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2.2   Neue Werte braucht die Welt - ein soziologischer Exkurs   

"Heutzutage kennt ein Mensch von allen Dingen den Preis und von keinem den Wert." (Oscar Wilde, 365)

 

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»Was ist das nur für eine Spaßgesellschaft!« - »Welch eine Jugend ohne Benehmen von unerträglicher Unverschämtheit!« Über einen Werteverfall wird schon seit einigen tausend Jahren immer wieder geschimpft. Die Klage über eine »leichtfertige Jugend ohne Benehmen«, die von einer »unerträglichen Unverschämtheit« sei, stammt vom griechischen Dichter Hesiod zur Zeit um 700 vor Christus; Seneca wiederum geißelte um 60 nach Christus die »naturwidrigen Entartungen« der römischen Spaßgesellschaft vor ihrem Niedergang.366

An den Klagen über einen Werteverlust hat sich bis heute im Grunde nichts geändert. Dementsprechend wird jetzt gefragt, ob unsere alten Werte nicht mehr genügen und wir etwa dadurch in die ökologische Krise gekommen sind.367 Der Begriff »Werte« aber ist negativ belastet, klingt altbacken und suggeriert Sehnsucht nach alten, vermeintlich besseren Zeiten, wobei die selten wirklich besser waren. Werte sind nichts, was wir ständig als bewusstes Verhaltensprogramm auf unseren Erinnerungsblöcken notiert haben. Vielmehr werden wir aus vielen Quellen unbewusst von Wertvorstellungen beeinflusst, die wir dann - oft auch unreflektiert - übernehmen.

Aus den Vorschlägen von Experten zur Lösung der enormen globalen ökologischen und sozialen Probleme geht zumindest hervor, dass jetzt (wieder) ein Wertewandel erforderlich ist. Das ist vielleicht annehmbarer: nicht alle Werte, die wir heute haben, müssen grundsätzlich schlecht und verkommen sein, aber sie sind zumeist nicht mehr den Anforderungen angemessen, vor denen wir jetzt stehen. Oft wird dabei gefordert, dass doch die neuen Werte, die als dringend nötig angesehen werden, verordnet werden sollten. Der Autor Claus Koch meint dazu:

Die Anrufung der Werte ist zumeist eine autoritäre Antwort. Sie verrät Unsicherheit, Hilflosigkeit: Der soziale und moralische Kompass, der einmal die Orientierung im praktischen Leben angezeigt hatte, ist verloren gegangen. Und die Oberen und die Wissenden, die über die Autorität verfügen, sehen die quälende Frage auf sich gerichtet: Ihr da oben, Ihr habt das Privileg und die Verantwortung, Ihr müsstet doch weiter schauen können. Wo ist die Führungs­linie, wo sind die Leitplanken? (...) Ihr müsstet doch sagen können, woran man sich halten soll. Die Mutigeren unter den Gefragten werden antworten, dass auch sie den Leitfaden zum richtigen und guten Leben nicht genau sehen können.368

Also ist wieder der Einzelne selbst gefordert. Der Ökonom Jeffrey Sachs etwa fordert ihn auf, »in der Wahrheit zu leben«,(369) der Philosoph und Religionswissenschaftler Hans Jonas spricht von »Verantwortung von Menschen für Menschen«,370 der Energieexperte Gerd Eisenbeiß setzt für die Bewältigung der Herausforderungen auf das »Großhirn, die Wissenschaft und vernünftige Werte«.371

Hier also begegnet uns direkt, noch ohne nähere Erläuterung, die so oft getätigte Forderung nach Werten. Gerade da auf Großhirn, Wissenschaft und technologischen Fortschritt wie oben dargelegt kein Verlass ist, lohnt sich eine nähere Betrachtung von wünschenswerten Wertvorstellungen.

Konkreter wird es dazu bei Joseph Weizenbaum, früher Professor für Computer Science am Massachusetts Institute of Technology, einer der Pioniere der Künstlichen Intelligenz. Er fordert Widerstand gegen die Gier des globalen Kapitalismus, Kooperation statt Konjunktur, Bescheidenheit statt unbegrenztem Konsum sowie Ehrfurcht vor dem Leben.(372) Seiner Ansicht nach sind sonst unsere Kinder und Kindeskinder nicht vor der »irdischen Hölle« zu retten.


