, schneller von A nach B zu kommen. Die damals unabsehbaren Folgeprobleme haben wir jetzt. Heute wiederum gepriesene Lösungen wie Solarenergie und E-Autos benötigen selbst viele Ressourcen, die erneut möglichst kostengünstig aus ärmeren Ländern importiert bzw. dort für uns gesichert werden müssen. Die Industrieländer haben das Geld und die Macht dafür. Auch bei der Digitalisierung zeichnen sich ähnliche Effekte ab, wie oben deutlich wurde (komplex, zu viele und oft verwirrende Webseiten bzw. Information, Machtstrukturen, hoher Energieverbrauch).

Meist sind bei der Problemlösung im Sinne der betrachteten Entropie immer größere Investitionen für relativ gesehen immer kleineren Output notwendig, Komplexität und Spezialisierung machen moderne Gesellschaften anfällig, technologische Neuerungen können wie bei der Atomenergie auch missbraucht werden. Die oft geäußerte Zuversicht, dass man mit weiterem technischem Fortschritt die Probleme schon lösen werde, droht somit ins Leere zu laufen. Zumindest sollte man sich nicht darauf verlassen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer fasst das Dilemma zusammen: »Das Problem des technischen Fortschritts: er schreitet nicht fort«.316

Gemeinwohl- und Postwachstumsökonomie sowie Ökoroutine      ^^^^  

Wie zudem schon aus der Definition zur Nachhaltigkeit hervorgeht, werden eventuelle technische Innovationen nicht fruchten, wenn sich nicht auch andere Aspekte unseres Daseins ändern. So müssten neue Wege des Wirt­schaftens eingeschlagen werden, die mehr beinhalten als nur ein »grünes Mäntelchen«317 ohne grundsätzliche Änderungen. Zwei ökonomische Konzepte erscheinen dem Laien (zu denen der Autor sich zählt) diskussions­würdig, nämlich die Gemeinwohl- und die Postwachstumsökonomie.


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Der bekannteste Vertreter der Gemeinwohlökonomie, Christian Felber, verweist auf die Formulierungen im Grundgesetz, dass »Eigentum verpflichtet« und sein »Gebrauch (...) zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen« soll.318 Unternehmen unabhängig von ihrer Größe erstellen bei diesem Ansatz eine sogenannte Gemeinwohlbilanz, dabei werden Faktoren wie ökologische Nachhaltigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz berücksichtigt. Vorgeschlagen wird als Anreiz etwa ein niedrigerer Mehrwertsteuersatz für Unternehmen mit guter Gemeinwohlbilanz, oder auch ein Vorrang beim öffentlichen Einkauf und bei der Auftragsvergabe. Bereits über 1600, wenngleich überwiegend nur kleine, Unternehmen im deutschsprachigen Raum legen bereits entsprechende Bilanzen vor, darunter auch die Sparda Bank München und der Bergsport­ausrüstungshersteller Vaude.

Kritiker dieses Konzepts weisen unter anderem darauf hin, dass die darin geforderten vielen Gremien der andererseits von Felber geforderten direktdemokratischen Kontrolle entgleiten könnten, schon allein durch die dann wohl notwendigen vielen Sitzungszeiten dieser Gremien. Auch würden Assoziationen zu Planwirtschaft und Rätesystem geweckt, sein Demokratiemodell trage den Keim einer neuen Kommandowirtschaft in sich.319

Nun gut, Vorgaben von oben wird es immer geben, auch geben müssen, gerade wenn es um gesellschaftliches Gemeinwohl geht. Aber auch der Wirtschaftswissenschaftler Niko Paech, wie Felber aktiv bei attac und Vertreter des anderen Modells, der Postwachstumsökonomie, übt Kritik:

Die Idee der Gemeinwohlökonomie läuft gerade nicht auf einen Systemwandel hinaus, ist bestenfalls wirkungslos und kann sogar kontraproduktiv sein, wo sie vom eigentlichen Problem ablenkt, indem sie bequeme Lösungen suggeriert. Erstens beruht diese Konstruktion auf einer widersprüchlichen, unterkomplexen und sehr populistischen Situationsanalyse. Zweitens lenkt sie von Eigenverantwortung, insbesondere von der

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Rolle maßloser Konsumkulturen ab, indem sie einseitig darauf fokussiert, Unternehmen durch einen Wertewandel läutern zu wollen. Drittens befördert sie die Logik des grünen Wachstums, indem sie auf einen techno­logischen Reparaturmechanismus setzt, der das Industriesystem nun gemeinwohlorientierter werden lassen soll. Viertens bilden Gemeinwohlbilanzen den Gipfel dessen, was landläufig unter Greenwashing verstanden wird, indem hier die unterschiedlichsten Kategorien vermeintlich Wohlergehen fördernder Faktoren willkürlich nebeneinander gestellt, mit Punkten versehen und schließlich wie Äpfel und Birnen zusammen­gerechnet werden. Auf diese Weise kann sich jedes Unternehmen bequem mit Gemeinwohlpunkten ausstatten.320

Was also schlägt Niko Paech vor? Er fordert eine Abkehr von der Wachstumsideologie. Kurz soll der Hintergrund dazu beleuchtet werden. Es geht in erster Linie um das meist noch an erster Stelle stehende Ziel von immer noch mehr Wirtschaftswachstum, das abgelöst werden müsste von Überlegungen hin zu einer qualitativen und umweltgerechten Entwicklung.321 Immer mehr und immer schneller - wir haben gesehen, wohin das führt. Konsum und Müllentsorgung, Behandlung von Verletzten, Reparaturen der Folgen des früheren Wohlstandsgewinns (wenn es denn einer war322) und vieles mehr, all dies trägt stets zum Bruttosozialprodukt bei. Der Verbrauch des ökologischen Kapitals jedoch wird dabei kaum abgebildet. Flächen dürfen durch Industrie, Straßen und Flughäfen verbaut, Abgase erzeugt, Böden und Wasser verschmutzt werden, ohne dass dies in unsere Wirtschafts­rechnung mit einfließen würde. Jeremy Rifkin meint dazu:

Wenn wir weiterhin unsere Hoffnung in die bestehende Ordnung setzen, werden wir eines Tages verzweifeln, nämlich, wenn wir erkennen, dass wir unsere Zukunftschancen ver-passt haben. Warum aber sollten wir eigentlich unser Vertrauen in eine noch komplexere Technologie und ein noch fragwürdigeres Wirtschaftswachstum setzen, wenn dadurch nur unsere Zukunft als Spezies in Frage gestellt wird?323


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Die Entwicklungen der letzten Jahre deuten an, dass sich das Problem zumindest teilweise von selbst lösen könnte. Die wirtschaftlichen Wachstumsraten in den Industrieländern sind in den letzten Jahren immer geringer geworden. Während das jährliche Wirtschaftswachstum der G7-Staaten (USA, Kanada, Deutschland, Italien, Frankreich, Großbritannien, Japan) in den 60er-Jahren noch 5,1 Prozent im Durchschnitt betragen hatte, ist es in den Jahr­zehnten danach über 3,3 Prozent, 3,2 Prozent und 2,6 Prozent schließlich auf 1,3 Prozent in den Nullerjahren abgesunken.324

Auch ist teilweise bereits Konsumsättigung erreicht. Mehrere Bildschirme im Wohnzimmer, drei Deosprays im Bad und zwei Autos vor der Tür - irgendwann ist es dann auch einmal genug. So bleibt der Wirtschaft nur, ständig neue Bedürfnisse zu wecken und dafür neue Produkte auf den Markt zu werfen, selbst geringfügige Weiterentwicklungen in immer kürzeren Abständen als große Innovation zu verkaufen und die Haltbarkeit der Produkte zu verringern, um den Konsum am Laufen zu halten und für Wachstum zu sorgen.

Das aber sollten wir besser hinter uns lassen. Denn hinter all den neuen Produkten oder auch zu zahlenden Zinsen stecken Rohstoffe, Material und Energie, die dafür verbraucht werden. Insgesamt, und jetzt sind wir bei Niko Paech, wird weiteres Wachstum absehbar an Ressourcenengpässen scheitern, zudem nicht per se die global ungerechte Güterverteilung verringern, auch kann es nach Erreichen eines bestimmten Wohlstandsniveaus für keine Glücks­gefühle mehr sorgen, und schließlich ist es nie ohne ökologische Schäden zu haben.325 So war Wirtschaftswachstum bisher eng korreliert mit einem Anstieg der Treibhausgase, wie wir schon gesehen haben.326 Das gilt letztlich auch für eine häufig geforderte »green economy«, die ebenso nicht zum ökologischen Nulltarif zu haben ist, so Paech:

Grünes Wirtschaftswachstum setzt die Herstellung zusätzlicher Gütermengen voraus, deren Produktion, physischer Transfer, Nutzung und Entsorgung keine Flächen-, Materie-und Energieverbräuche verursachen dürfte. Alle bisher erson-nenen und erprobten Green-Growth-Lösungen verfehlen diese Eigenschaft allzu offenkundig; ganz gleich, ob es sich dabei um

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Passivhäuser, Elektromobile, Ökotextilien, Photovoltaikanlagen, Bionahrungsmittel, Offshoreanlagen, Blockheizkraftwerke, smart grids, solarthermische Heizungen, Cradle-to-cradle-T-Shirts, Carsharing, digitale Services etc. handelt. Nichts von alldem kommt ohne physischen Aufwand, neue Produktionskapazitäten, hochgradig materielle Infrastrukturen und Transporte aus (Kursivsetzungen so im Original; A. M.).327

Diese neuen Strukturen ersetzen nicht notwendigerweise die vorherigen, sondern kommen - mindestens teilweise - zusätzlich hinzu. Es dürfte, so Paech, auch nicht einfach sein, alte Industrien, Immobilienkomplexe und Infra­strukturen ökologisch neutral zu entsorgen. Und neue Strukturen wie großflächige Photovoltaikanlagen und moderne Windräder zerstören Landschaftsstrukturen, der Abbau dafür nötiger Rohstoffe führt ebenso zu Umwelt­schäden (so entsteht z. B. in China bei der Produktion von Neodym für Windrad-Permanentmagneten das hochradioaktive Thorium).

Es lohnt sich also, Postwachstumsszenarien anzusehen. In Orientierung an Niko Paech sollen zumindest kurz die Grundgedanken skizziert werden. Er verweist auf eine Dämpfung von Konsum- und Mobilitäts-ansprüchen (Genüg­samkeit, Entschleunigung, Sesshaftigkeit), und auf kleinräumige, graduell sogar deindustrialisierte Produktionssysteme (Subsistenz, Regionalökonomie, Restindustrien mit kürzeren Wertschöpfungsketten) .

Subsistenz bedeutet vor allem Selbstversorgung, die möglich wird bei geringerer Lohnerwerbstätigkeit und dafür verstärkter Eigenproduktion, eigenständigen Reparaturen und die gemeinschaftliche Nutzung von Gebrauchs­gütern (Sharing). Die Langlebigkeit von Gegenständen stünde dabei im Vordergrund, weshalb Industrie und Handel zumindest teilweise wegkommen müssten von Produktion und Verkauf hin zu Qualitäts­steigerung, Auf- und Umwertung von Produkten und guter Beratung von Kunden hinsichtlich Wartung und Reparatur. Das könnte wiederum die Kundenbindung erhöhen. Durch geringeren Bedarf an neuer Produktion würde wiederum weniger Einkommen zum Konsum benötigt, dadurch dann auch weniger Arbeitszeit, was die zeitlichen Spielräume freisetzen würde, um die moderne Existenz als sogenannter »Prosument« (Produzent + Konsument) zu gestalten.328


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Als gern gewollter Nebeneffekt könnte dabei auch eine psychische Entlastung vom geschilderten Hamsterrad entstehen, zudem wäre wieder eine Sinnhaftigkeit spürbar. So wären das Wirtschaften und Leben in der Post­wachs­tumsökonomie zwar von materieller Genügsamkeit und Sess-haftigkeit (»Glück ohne Kerosin«) geprägt, aber eben auch krisensicherer, verantwortbar und vor allem stressfreier, so Paech.

Das Konzept erscheint von all den gegenwärtig diskutierten ökonomischen Alternativen das schlüssigste zu sein (subjektive Bewertung des laienhaften Autors). Warum aber ist auch dieses nur ein fraglicher Ausweg aus der Krise? Es beschreibt ein im Moment nur schwer erreichbares Szenario. Niko Paech sieht selbst, dass es bisher keine gesellschaftlichen und politischen Mehrheiten dafür gibt. Selbst die Partei der Grünen diskutiert diese Ideen kaum. Einzig die kleine ÖDP führt wenigstens Veranstaltungen dazu durch. Nüchtern lässt sich also mit seinen Worten feststellen:

Natürlich würden die Entscheidungsträger in den Parlamenten politischen Selbstmord begehen, wenn sie über Schritte in Richtung Postwachstumsökonomie auch nur laut nachdenken würden. Deshalb bildet die dezentrale und autonome Entwicklung vieler Rettungsboote die weitaus realistischere Strategie. Mit den hierzu nötigen Übungsprogrammen könnten Unternehmen und Konsumenten bereits jetzt beginnen, nicht zuletzt auch im Sinne eines wohlverstandenen Selbstschutzes, um überlebensfähiger angesichts multipler Kollapsrisiken zu werden.(329)

Von daher lohnt es sich, den Blick auf einen weiteren Ansatz zu richten, der nicht gleich eine Revolution erfordert, sondern schon jetzt durch ordnungspolitische Maßnahmen, ausgehend vom Bestehenden, einen Wandel einleiten könnte. Eine solche »Ökoroutine»«, meint der Sozialwissenschaftler Michael Kopatz, ließe sich durch entsprechende Standards und Limits fördern, ohne bevormunden oder ständig moralisch mahnen zu müssen.330 So wie an das Anschnallen im Auto oder die wegfallende Nikotinbelästigung in Gaststätten könnten wir uns auch an Tempolimits, deutlich niedrigeren CO2-Ausstoß von Autos oder weniger Werbung gewöhnen.