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Das Bewusstsein, dass alle Menschen Geschwister sind, müsse den Zeitgeist ersetzen. Der Glaube, dass Wissenschaft und Technologie die Erde vor den Folgen des Klimawandels bewahren würden, sei irreführend: »Würde die weltweite Gesellschaft nur vernünftig sein, könnte das bis heute erreichte Wissen der Menschheit aus der Erde ein Paradies machen«.

Der Physiologe Jared Diamond meint, dass von größter Bedeutung langfristige Planung und die Bereitschaft seien, zentrale Werte neu zu überdenken. Zur Frage, welchen Teil unserer traditionellen Wertvorstellungen als Verbraucher und welchen Lebensstandard wir uns noch leisten können, äußert er sich hingegen skeptisch: »Es ist politisch anscheinend nicht durchsetzbar, dass man Bewohner der Industrieländer dazu veranlasst, ihre ökologischen Auswirkungen auf die ganze Welt zu vermindern«.373

Damit schaden sie sich aber langfristig selbst, nicht nur durch Raubbau an den eigenen Lebensgrundlagen, sondern auch gesundheitlich, wie oben bei den Fakten zur ökologischen Krise dargestellt. Auch die schon zitierten Autoren, die von einer Zunahme psychischer Störungen im 21. Jahrhundert angesichts des Primats der Ökonomie sprechen, bezeichnen eine »Wiederentdeckung der Humanität als eine der größten Herausforderungen des kommenden Jahrzehnts«.374 Zwischenmenschliche Beziehungen würden demnach entscheidend für das Gelingen von Arbeit, für ein erfülltes und zufriedenes Leben bleiben:

Wo Profitkultur und Marktfundamentalismus gelebt werden, die den Menschen auf >Humankapital< reduzieren, kommt es zu >innerer< Kündigung, hohem Krankenstand, Frühverrentung und Krankheit von Leib und Seele als vermeintlichen inneren Ausweg.375

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  Wunschvisionen, Aufbau von Netzwerken, Wahrhaftigkeit, Lern Bereitschaft und Nächstenliebe  

In ihren Folgestudien zum Bericht an den Club of Rome aus den Jahren 1992 und 2004 sind die Systemwissenschaftler um Dennis Meadows im Schlusskapitel eingehend auf nötige Werteveränderungen eingegangen. Dies liest sich dort umso glaubwürdiger, da die vorherige umfangreiche Analyse von nüchterner Sachlichkeit geprägt war. Eine etwas ausführlichere Darstellung ihrer Ansätze sei daher an dieser Stelle erlaubt.


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Die Autoren gehen davon aus, dass es nach der landwirtschaftlichen und industriellen Revolution nun zu einer Nachhaltigkeitsrevolution kommen müsste. Informationen seien stets der Schlüssel für Veränderungen. Aber Systeme würden allen Veränderungen ihrer Informationsflüsse erheblichen Widerstand entgegen setzen, vor allem wenn ihre Regeln und Ziele davon betroffen seien, womit wiederum das Problem von Lobbyismus und Privilegien angesprochen wäre. Aber man solle nie die Fähigkeit einer kleinen Gruppe engagierter Menschen unterschätzen, die Welt zu verändern. Tatsächlich sei dies das Einzige, was je etwas bewirkt habe. Sie räumen ein, dass die fünf genannten Ansätze, hier in der Überschrift zitiert, angesichts der Notwendigkeit enormer Veränderungen vielleicht »ziemlich kraftlos« klingen würden, aber jeweils in mehrere positive Rückkopplungsschleifen eingebunden seien, vor allem wenn sie hartnäckig verfolgt würden.

Bei den Wunschvisionen sprechen sie oben schon erwähnte Möglichkeiten an, wie Recycling, regenerative Landwirtschaft und eine Dezentralisierung von wirtschaftlicher Macht und politischem Einfluss. Und schließlich - zu den Werten wieder zurückkommend - werden als Wunschvision Nachhaltigkeit, Effizienz, Gerechtigkeit, Schönheit und Gemeinschaftssinn als höchste gesellschaftliche Werte vorgeschlagen.

Von Netzwerken war ebenso schon die Rede. Sie werden hier angeregt als Beziehungsgeflecht unter Gleichen, ohne Zwänge, Verpflichtungen, vertragliche Regelungen oder materielle Anreize zusammengehalten, sondern durch gemeinsame Wertvorstellungen. Als Beispiele werden genannt: Netzwerke von Landwirten, die sich über Methoden der organischen Schädlingsbekämpfung austauschen, Netzwerke bei Umweltjournalisten, »ökologischen« Architekten, Entwicklern von Computermodellen und Planspielen, Naturschutzgruppen und Verbraucherverbänden.