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 Die meisten Vorschläge würden nicht etwa Reiche begünstigen, sondern wären solidarisch. Jedes Auto, egal ob Fiat oder Porsche, müsste sich dann in Städten an Tempo 30 halten. Kopatz schlägt unter anderem weiter vor:

  • • kein Neubau mehr von Straßen und Flughäfen,

  • • Umwandlung von Parkplätzen in Grünflächen,

  • • Erhöhung von Dieselsteuer und Maut, Besteuerung von Kerosin,

  • • Tiertransporte über maximal 12 Stunden (statt derzeit 29 Stunden),

  • • Keine Genehmigungen von weiteren Großschlachthöfen und Megaställen,

  • • 15 Jahre Garantie auf Kühlschränke und andere Geräte,

  • • Freihandelsabkommen mit ökofairem Rahmen,

  • • Besteuerung von Finanztransaktionen.

Gerade angesichts der Widersprüchlichkeit des Menschen könnte es gut sein, durch solche Regeln zu dem Handeln gedrängt zu werden, das man sonst oft nicht durchhält. Manchmal muss man ein bisschen zu seinem Glück gezwungen werden, wie etwa bei genannter Pflicht zum Gurt-Anschnallen, die anfänglich Widerstand hervorrief, heute aber automatische Gewohnheit ist und zu einem deutlichen Rückgang an Unfalltoten auf deutschen Straßen geführt hat. Auch haben wir gar nicht mitbekommen, dass viele Geräte aufgrund entsprechender Vorgaben im Stand-by-Betrieb kaum noch Strom benötigen. Wie man daran sieht, zieht bei entsprechend klaren Rahmenbedingungen auch die Industrie mit. Über zehn Jahre immer wieder verschärfte Wärmeverordnungen für Häuser und das Erneuerbare-Energien-Gesetz haben ebenso schon viel bewirkt. Allerdings stagniert die Reduktion des Kohlendioxidausstoßes in Deutschland trotzdem seit 2008. Es liegt auch, so Kopatz, an der menschlichen Neigung zu Expansion. Man sieht dies etwa an immer größer werdenden Wohnflächen pro Person, an größeren Autos, Fernsehern und Kühlschränken.

Eine zielgerichtete und eindeutige Ordnungspolitik im Sinne der Vorschläge von Kopatz könnte, so scheint es, den Weg bereiten hin zu Postwachstums-Lebensstilen von Niko Paech, die langfristig wohl unvermeidbar sind.


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Was aber die politische Umsetzbarkeit all dieser Vorschläge angeht, die zunächst freiheitsbeschränkend erscheinen mögen, letztlich aber einen hohen Zuwachs an Lebensqualität bringen würden, werden diese Themen abhängig von der gerade herrschenden Regierung sowie von anderen sich in den Vordergrund drängenden Krisen oft nur vorübergehend oder nur zaghaft angegangen, somit nicht konsequent genug.

Fragliches Vertrauen in Politik und Demokratie           ^^^^  

Damit sind wir bei den Entscheidungsträgern angekommen, die doch eigentlich einen Systemwechsel steuern können sollten (so sie ihn überhaupt wollen), gleichzeitig wurde aber auch das Dilemma zwischen bot-tom-up- und top-down-Prozessen deutlich. Wird das Handeln vieler Einzelner hoffentlich oben etwas bewirken, oder verändern dort getroffene Entscheidungen die Gesellschaft unten? Wenngleich den Schlussfolgerungen Paechs im obigen Zitat gut gefolgt werden kann, sollte die Politik doch nicht allzu einfach aus der Verantwortung entlassen werden. Schließlich hat sie auch schon früher bei Umweltproblemen Verbesserungen bewirkt. Man denke nur an die vergifteten Flüsse, die Luftverschmutzung, das Ozonloch oder den Atomausstieg nach Fukushima. Gesetze zu bleifreiem Benzin, zu Filteranlagen in der Industrie oder zu Ökosteuer und erneuerbaren Energien haben durchaus etwas bewirkt, wenngleich sie häufig erst aufgrund öffentlichen Drucks beschlossen wurden.

Teilweise schien ja die CDU-Kanzlerin bereits die Grünen in Sachen Klimapolitik überholt zu haben (schon als Umweltministerin hatte sie 1996 in der EU entscheidend auf die Einführung des Zwei-Grad-Zieles gedrängt331)- bis sie dann doch wieder vor der Auto- und Atomlobby einknickte und zudem den Bau neuer Kohlekraftwerke zuließ.

Obwohl es auf nationaler und internationaler Ebene schon eine Vielzahl politischer Nachhaltigkeitsprogramme gibt, sind deren Erfolge bisher gering. Um Motivationsprobleme bei Bürgern und Politikern, Rebound-Effekte, Verlagerungs­effekte sowie Ziel- und Vollzugsschwäche zu überwinden, aber auch Freiheitsaspekte optimal zu berücksichtigen sieht der Rechtsphilosoph Felix Ekardt332 die strukturell beste Antwort in einem Mengen­steuerungsmodell über Zertifikatmärkte oder über abgabenbasierte Preise.


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Je mehr Ressourcenverbrauch und Treibhausgase jemand verantwortet, umso mehr ist zu zahlen, nur über dieses Verursacherprinzip und den Geldbeutel sind umweltpolitisch Veränderungen denkbar. Diese Maßnahmen wären ergänzend zu denen, die Kopatz vorschlägt, denkbar.

Zudem aber ist heute in all diesen Fragen eine internationale Zusammenarbeit notwendig, für die aber, neben eventuell nötigem höherem Leidensdruck, wohl ebenso günstige Voraussetzungen vorliegen müssten wie bei der zwischen­menschlichen Kooperation. Wenngleich die Beschlüsse des Pariser Klimagipfels 2015 hier Hoffnung machten, beginnt deren Umsetzung schon wieder zögerlich zu werden, bedingt auch durch andere Themen, die sich dazwischen schieben. Durch die gerade in den westlichen Ländern grassierende Suche nach einfachen Antworten sowie die Angst vor Einschnitten kommen zudem nun entsprechende Simplifizierer an die Macht, die nur wenig konstruktiv kooperieren (vielleicht ist Trump so gesehen schon eine gesellschaftliche und politische Folge der Ökokrise?). Sie können ihr Veto einbringen, was die Entscheidungsprozesse noch zäher macht als sie auf den großen Ebenen sowieso schon sind. So drohen EU, wie auch die Vereinten Nationen, handlungsunfähig zu werden, viele internationale Krisen der letzten Jahre haben sie eher schwach aussehen lassen. Auch wird vielfach ein erhebliches Demokratiedefizit mit geringen Mitsprachemöglichkeiten des Volkes kritisiert, was es diesem schwer macht, die Beschlüsse von oben anzunehmen.