Ein weiterer, sehr idealistischer Ansatz ist der Wunsch nach Wahrhaftigkeit. Die Wahrheit ist den Autoren nach ungewiss, aber viele Unwahrheiten und Vorurteile würden bewusst verbreitet. So sei eine Warnung vor zukünftigen Entwicklungen nicht einer Prognose bevorstehenden Unheils gleichzusetzen - wie oft behauptet -, sondern als


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Empfehlung zu verstehen, einen anderen Weg einzuschlagen. Veränderungen würden weniger Opfer verlangen als vielmehr eine Herausforderung darstellen, sie seien notwendig zur Sicherung der Nachhaltigkeit. Statt dem immer geforderten Wachstum werde Entwicklung benötigt, hierfür eventuell erforderlicher materieller Zuwachs solle gerecht erfolgen und unter Berücksichtigung sämtlicher realer Kosten finanzierbar und nachhaltig sein. Technik werde nicht alle Probleme lösen, gefördert werden müssten Techniken, die den ökologischen Fußabdruck der Menschheit verkleinern, die Effizienz erhöhen, Ressourcen stützen, Signale deutlicher machen und materielle Benachteiligung beenden. Und: Wir müssten unsere Probleme als Menschen angehen und außer der Technik noch weitere Möglichkeiten zu ihrer Lösung einsetzen. Auch sie kommen also zu diesem Schluss.

So ist den Autoren nach Lernbereitschaft nötig für die Entwicklung neuer Anbaumethoden, die Umwandlung von Energiesystemen, das Erlassen neuer Gesetze oder auch die Bildung von Kindern und Erwachsenen. Die Empfehlung dabei ist: man möge, was immer man auch tue, es mit zurückhaltender Bescheidenheit tun, nicht also als unumstößliche Vorgehensweise, sondern als Experiment, aus dem man lernen könne. Ausprobieren und Fehler machen sei erlaubt, nur daraus könne man lernen. Dies aber passiere in unserem politischen System nicht mehr: die Wähler würden erwarten, dass die Entscheidungsträger Antworten auf alle Probleme kennen, diese werden dann aber rasch wieder abgesetzt, wenn sie unerfreuliche Maßnahmen vorschlagen, davon war oben schon die Rede.

Jetzt allerdings, in der Phase der ökologischen Grenzüberschreitung, sei es schwierig, das richtige Gleichgewicht zwischen Dringlichkeit und Geduld sowie Verantwortlichkeit und Nachsicht zu finden. Dazu brauchte es, so die Autoren, auch Nächstenliebe, die oben schon erwähnt wurde:

In der industriellen Zivilisation ist es verpönt, über Nächstenliebe zu sprechen, sieht man einmal von dem ganz trivialen romantischen Sinn des Wortes Liebe ab. Wenn jemand an die Fähigkeit des Menschen appelliert, brüderliche oder schwesterliche Liebe zu praktizieren, die Menschheit als Ganzes, die


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Natur oder den Planeten, der uns versorgt, zu lieben, dann wird er wohl eher ausgelacht als ernst genommen. Der Hauptunterschied zwischen Optimisten und Pessimisten ist ihr Standpunkt in der Debatte, ob Menschen dazu fähig sind, auf der Basis der Nächstenliebe zusammenzuarbeiten. In einer Gesellschaft, die systematisch Individualismus, Konkurrenzfähigkeit und kurzfristige Interessen fördert, bilden die Pessimisten die überwiegende Mehrheit.376

Der Philosoph Wilhelm Schmid hat dies in Anlehnung an den kategorischen Imperativ von Kant in drei Grundsätze eines ökologischen Imperativs gefasst:

• Handle so, dass du die Grundlagen deiner eigenen Existenz nicht ruinierst. (...)

• Handle so, dass du die Konsequenzen deines Handelns für Andere in einer Weise berücksichtigst, wie du selbst dies von Anderen erwarten würdest. (...)

• Handle so, dass du vorgefundene Zusammenhänge nie nur als Mittel für eigene Zwecke, sondern immer auch als Selbstzweck betrachtest.377

Doch auch hier stellt sich die Frage, wie die Handlungsaufforderungen, das Sollen und Müssen, vom Einzelnen aufgenommen und umgesetzt werden können. Appelle und Befehle sind schnell formuliert. Aber Vorschriften sind unbeliebt, wir werden das noch sehen. Die zehn Gebote gibt es schließlich auch schon längere Zeit, ohne dass sie allein zu einem friedlicheren Miteinander geführt hätten. Zunächst jedoch ist es nützlich, sich über eigene Bedürfnisse grundlegend Gedanken zu machen, um dann zu sehen, wie Werte und Einstellungen überhaupt entstehen.

Was brauchen wir überhaupt?

Zur Frage, wie die Vorschläge des Folgeberichts zu »Grenzen des Wachstums« umzusetzen seien, meint Dennis Meadows:


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Der Punkt ist doch: oft wissen wir gar nicht, wie wir eigentlich leben wollen und was uns wirklich wichtig ist. Stattdessen spielen wir nach Spielregeln, die uns andere vorgeben. Wir glauben, dass wir das alles brauchen: Karriere, Auto, Haus. (...) Ich sage niemandem, was er tun soll. Ich sage nur: Setzen Sie sich mal in Ruhe hin und denken Sie richtig über Ihr Leben nach. Listen Sie auf, wie Sie Ihre Zeit verwenden und ob Sie so zufrieden sind. Wir tauschen unsere Zeit gegen Geld und Geld gegen Waren. Wir sollten uns fragen: Ist das wirklich immer ein lohnender Tausch?378

Damit stellt er die Frage nach Bedürfnissen und zweifelt ebenso »Muss«-Vorschriften an. Auf eigene Erkenntnisprozesse kommt es an, jeder muss zu seinen eigenen Schlussfolgerungen kommen können - ein fast schon therapeutischer Prozess, wie wir noch sehen werden. Auch die Journalistin Elisabeth von Thadden hat sich intensiv Gedanken darüber gemacht, was der Mensch eigentlich braucht,379 und kam hier vom Streben nach dem persönlichen Glück ebenso zu einer »Fernstenliebe«, ähnlich den Schlussfolgerungen der Autoren um Dennis Meadows, die vom Mitgefühl für auch weit Entfernte und für die ferne Zukunft gesprochen hatten.

Sie stellt fest, dass allein die Frage nach dem Grundbedürfnis einfacher klingt als es ist. Denn das sei regional und je nach historischer Epoche unterschiedlich. Zudem gibt es mehrere Bedürfnisebenen:

Was man braucht, um zu überleben? Nahrung, Wasser, etwas Kleidung, Medizin, ein Dach über dem Kopf, Schlaf. Oder um nicht zu zerbrechen? Je nachdem, vielleicht etwas Anerkennung, Liebe, Freiheit, Arbeit und Sicherheit, auch Kunst und Religion können helfen. Oder um glücklich zu sein? Schwierig. Um mit anderen Menschen halbwegs über die Runden zu kommen? Einen funktionierenden Staat, Familienplanung, sonst sehr variabel. Materielle Grundgüter, soziale Rechte, moralische Ansprüche und Anerkennung gehören je verschieden zum Elementaren, was Menschen brauchen, und lassen sich gegeneinander kaum aufrechnen.380


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Das erinnert an die Grundbedürfnisse von Lebewesen generell und die spezifisch menschlichen Antriebe darüber hinaus (siehe Abb. 2). Einen Schritt weiter geht der Philosoph Martin Seel. Zu einem erträglichen menschlichen Zustand gehört seiner Ansicht nach neben der Erfüllung von Bedürfnissen auch das Verlangen nach Erfüllung, somit der Versuch, Wünsche und Leidenschaften lebendig zu halten und so auch ungeahnten Wünschen begegnen zu können. Also befriedigt es nicht, befriedigt zu sein.