Schließlich ist noch auf die leider oft erfolgreiche Lobbyarbeit von Konzernen hinzuweisen, die wesentlich die internationale Politik mittlerweile zu bestimmen scheinen, es wurde oben schon deutlich. So meint Janez Potocnik, EU-Umweltkommissar von 2010 bis 2014, dass Lobby-Interessen eben oft stärker seien als das Streben nach einer umweltgerechten Wirtschaft.333 Das Scheitern des Klimagipfels 2009 in Kopenhagen hatte auch schon an der Glaubwürdigkeit der EU zweifeln lassen. Die Organisation Climate Action Tracker schätzt aktuell, dass sie weder das ursprüngliche Ziel, die Treibhausgase bis 2030 um 40 Prozent zu senken, schaffen werde, noch die weniger ehrgeizigen Ziele von Paris.


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Politiker selbst wiederum sind auch nur Menschen mit ihren Bedürfnissen nach Sicherheit und Macht (siehe Abb. 2 im Kapitel zur Evolution), kurzfristig agierend und beschäftigt mit Eigeninteressen, dem Vorankommen, der materiellen Absicherung und Karriereplanung. Ihr Einfluss wird gemeinhin überschätzt. Der Psychologe Rainer Dollase stellt dazu etwas resigniert fest:

Der Politik sind längst die Steuerungsmittel ausgegangen, sie ist nicht mehr in der Lage, Wesentliches zu erreichen. Sie hat ihren Steuerungsapparat in die Immobilität gesteuert, ihr einziger Output ist Software, ist Papier, sind Erlasse, deren Einhaltung sie noch nicht einmal wirksam kontrollieren kann, weil ihr die Personalkosten für die Kontrolleure aus dem Ruder gelaufen sind.334

Dementsprechend nimmt die Politik- und Poltitikerverdrossenheit zu; nur zehn Prozent der Deutschen halten ihre Politiker für vertrauenswürdig (die gleichfalls kurzfristig mit Blick auf die Vierteljahresbilanz handelnden Manager von Großkonzernen liegen da mit 15 Prozent auch nicht viel besser335). Mehr als politische Entscheidungen oder technische Fortschritte werden daher den Klimawandel wohl eher weitere Wirtschaftskrisen bremsen, die an sich wiederum nicht wünschenswert sind, da dadurch viele Menschen in Not geraten.336

Ganz ohne Politiker, so sehr sich das einzelne Zukunftsdenker wünschen mögen, wird es aber nicht gehen. Herrschaft und Macht sind Elemente menschlicher Evolution, große Gemeinwesen werden weiterhin lenkende Institut­ionen benötigen, um nicht in anarchisches Chaos zu zerfallen. Und das Gegenteil, der Traum von einer Ökodiktatur, einem »letzten Retter« sozusagen, »entspringt einer pubertären Gedankenwelt«, so der Umwelt­journalist Wolfgang Roth.337 Dennoch muss man auch über Grenzen demokratischer Möglichkeiten sprechen dürfen, ohne gleich in die Ökofaschismus-Ecke gestellt zu werden. Denn deutlich wird, dass eine demokratische Mehrheit seit Jahrzehnten entscheidet, weiter umweltschädlich leben zu wollen, dies trotz aller Aufklärung und umweltpsychologischer Ansätze. Dementsprechend wird zumindest gewählt.

Politische Vorgaben zu einer Ökoroutine wie oben aufgelistet würden sich, so meint auch der sie vorschlagende Michael Kopatz, freilich nur


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ins Werk setzen lassen, wenn die Wählerinnen und Wähler sie mittragen würden. Die zurückliegenden Erfahrungen würden zeigen, dass Ökoroutine uns in der alltäglichen Lebensführung entlaste. Ob das noch so gesehen wird, wenn es an des Deutschen liebstes Kind geht, nämlich ans Auto oder an Flugreisen, scheint allerdings eher fraglich.

Weder die Bürger noch meist die Politiker durchschauen zudem noch die Komplexität der Probleme. Mehr Zeit für deren Diskussion wäre daher nötig, auch im Parlament, das Gegenteil ist aber eher der Fall. Gesetzesvorlagen werden von Abgeordneten vor Abstimmungen häufig nicht oder nur in geringem Maße gelesen. Es mag zynisch klingen, aber derzeit profitiert das Weltklima mehr von autoritär geführten Nationen wie China, das seinen CO2-Ausstoß mittlerweile gebremst hat.338

Die Frage ist auch, ob Politik noch in der Lage ist, Entscheidungen gegen mächtige Widerstände (auch gegen schon erwähnte Lobbygruppen) zu treffen. Bei der Abschaltung der Kernkraftwerke war dies durchaus der Fall, offenbar wog hier die Sorge vor dem Verlust von Wählerstimmen stärker. Beispiele früherer Zeiten wären die Abschaffung von Kinderarbeit und Sklaverei, die Erkämpfung von Bürgerrechten in den USA oder auch Entscheidungen zur Stärkung von Minderheiten. Harald Welzer weist darauf hin, dass Modernisierung immer das Resultat eines mühsam erkämpften Abbaus von Privilegien ist.339 Heute scheint aber eher die Sicherung von Privilegien politisch vorrangig zu sein, und da spiegeln die Politiker wiederum nur ihre Wähler wieder, denn die am meisten Privilegierten sind wir selbst, die Bewohner der Industriestaaten, die weiter einen hohen Pro-Kopf-Verbrauch an Gütern und Energie haben dürfen (und somit auch eine gewisse Lobby darstellen). So kommt es in der Vermeidung schmerzhafter Entscheidungen zu ungünstiger Komplizenschaft zwischen Politikern und ihren Wählern, kurz war davon bei der psychiatrischen Betrachtung der Ökokrise schon die Rede.

Um Unruhe zu vermeiden, werden tiefere Ursachen gerne verschwiegen, werden die Krisen in Äußerungen von Politikern gerne heruntergespielt, oder es wird die Illusion genährt, alles im Griff zu haben oder Lösungen zu finden. Beliebt sind auch Schuldzuweisungen an andere, die dann gerne aufgegriffen werden.

So wird auf korrupte Diktatoren in afrikanischen Ländern gezeigt (die es natürlich gibt), von Wirtschaftsflüchtlingen gesprochen (was fraglich erscheint, denn wer verlässt schon


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gerne auf gefährlichen Wegen seine Heimat?) oder es werden Sturm und Dürre als Einzelereignis bezeichnet (was zunächst stimmt, aber in zunehmender Häufung langfristige Trends ergibt).

Dass wir diese Diktatoren mindestens indirekt unterstützen und die Märkte dort ausbeuten (etwa billiges Fleisch und Obst dorthin exportieren und eigene Landwirtschaft dort erschweren) und damit Veränderungen in diesen Ländern blockieren sowie Flüchtlingsbewegungen begünstigen, wird von den Politikern dann gerne verschwiegen.

Aber trotz all dieser Einwände, es bleibt letztlich nur die Demokratie, wenn wir sinnvollerweise an unseren Freiheitswerten festhalten wollen. Von unten her sind entsprechende Veränderungen durchaus möglich. So könnten viele Bürger einer Kommune Druck in Richtung nachhaltiges Wirtschaften ausüben, von dort könnte es dann über Landesregierung und Bundesregierung weiter gehen. Bestenfalls könnten Entscheidungen vor Ort getroffen werden, das Modell von Althaus (wie andere auch) hat dies aufgegriffen. Kleine Erfolge beim Weg nach oben gibt es dabei durchaus, wie man beispielsweise an Regelungen zu Plastiktüten und Coffee-to-go-Bechern sieht oder an mancher Verhinderung fragwürdiger Projekte.