Mittlerweile spricht man auch schon vom Recht auf die Erfüllung von Grundbedürfnissen, weshalb im Herbst 2000 die 189 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen die oben schon erwähnten Millenniumsziele verabschiedet hatten mit den Zielen einer Reduzierung von Armut, Hunger und Ressourcenschwund sowie von Seuchen, Kinder- und Müttersterblichkeit, und der Ermöglichung von genügend Trinkwasser für jeden sowie Schulbildung für alle Kinder.381

Wann aber gelten Bedürfnisse als gesättigt? Neigt nicht der Mensch dazu, hier kein Maß zu kennen, etwa im Sinne der schon angesprochenen Gier? Wie wir bei der Darstellung des ökologischen Fußabdruckes gesehen haben, brauchen wir westlichen Menschen beispielsweise viel mehr Ressourcen und Energie als die Menschen in ärmeren Ländern. Wonach viele streben wird häufig von wenigen vorgelebt. Von Thadden spricht daher an dieser Stelle ebenso die Bedeutung von Vorbildern an:

Weil Menschen ihr Verhalten wesentlich über Nachahmung steuern, hängt viel davon ab, wie sich die stilbildenden Eliten des Westens heute verhalten. Wenn sie deutlich machten, dass zu den europäischen Grundbedürfnissen die Garantie von Grundrechten, ein funktionierender Staat, die Liebe zur Kunst, die Geselligkeit, die Vertragssicherheit, der Hunger nach Geschichte und Zukunft, die Gerechtigkeit, die Heimatlichkeit einer Landschaft gehören, und demgegenüber das elfte Kleid, der Wäschetrockner, der Kurztrip nach New York nicht von Belang sind, wäre schon viel getan.382

Dazu müsste man aber erst einmal erkennen und zulassen, wie »satt man eine hypernervöse Unersättlichkeit hat, die nicht froh macht«. Das


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kommt also hinzu: die auch durch Medien und Werbung geschürten Bedürfnisse in unseren Breiten machen nicht glücklich, wenn sie nicht erfüllt werden können, machen aber ebenso wenig dauerhaft froh, wenn man sie schließlich befriedigt hat. Dies lässt wenig Raum für die Bedürfnisse entfernt Lebender, und schränkt auch die nötige Entwicklung neuer Werte ein.

Werteentstehung durch emotionales Ergriffensein

Werte (passend für heutige Werte bietet einem das Schreibprogramm des Computers beim Tippen des Wortes »Wert« die Alternative »Wertbrief« an) hängen also eng mit Bedürfnissen der jeweiligen Gesellschaft und Kultur zusammen und wandeln sich im Laufe der Zeit immer wieder.

Sind bei Ihnen die Vorsätze für das Neue Jahr nach dem 6. Januar noch gültig? Wohl eher nicht. Es fällt also schon schwer, die Vorschriften einzuhalten, die man sich selbst gibt. Umso weniger effektiv sind Moralpredigten von anderen, was man von der Kindererziehung oder von Ehekonflikten her bestens kennt. Jetzt dem Einzelnen vorzuschreiben, welche Werte und Verhaltensweisen er anzunehmen hat, ist also wenig sinnvoll, wir waren auf anderen Wegen schon zu dieser Erkenntnis gekommen. Wie aber kommt man dann zu Werten, die einen prägen und leiten?

Der Soziologe Hans Joas hat sich eingehend mit dieser Frage beschäftigt, so dass wir uns an dieser Stelle auf ihn stützen dürfen.383 Er meint, dass Wertbindungen nicht mit Absicht erzeugbar sind, zumindest nicht auf direktem Wege. Nicht durch konkrete und bewusste Wahlentscheidungen kommen wir demnach zu fundamentalen Entscheidungen darüber, was gut ist oder schlecht, sondern weil uns etwas in irgendeiner Weise packt oder ergreift; wichtig ist also die Erfahrung des Ergriffenseins. Das geschieht dabei nicht aktiv, sondern passiv. Man wird berührt, ergriffen von Werten oder einem Thema (etwa den Folgen der ökologischen Krise), das dann zu Werten führt; hinzuzufügen wäre, dass das dann auch mit Emotionen verbunden ist. Etwas, was uns besonders bewegt, wütend macht oder begeistert, wird leichter bei weiterer Beschäftigung damit zu Werten führen als etwas, das uns gleichgültig lässt.


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Wir sind dann emotional ergriffen, etwas, was auch bei der Wirksamkeit von Psychotherapie wesentlich ist, wie wir noch sehen werden. Es zeigt sich dabei auch, dass konkrete Geschichten von Menschen und Tieren mehr bewirken als Statistiken und Zahlen, die die Gesamtsituation eigentlich besser beschreiben. Berichte über Einzelschicksale, aber auch Bilder von Eisbären auf schmelzenden Gletschern oder von durch Giftgas getöteten Kindern bewirken so plötzlich Reaktionen, die vorher undenkbar waren.

Joas führt weiter aus, dass, wenn wir etwas als Wertbindung erleben, wir zumeist kein Gefühl der Unfreiheit (wie bei Vorschriften oder Moralpredigten) hätten, sondern ein intensives Gefühl äußersten »Bei-Sich-Seins«. Wir würden aber auch feststellen, aufgrund dieser Wertbindung eben nicht anders als soundso zu können, dadurch also doch irgendwie weniger frei zu sein, da wir sonst nicht mehr in den Spiegel schauen könnten (was auch ein Antrieb für das Schreiben eines Buches über die Bewältigung der ökologischen Krise sein mag).

In diesem Sinne sei, so Joas, die Äußerung von Luther gemeint gewesen, als er zum Widerruf seiner Lehren aufgefordert wurde: »Hier stehe ich, und kann nicht anders.« Wertbindungen seien also intensive Bindungen und gäben uns das Gefühl, ganz besonders mit uns selbst identisch zu sein, und nicht etwas abschneiden zu müssen von dem, was wir sind. Es ist also ein »Phänomen, bei dem wir von etwas ergriffen werden, das wir nicht direkt ansteuern können, das in uns ein intensives Gefühl von Freiheit auslöst und hinterlässt«.384 Werte können uns zudem - im Gegensatz zu restriktiven Normen und Geboten - überhaupt erst kreativ auf Ideen bringen, bestimmte Dinge zu tun oder nicht zu tun. Sie sind dabei nicht einfach Wünsche, sondern Vorstellungen über das Wünschenswerte. Diese Vorstellungen sind nicht emotional neutral, sondern selber hochgradig emotional besetzt, wie schon ausgeführt.

Selbsterfahrung und Selbsttranszendenz

Woher kommen dann also Werte? Wie kommt es dazu, dass für einen Menschen spontan und intensiv klar wird, dass etwas gut ist, und es ihn auch noch emotional sehr bewegt? Joas behauptet, dass Werte in Erfah-


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rungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz entstehen. Selbstbildung bezieht sich darauf, dass wir bekanntlich zwar, wenn wir auf die Welt kommen, ein biologisches Individuum sind, im Sinne von unverwechselbaren Merkmalen wie Größe und Gewicht, aber nicht als ein Selbst im Sinne der Sozialpsychologie, als ein »Seif«. Das heißt, wir kommen nicht als jemand auf die Welt, der in einem reflexiven Verhältnis zu sich selber steht.

Bei Geburt können wir somit noch nicht über uns und unsere Stellung in der Welt nachdenken. Stark beeinflusst werden wir dabei zunächst von unseren ersten uns sozialisierenden Bezugspersonen, also zumeist den Eltern. In der Identifikation mit ihnen entsteht eine erste Werteschicht. Während ein Dreijähriger also kaum sagen kann: »Ich mag meinen Vater schon, aber seine Äußerungen sind völlig abseitig«, ist dies für einen 13-jährigen dann fast schon die Regel. Also muss man später sich noch einmal in eigener Reflexion aneignen, was einem schon vermittelt wurde - oder sich davon distanzieren. Dies kann durch eigene Erfahrungen geschehen etwa im Sinne der Selbsttranszendenz, was bedeutet, dass ein eigener psychologischer Prozess durchgemacht wird, in dem ein schon geformtes Selbst die Erfahrung macht, dass es über die Grenzen dieses Selbst hinausgerissen wird.

Es gibt somit eine anerzogene Schicht von Wertbindungen, die dann im Rahmen der eigenen Persönlichkeitsentwicklung verändert und erweitert wird. Welche Erfahrungen sind es also, die uns etwas subjektiv Wichtiges bringen oder das Gefühl, dass etwas Bestimmtes gut ist und dies uns über das bisherige Selbst hinaus reißt? Joas führt als Beispiele Erfahrungen »kollektiver Ekstase« an (Mauerfall; Nürnberger Reichsparteitage; Fußballspiele), oder Erlebnisse beim Abfall von Hemmungen durch Alkohol; aber eben auch Gewalterfahrungen wie im Zweiten Weltkrieg können solche Selbsttranszendenzerfahrungen sein,385 was zunächst irritieren mag.

Dies sei nur das eine Ende der Erfahrungen der Selbsttranszendenz, so Joas. Am anderen Ende stünden hochgradig individuelle Erfahrungen dieser Art, etwa ein intensives Gebet oder spirituelle mystische Erfahrungen des Individuums, aber auch Naturerfahrung, Musik, Gefühle von Mitleid, ein wirklich gelingendes Gespräch oder sexuelle Erfahrungen.