Es ist ein mühsamer, zäher und vor allem langsamer Weg, politisch etwas zu verändern, aber wohl - neben sinnvollem Kreuzchen setzen bei den Wahlen - der einzige. Gerade die großen Volksparteien aber, die realistischer­weise entscheidende Hebel in Bewegung setzen könnten, werden derzeit bei den Wahlen gestutzt, während kleinere Parteien, die nur Interessen einzelner Bevölkerungsgruppen vertreten und kaum unpopuläre Maßnahmen treffen, zulegen. Denn ökologisches Umsteuern, das auch viele finanzielle Ressourcen erfordert, muss politisch durchsetzbar sein. Es ist dabei auf ein verbreitetes ökologisches Bewusstsein über die Notwendigkeit solcher Maßnahmen angewiesen, da Strategien von oben immer in einem bestimmten Maße mit Zwang und Reglementierung arbeiten. Und auf beiden Seiten - der Politiker und ihrer Wähler - ist ökologisches Durchhalte­vermögen nötig, um sich nicht schon nach ersten Maßnahmen zu früh zufrieden zu geben. Solches ist derzeit aber kaum gegeben.

Parteien, aus denen unsere Politiker stammen, die grundsätzlich entscheiden oder in der Opposition Druck ausüben könnten, oder entspre-


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chende Organisationen und Naturschutzverbände jedoch sind nur dann handlungsfähig, wenn sie auch aus der Gesellschaft heraus unterstützt werden.

So sehr einerseits diverse engagierte Initiativen nun - oft projektbezogen - Zulauf erhalten, so sehr wiederum nimmt das Interesse an aktiver Mitarbeit in der Politik ab. Über 80 Prozent der Bevölkerung haben kein Interesse an einem parteipolitischen Engagement.340 Bei der SPD haben sich die Mitgliederzahlen seit 1995 nahezu halbiert mit einem Rückgang von 831.000 auf 445.534 Mitglieder bis Ende 2015, bei der CDU vollzog sich ein Schwund von ca. 790.000 Mitgliedern 1990 auf 446.859 bis Ende 2015.(341)

Die Partei der Grünen wiederum, die am ehesten ökologische Gesichtspunkte in den Vordergrund ihrer Politik stellt (auch wenn sich das in den letzten Jahren eher abgeschwächt hat), dümpelt seit langem bei einem Anteil von zehn Prozent der Wählerstimmen herum. Die Politikverdrossenheit ist auch bei ihnen mittlerweile angekommen, woran immer es auch liegt.342 Da gibt es Verdruss über die Gremienarbeit, die schwierige Kompromisssuche oder mangelnde Durchsetzungsmöglichkeiten. Die Gewerkschaften wiederum, auf die man ja auch hoffen könnte, sind ähnlich starr und eher mit Bestandsabsicherung beschäftigt, sie kämpfen um höhere Gehälter und fordern damit auch einen Ausgleich für die Inflation, die ja zuletzt vor allem durch höhere Energie- und Lebensmittelpreise gestiegen ist, äußern sich aber kaum zu Umweltfragen.

Soziale Bewegungen, Organisationen und Netzwerke        ^^^^  

Notwendig sind daher »neue starke soziale Bewegungen«,343 die eine positive Vision unterstützen. Ansätze sind zu erkennen. Immer mehr Organisationen üben Druck auf Politiker und Regierungen aus, Nicht-Regierungs-Institutionen erhalten bei internationalen Konferenzen wie etwa den Klimagipfeln, der Wirtschaftstagung in Davos oder dem G7-Gipfel zunehmend Gehör. Durch internationale Vernetzung, Sachkompetenz und rasche Reaktionen auf aktuelle Umweltfragen oder eingetretene Schäden haben sie mehr Bedeutung erlangt. Von der »Weltmacht Weltbürger« bzw. der »Generation Global« ist daher gerne die Rede.344


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Außerparlamentarische Bewegungen auch im Umweltbereich gibt es jedoch schon seit Jahrzehnten, ohne dass sich, von einzelnen Fortschritten abgesehen, entscheidend etwas am selbst-zerstörerischen Verhalten der Menschheit insbesondere in den westlichen Industrieländern geändert hätte. Die in Folge des Umweltgipfels von Rio 1992 gegründeten Agenda-21-Büros etwa fristen meist ein Schattendasein und sind nicht zu der Massen­bewegung geworden, die notwendig gewesen wäre.

Vielversprechend hat sich als Folge davon die Transition-Town-Bewegung entwickelt, beginnend 2008 in England, mit mittlerweile über 1300 Gruppen in der ganzen Welt. Die Idee dabei ist, vor dem Hintergrund von Klima­wandel und Ressourcenschwund die Kommunen resilient, also Widerstands- und anpassungsfähig zu machen für die anstehenden Veränderungen. Dies knüpft auch an Gedanken der Postwachstumsökonomie an. So werden Repair-Cafes und Tauschbörsen durchgeführt, Lokalwährungen zur Förderung der Wirtschaft vor Ort installiert sowie Energiegenossenschaften gegründet. Das Handeln in Gemeinschaft wird von Teilnehmern oft sehr positiv erlebt, auch empfundene Selbstwirksamkeit spielt dabei eine Rolle. Darüber hinaus gibt es heute in vielen Städten Gruppen zu Urban Gardening, Solidarischer Landwirtschaft oder für fossilfreie Lebensstile, plastikfreie Läden machen auf.

Aber ein durchgreifender Stimmungsumschwung in der Gesellschaft ist weiter nicht zu erkennen. Solange Treibhausgasemissionen, Flächenverbrauch und Konsum ungebremst bleiben, bleiben diese Initiativen ein Tropfen auf dem heißen Stein, was die Option der Abwendung der ökologischen Krise angeht. Als »Reallabore« zum Einüben zukünftig notwendiger Fertigkeiten im Sinne des obigen Zitats von Niko Paech sind sie allerdings sehr wertvoll.

Die regierungskritischen Organisationen wiederum stehen zudem selbst in Konkurrenz zueinander, letztlich werben sie alle um das gleiche kleine Segment engagierter Bürger, die Spendenanteile sind hart umkämpft, teilweise besteht bereits eine die Unabhängigkeit wieder gefährdende Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung. Und ihr Potenzial, die Bürger zu beeinflussen, greife nur, wenn die Menschen freiwillig dem Aufruf zum Handeln folgen würden, so der Konfliktforscher Harald Müller.345 Die Rolle des Einzelnen wird also noch näher zu betrachten sein.