Welche Rolle spielt bei der Wertevermittlung der Begriff des Objektiv-Guten, wie er schon seit der griechischen Antike in der Philosophie dis-


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kutiert wird? Es gibt nicht mehr nur »das Gute«, sondern der Begriff des Wertes tritt an die Stelle des Begriffs des Guten. Werte sind oft etwas sehr Subjektives, also gibt es nicht ein völlig menschenunabhängiges Gutes. Wenn es aber nicht nur das eine Gute gibt, dann wird wohl kaum die Geschichte irgendwie den Zustand herbeiführen, der dieses eindeutig Gute realisiert. Also können in der Geschichte ganz andere, ganz unterschiedliche, auch neue Formen von Vorstellungen über das Gute entstehen, auch wenn sie sich dann als anders geartet erweisen. So ist es laut Joas um 1900 nicht vorstellbar gewesen, dass das 20. Jahrhundert ein so einflussreiches Wertesystem wie das des Faschismus hervorbringen würde (das lässt für unser Thema zumindest die Möglichkeit offen, dass auch hierfür noch ein anderes - jetzt noch nicht vorstellbares - Wertesystem entsteht - im Positiven wie grundsätzlich leider auch im Negativen).

Sei es im Rahmen der Erziehung oder auch in Bildungsinstitutionen - auch Joas sieht die Notwendigkeit von Vorbildern, deren reales Handeln mehr zählen würde als reale Bekundungen und Informationen (also nützt alleine für sich dieses Buch noch nicht viel, der Autor selbst ist gefordert).386 Schon die Verwahrlosung eines Gebäudes könne hinsichtlich der Werte mehr kommunizieren als jeder Lehrplan. Allerdings fordert er auch, die Wertevermittlung nicht in ein separates Unterrichtsfach abzuschieben. Es sei eine Gefahr zu denken, man mache wertfreien Unterricht in allen Bereichen und nur in einem Bereich zusätzlich und kompensatorisch Wertunterricht.

Generell müssten in der Familie wie im Bildungswesen bei der Wertevermittlung Motivation und Disziplinierung zusammenkommen, für beides wiederum seien personale Bindungen Voraussetzung. Es müssten zudem entsprechende Erfahrungen, die außerhalb dieser beiden Bereiche gemacht werden, verarbeitet werden. Er nennt hierzu als Beispiel freiwilliges Engagement oder die Bearbeitung von Freundschafts- und Liebeserfahrungen von Kindern und Jugendlichen. Und schließlich sei Empathie nötig mit unterschiedlichen Wertvorstellungen, wie sie in unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen enthalten sind, unter der Voraussetzung, dass Bereitschaft zu Rechtsgehorsam, Toleranz, Fairness und Pluralismus vorhanden sind. Damit aber sieht es momentan aber nicht günstig aus, wie schon deutlich wurde. Also wird noch mehr vom Menschen gefordert.


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Der gewünschte evolutionäre Sprung

Ein Wertewandel erscheint also grundlegend notwendig. Damit mehr Lernbereitschaft, Nächsten- und Fernstenliebe oder Offenheit und Wahrhaftigkeit entstehen können, brauchte es aber geradezu einen inneren Quantensprung in der Entwicklung des Menschen. Hierauf wird letztlich beim Blick auf die komplexe Situation von vielen Geistes- und auch Naturwissenschaftlern eine große Hoffnung gesetzt. So beschwört auch der Philosoph Michael Schmidt-Salomon die Empathie, betont aber ebenso deren Risiken, etwa dass sie das Gefühl von Zusammengehörigkeit vor allem innerhalb von Gruppen und damit aber auch die Abgrenzung gegenüber allen Außenstehenden stärkt.387

Auch eine Weiterentwicklung von einem »Ego-System-Bewusstsein« hin zu einem »Öko-System-Bewusstsein«i&& klingt zwar schön und wünschenswert, aber nicht wirklichkeitsnah. Nicht weit davon entfernt ist die Hoffnung, dass im Sinne einer Emergenz viele kleine evolutionäre und geistige Schritte irgendwann einen qualitativen Sprung ermöglichen könnten.