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Längst hat sich zudem, zugespitzt, eine sich selbst erhaltende »hochdotierte Nachhaltigkeits-Schickeria»346 entwickelt mit Job- und Karrieremöglichkeiten, Forschung und Meetings, zudem Flugreisen zu Konferenzen rund um den Globus. Sie trägt so eher zur Verschärfung der Probleme bei, die zu lösen sie vorgibt, und stellt zudem das Gegenteil zukunftsfähiger Lebensstile dar. Die Publikationsliste so mancher Nachhaltigkeitsforscher nimmt stolze Ausmaße an und lässt eher auf das Bedürfnis nach persönlichem Weiterkommen schließen. Auch besteht die Gefahr, dass immer mehr Organisationen gegründet werden, die wieder Verwaltung und Infrastruktur sowie Termine und Treffen benötigen, ohne dass damit viel für Nachhaltigkeit gewonnen ist. Vielmehr wird die Koordination dieser Gruppen immer schwieriger (wofür dann wieder übergeordnete Institutionen zu schaffen sind).

Hoffnung auf Netzwerke schließlich besteht auch, da man sich eine Allverbundenheit davon erhofft. Schnell werden da Begriffe wie die Chaostheorie in die Diskussion geworfen: die Idee vom Schmetterling, der mit einem Flügelschlag »hier« enorme Wirkungen »dort«, an weit entfernter Stelle, verursachen kann. So kann man lesen, dass schließlich durch immer mehr Menschen, die engagiert an Initiativen teilnehmen würden, eine kritische Masse erreicht werden könnte, die plötzlich Änderungen bewirke - dass nämlich, wenn eine bestimmte kritische Masse ein neues Bewusstsein erreicht habe, dann dieses Bewusstsein quasi telepathisch weitervermittelt werde:347 »Vielleicht ist es gerade Dein Anteil, das ökologische Bewusstsein an die Allgemeinheit weiterzugeben«, schließlich sei außersinnliche Wahrnehmung möglich, die sogar verstärkt werden könne bis zu einem derart hohen Energielevel, dass es an andere, bisher nicht zugehörige Personen weiter gegeben werden könne.

Da landet man schnell im nebulös-esoterischen Bereich. Es ist heute vielmehr das Erreichen eines kritischen Punktes, etwa beim Klimawandel oder bei der Ölförderung, zu befürchten, wodurch plötzlich ungeahnte Effekte und Konflikte zutage treten könnten. Und die Chaostheorie wirkt auch in der anderen Richtung. So ist es gerade eine besondere Schwäche moderner Gesellschaften, dass ihre Funktionssysteme zunehmend dicht verwoben sind, was Störungen an einem Ort rasch auf andere Bereiche übergreifen lässt und Krisen immer unberechenbarer macht.348


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Systemtheoretiker nennen das »nichtlinear«. Das Risiko wird umso größer, je enger die Elemente eines Systems zusammenhängen. Wie in einem früheren Kapitel schon diskutiert breiten sich Krisen daher effizienter aus, wie sich das an der Finanzkrise beobachten ließ. Banken in Amerika machen Pleite, Regierungen verschiedener Länder speisen Hunderte Milliarden Dollar ins System, und in Asien stehen Leute Schlange vor den Banken, um ihr Erspartes zu retten.

Konkrete Vorbilder statt anonymen Internet        ^^^^  

Erleichtert wird die internationale Netzwerkbildung zweifelsohne durch das nun breit verfügbare Internet. »Vor allem dessen demokratisches Potenzial ist es, das über die Kontinente hinweg potenziell jeden Menschen mit jedem anderen in Millisekunden­geschwindigkeit verbindet«, äußern sich Grefe und Schumann im Jahr 2008 enthusiastisch.349 In der Tat, Informationen zu nahezu jedem Thema sind in wenigen Sekunden aus dem Internet zu bekommen, und viele Initiativen und Netzwerke stellen sich mit eigenen Webseiten dar und laden zur Mitarbeit ein.

Aber leicht verliert man den Überblick in diesem anonymen Datendschungel. Die Anmeldung bei einer Organisation und der Bezug eines Newsletters (der einen ein paar Monate später im übervollen Mail-Postfach schon wieder nervt) sind zwar gewissensentlastend, geändert hat sich damit aber noch nichts. Auf den enormen zusätzlichen Energieverbrauch durch die Verbreitung von Computern und Laptops, die nötigen großen Server­kapazitäten und durch das Internetsurfen mit vielen Suchanfragen wurde schon hingewiesen, ebenso auf andere Nachteile der Digitalisierung. Informationen können zudem aufgrund ihrer Fülle gar nicht mehr richtig mental verarbeitet werden, ähnliches gilt für die Kommunikation. Erschwerend kommt hinzu, dass die Aufmerk­samkeitsspanne immer kürzer wird, was man an immer schnelleren Bildschnitten in Filmen sowie an Infohäppchen in Zeitungen und kürzeren Radio-Wortbeiträgen gut sehen kann (so dicke Bücher wie dieses und noch dazu mit so gut wie keinen Abbildungen sind da aus dem Zeitgeist gefallen).


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So werden zwar via Mail und Whatsapp schnelle, spontane Kontakte und Rückmeldungen enorm erleichtert, dadurch aber viel zu zahlreich und oberflächlich, als dass sie noch dauerhafte Folgen haben könnten; ein kontinuierlicher Diskurs, ein gründlicheres Sich-Einlassen braucht Zeit und Hingabe, Sammlung und Konzentration. Es erscheint daher logisch, dass diese Kommunikation viel Strohfeuer enthält.350

Ähnlich ist auch die Internetplattform utopia.de zu sehen.

Über 80.000 »Utopisten« sind in diesem Portal für »strategischen Konsum« bereits registriert, »grüne« Produkte werden eifrig beworben, Prominente und Journalisten beteiligen sich mit Kolumnen und Werbeaktionen, anfänglich sorgte die Initiative in den Medien für großes Aufsehen, jetzt wird es schon ruhiger. Etwas verwirrt durch die vielen Bilder und Schaltflächen tastet man sich voran - und kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies auch eine wichtige Werbeplattform darstellt, wie so oft im Internet. Kommunikation findet auch hier zwangsläufig indirekt und flüchtig statt, eine tiefere Auseinandersetzung mit der ökologischen Problematik erfolgt kaum. Grundsätzlich ist es ein Ansatz, durch den sicher bei einem breiteren Publikum Sensibilität für Umweltfragen geschaffen und politischer Druck ausgeübt werden kann, der jedoch größtenteils nur die sowieso schon ökologisch Interessierten und den Bio-Konsumenten erreicht, ohne aber eine grundsätzliche Änderung unserer Lebensweise anzustoßen.

Etwas fragwürdig erscheint es daher, wenn 2006 die Gründerin dieses Projektes, Claudia Langer, berichtet, gerade erst von einer Kanadareise zurückgekehrt zu sein und bereits wieder eine Südafrika-Tour zu planen.351

 droemer-knaur.de  claudia-langer     utopia.de  

Das erinnert an die Reaktion von Sigmar Gabriel in seiner Zeit als Umweltminister, als er auf Initiativen der Grünen hin, dass Bürger mit autofreien Wochenenden ein Zeichen gegen den Klimawandel setzen könnten, meinte, damit werde die Privatisierung des Klimaschutzes betrieben, und das sei falsch.352 Damit war wieder eine Gelegenheit vertan, von verantwortlicher Stelle behutsam auf nötige Verhaltensänderungen des Einzelnen hinzuweisen.

Dabei werden Vorbilder dringend gesucht. Sie sind vielleicht wichtiger als alle Theorie;353 so gibt es selbst unter außergewöhnlichen Umständen immer Menschen, die aus der Reihe treten, um sich gegen das zur Wehr zu setzen, was sie für falsch halten, womit in der Vergangenheit schon etliche soziale Bewegungen aufgebaut wurden.


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Wie wir gesehen haben, ist die Mehrheit der Bevölkerung jedoch konzentriert auf den Kampf ums Überleben oder - in den Industrieländern - auf die Wohlstandsabsicherung. Vorbilder wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder vielleicht auch Willy Brandt wären dringend nötig, denn sie haben das Allgemeininteresse vor persönliche Bereicherung in den Vordergrund gestellt.

Aber obwohl Leitfiguren wie sie eine Faszination auf viele Menschen ausgeübt und sicher manche gesellschaftlich und politisch positive Entwicklung ausgelöst haben: den Weg zur heutigen Situation haben auch sie nicht grundsätzlich aufhalten können (zumindest ist uns durch die Annäherung an den Osten eine andere globale Katastrophe, etwa ein Atomkrieg, bisher erspart geblieben). Und wie viele Gandhi's hat es wirklich gegeben oder müsste es jetzt vor allem geben, um auf dem Weg über die Vorbildfunktion eine Änderung im Verhalten der Masse herbei zu führen?(354) Trotz der Begeisterung, die Barack Obama teilweise ausgelöst hat, hat auch er in seiner Regierungszeit umweltpolitisch nicht viel bewegen können. Allenfalls Edward Snowden mag einem einfallen mit seiner Zivilcourage bei der Veröffentlichung allgegenwärtiger Überwachung durch die NSA. Doch der sitzt jetzt fest bei Wladimir Putin, und keine Nation hat den Mut, ihn aufzunehmen und einen Konflikt mit den USA darüber zu riskieren.

Der Einzelne ist gefragt   

Von der Frage der politischen und technologischen Lösungen, der Veränderung der Wirtschaftsweise, des politischen und gesellschaftlichen Engagements bis hin zu ökologischem Bewusstsein und benötigten Vorbildern: wir nähern uns der Ebene des Einzelnen. Das ist der entscheidende Punkt: was kann jeder Bürger tun, um sich nicht später fragen lassen zu müssen, warum er so wenig getan hat, obwohl er von den Missständen doch wusste? Und genau hier stoßen konkrete Ratschläge, die dennoch gleich folgen werden, an Grenzen. Es gibt keine Patentrezepte, die für jeden Einzelnen passen würden. Sicher, entsprechende Gesetze und finanzieller Druck werden bei sich zuspitzender Krise Verhaltensänderungen bei vielen Menschen bewirken. Ausgerechnet der frühere Greenpeace-Chef Thilo Bode jedoch traut dem Einzelnen nichts zu;


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in erster Linie müsse die Politik die längst vorhandenen Erkenntnisse und technischen Möglichkeiten, etwa für größere Energieeffizienz, umsetzen. Bürgerverantwortung helfe hier nicht weiter, das habe man in den 80er Jahren schon durchdiskutiert.355

Das mag grundsätzlich stimmen. Warum aber die Politik diese hohen Erwartungen kaum erfüllt, wurde schon deutlich. Was den Einzelnen wiederum betrifft, heißt es zwar oft, Nachhaltigkeit werde von einer Mehrheit der Bevölkerung gewünscht. Dem ist nicht so. Der Philosoph Thomas Metzinger führt treffend dazu aus:

Die überwältigende Mehrheit der derzeit gut 7 Milliarden Erdbewohner hat von Nachhaltigkeit bisher nie etwas gehört, und auch von den 82 Millionen Menschen, die z. B. in so einem reichen und von hohem Bildungs­standards gekenn­zeichneten Land wie Deutschland leben, kann man nicht im Ernst sagen, dass sie wirklich nachhaltig leben und wirtschaften wollen. Natürlich gehört es zum guten Ton, so etwas bei Gelegenheit immer wieder einmal zu beteuern, es gehört auch zur politischen Rhetorik der meisten Parteien heute. Das Thema der Nachhaltigkeit ist ein Dauerbrenner heute dafür, was ein amerikanischer Kollege sehr böse vor kurzer Zeit einmal als <moralische Selbst­unterhaltung für die Bourgeoisie> bezeichnet hat. Aber empirisch ist es schlicht und einfach falsch zu sagen, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land Nachhaltigkeit wirklich und aufrichtig will. Wir sind beunruhigt, wir ahnen etwas, aber uns fehlt die Motivation.(356)

Bei passender Motivation, von der schon die Rede war, hätte der Einzelne durchaus mehr Macht als er meint; außer durch Demonstrationen, Sitzblockaden und Unterschriftenlisten kann er über gezielten Konsum grund­sätzlich etwas bewegen, zumal immer mehr Unternehmen mittlerweile versuchen, Moral und Geschäft in Einklang zu bringen, um sich neue Umsatzanteile zu erobern. Auch im eigenen Umfeld kann er sich für ökologische Projekte engagieren, sich dafür vielleicht auch kirchlichen Umweltgruppen anschließen.


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Doch manchmal täuscht die subjektive Bilanz. Auch engagierte Naturschützer, Mülltrenner, Biokosteinkäufer, Stand-by-Ausschalter und Autovermeider haben einen meist durchschnittlichen, ja teilweise sogar überdurch­schnittlichen Energieverbrauch, wie eine Untersuchung von Michael Bilharz ergab.357 Auch ist der Wohnsitz im Grünen vor der Stadt mit langen Anfahrtswegen ebenso nachteilig wie ausgeprägte Freizeitmobilität. Allein schon hohes Einkommen schafft mehr Möglichkeiten für Konsum und teure Fernreisen. Dementsprechend halten leider Grünen-Anhänger den Rekord bei Flugreisen.358 Nach guter Tat ist eben wieder ein Fehltritt drin, nur ein bisschen was tun reicht nicht aus.

Zudem wachsen die Bedürfnisse: In den 39 Millionen deutschen Privathaushalten gab es Ende 2008 40 Millionen Autos, 48 Millionen PCs, 60 Millionen Mobiltelefone und 70 Millionen Fahrräder (das zumindest lässt ja hoffen); 37 Prozent der Haushalte verfügten über einen MP3-Player, 19 Prozent über eine Spielkonsole, 16 Prozent bereits über einen Flachbildschirm.359 Diese für die erste Auflage dieses Buches recherchierten Zahlen haben sicher nicht abgenommen. Hinzu gekommen sind vielmehr noch Tablets und Smartphones, über 44 Millionen davon wurden 2015 in deutschen Haushalten genutzt. Neu gibt es jetzt Drohnen, im Vorweihnachtsverkauf 2016 gleich zentral in den entsprechenden Technikmärkten platziert. Von weniger Ressourcen- und Energienutzung also keine Spur! Die sparsame Rentnerin wiederum, seit Jahrzehnten in zwei kleinen Zimmern mit ihren alten Möbeln lebend, wenig interessiert an all der neuen Technik, ihr Zuhause nur zu Fuß verlassend, ist ökologisch gesehen die tugendhafteste, ohne dabei diese Absicht bewusst zu verfolgen. Doch soll das Vorbild für alle sein?

Ergebnis der erwähnten Untersuchung von Bilharz zu den »Key Points» nachhaltigen Konsums ist: Vier Maßnahmen mit zum Teil erheblichem Aufwand führen langfristig zu einer deutlichen Verkleinerung des persönlichen ökologischen Fußabdrucks:

  • • eine gründliche Wärmedämmung der eigenen Immobilie,

  • • 10.000 Euro Investition in erneuerbare Energien (in Form einer eigenen Photovoltaikanlage oder mit Beteiligung an einem Wind- oder Solarkraftwerk),

  • • das Umsteigen auf ein Dreiliterauto oder besser noch die Teilnahme am Car-Sharing sowie

  • • die konsequente Umstellung der Ernährung auf Biolebensmittel.360


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Gerade der letzte Vorschlag sowie etliche weitere Strategien, die sich als wirksam erwiesen haben, erfordern es, während des ganzen Lebens, nicht nur für einige Wochen, eine einheitliche Handlungsweise beizubehalten.361 So könnte man die Bemühungen verstärken, Energie einzusparen, selbst durch Solaranlagen Strom erzeugen und Wasser wärmen sowie beim Hausbau natürliche Baustoffe verwenden. Des Weiteren empfehlen sich demnach ein Schuldenabbau sowie Konsumverzicht, selbst wenn das der »patriotischen Pflicht« zuwider läuft, die Konsum-und Kreditwirtschaft am Laufen zu halten. Sinnvoll erscheint es ebenso, wieder Werkzeuge zu verwenden, die ohne zusätzliche externe Energiezufuhr auskommen (etwa einen Handrasenmäher, eine Hacke, einen Hobel), auch um dadurch körperlich wieder gestärkt zu werden. Der Ratschlag, für die Mobilität dabei eher wieder mehr Füße und Fahrrad statt Auto und Flugzeug zu nutzen, versteht sich von selbst.

Aus dem Exkurs zur Entropie im Gesundheitswesen lässt sich zudem folgern, dass eine eigene Hausapotheke, der Anbau von Heilkräutern sowie die Besinnung auf natürliche Heilverfahren klug wären. Dazu gehört dann auch gesunde Ernährung, wenn möglich durch eigenen Anbau, ohne chemische Düngemittel und Pestizide, dafür mit Biokom-poster. Möglich ist dies auch auf Balkonen, etwa mit Blumenkästen und Hydrokulturen.362 Die Ausrede, nicht zu wissen, was man denn selbst tun könne, gilt also nicht mehr. Doch mangelndes Öko-Engagement hat andere Ursachen, wie wir gesehen haben.

In vielen Leitartikeln, Büchern und Talkshows trifft man auf »Muss«-Formulierungen zur Frage, was Einzelne, die Gesellschaft oder auch Organisationen bzw. Staaten jetzt zu tun hätten. Das sind zwar zumeist tatsächlich nötige Schritte, die sich jedoch nicht durch Schreiben und Aussprechen erzwingen lassen, auch durch dieses Buch nicht (der einzige Sinn mag darin bestehen, dass steter Tropfen den Stein höhlt).

Restriktive Vorgaben erzeugen eher Widerstand, das wird uns im nächsten Kapitel zur Wertediskussion noch begegnen.


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Und gegenwärtig ist allenfalls eine kleine, insgesamt jedoch kaum größer werdende Gruppe von Einzelnen erkennbar, die auf dem nachhaltigen Weg mutig vorangeht, so dass noch wenig davon auf weitere Teile der Gesell­schaft abfärbt (die Erwartung, dass gleich »alle« mitziehen, wäre sowieso illusionär).

Denn Vorbilder, auch die, von denen oben die Rede war, schrecken leicht ab, »Zugutmenschen« können auch Frustgefühle wecken. So perfekt wie die Bekannte ein paar Straßen weiter wird man es selbst nie schaffen, auf Plastik zu verzichten. Studien zeigen, dass Vegetarier etwa oft heftige Abwehrreflexe auslösen, weil Fleischesser sich in ihrer Gegenwart automatisch unter Rechtfertigungsdruck wähnen.363 Als moralischer Versager dazustehen, löst Minderwertigkeitsgefühle aus, die gerne vermieden werden wollen.

* * *

Fassen wir zusammen:

Neue Technik kommt zu langsam und wirft meist selbst wieder größere Probleme auf, Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik sind auch nur Menschen, und wie die Bürger bisher nicht bereit, auf eine Lebensweise mit weniger Arbeitszeit, geringerem Kohlendioxidausstoß, sparsamen Konsum und dafür mehr Selbstversorgung umzusteigen. Auch sind Staaten zu langsam und ineffektiv, das Internet schafft nur vordergründig ein globales Zusammenrücken, Vorbilder fehlen und der Einzelne sollte zwar viel ändern, verhält sich aber nicht so, wie es die vielen Bücher und Artikel von ihm verlangen.

Ermutigende Dokumentarfilme wie »Tomorrow« (2016) werden nur wenig besucht, zeigen aber immerhin, was möglich wäre etwa mit mehr Beteiligung der Menschen an politischen Entscheidungen, mit Agrarökologie und Permakultur sowie praxisnaher Bildung.

Der Kernphysiker Hans-Peter Dürr und die weiteren Autoren des Potsdamer Manifests aus dem Jahr 2005 sehen die katastrophale ökologische Entwicklung als Ausdruck einer geistigen Krise im Verhältnis von uns Menschen zu unserer lebendigen Welt.364 Die Krisen seien Symptome tiefer liegender Ursachen, die wir bisher versäumt hätten zu hinterfragen und aufzudecken. Aber sie entwerfen eine positive Perspektive. Der Boden, auf dem eine neue verträgliche organismische Kulturenvielfalt aufwachse, sei gut vorbereitet. Ein neues, doch uns wohl vertrautes Menschenbild werde sichtbar, das von empathischen Menschen ausgehe.

Auch die Antworten zahlreicher weiterer, zumeist naturwissenschaftlicher Experten weisen nur in zweiter Linie auf nötige technologische und politische Lösungen hin. Im Vordergrund stehen Forderungen nach neuen Werten und veränderten zwischenmenschlichen Beziehungsqualitäten, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Offensichtlich funktioniert der notwendige Wandel zwar nicht ohne Gesetze und Organisationen, aber diese werden nichts ändern, solange sich die Menschen nicht ändern.

Ob wir wollen oder nicht, wir nähern uns jetzt auf der Ebene des Einzelnen der psychischen Dimension sowie den Wertvorstellungen menschlicher Gesellschaften. Letztlich geht es um ganz andere Inhalte, nämlich um »Inhalte« in jedem Einzelnen von uns, die bei Betrachtung der ökologischen Frage zu bedenken sind.

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