Weiter werden eine »moralische Phantasie« und »moralische Ökonomie« propagiert, die gemeinsam als individuelles und soziales Vermögen eine »moralische Intelligenz«^9 bilden würden. Auch wird eine neue Erziehung gefordert, die Zusammenarbeit, Partizipation und Kreativität fördere390, oder eine Bildung, die die Menschen zu »Persönlicher Meisterschaft« heraufführe391. In ähnlicher Weise wird an anderer Stelle betont, dass es entscheidend sei, ob ein Mensch sich zu seinen höheren Fähigkeiten aufschwinge oder hinter sie zurückfalle.392 Ernst Friedrich Schumacher schreibt hier in seinem »Rat für die Ratlosen« optimistisch, dass der Mensch - auf der obersten Stufe von vier Seinsstufen (Materie, Pflanze, Tier, Mensch) - nahezu unbegrenzt entwicklungsfähig sei, es gebe keine erkennbare Grenze dessen, was der Mensch tun könne. Aber bei den meisten Menschen bleibe die Fähigkeit zur Selbstreflexivität bis zum Ende ihres Lebens nur Anlage, so unterentwickelt, dass sie selten aktiv werde und dann nur für jeweils kurze Augenblicke. Seine Folgerung ist daher:

Um unsere Seinsstufe zur Entfaltung kommen zu lassen, müssen wir einen Lebensstil wählen, der solchem Streben för-


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derlich ist. Das aber ist einer, der unserer niedrigeren Natur gerade so viel Aufmerksamkeit und Sorge zuwendet, wie sie braucht, und uns viel Zeit und Aufmerksamkeit zur Förderung unserer höheren Entwicklung lässt.393

In naher Zukunft lässt sich diese »höhere Entwicklung« wohl sogar durch gezielte Eingriffe in die Genstrukturen fördern. Julian Savulescu, Neuro-Ethiker in Oxford, hält dies für wünschenswert, »um die moralischen Defizite von Menschen auszugleichen, Empathie zu steigern und Gewaltbereitschaft zu senken«.394

Viele der kurz genannten Vorschläge klingen futuristisch-überzogen, oder bleiben vage und sind von der gewünschten zukünftigen Situation her gedacht. Sich zu überlegen, wie denn die Welt einmal aussehen soll, und dies als Vision zu skizzieren, ist durchaus sinnvoll, läuft aber Gefahr, reines Wunschdenken zu bleiben. Schön wäre es ja schon, wenn wenigstens ein neues Denken einkehren würde. Aber auch im Bereich der Nachhaltigkeit lässt sich etwa mit Vorträgen in Wirtschaftskreisen gut Geld verdienen, und Schubladendenken ist auch hier noch nicht überwunden.395 Mit obigen Überlegungen zu »niedrigerer Natur« des Menschen und »höherer Entwicklung« aber sind wir bei einer noch weitergehenden Diskussion angelangt.

Natur und Kultur, Humanität und Ökologie, Cut und Böse

Der Mensch besteht doch aus mehr als nur aus niederen Instinkten und Trieben, wird immer wieder, zu Recht, angeführt. Es stellt sich aber die Frage, ob der Mensch mit seinen außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten heute in der Lage ist, grundlegende ökologische Regelkreise günstig zu beeinflussen, die andernfalls seine Existenz bedrohen könnten. Und kann er im Rahmen sich wahrscheinlich doch zuspitzender ökologischer Veränderungen seinem hohen Anspruch entsprechend human reagieren, oder drohen archaisch heftige Konflikte, wie oben angedeutet?

Schon länger wird diskutiert, ob der Mensch überhaupt unter diesen biologisch-ökologischen Aspekten zu betrachten ist, wo er sich doch dank seiner geistigen Fähigkeiten insbesondere seit der Aufklärung,


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etwa in Philosophie und Naturwissenschaften, eine eigene Welt konstruiert hat. Natürlich können wir nun alle möglichen Theorien und Erkenntnisse heranziehen, so aus den Gesellschafts-, Kognitionswissen-schaften, der Ethnologie und Anthropologie und anderen, um damit zu belegen, dass der Mensch sich doch längst vom primitiven Verhalten eines Steinzeitmenschen befreit hat. Aber warum es dann zum Holocaust kam, warum wir ein enormes Selbstvernichtungspotenzial aufgebaut haben, warum wir die Welt aufheizen und warum wir unfähig sind, adäquat auf die gegenwärtige Situation zu reagieren, ist damit leider nicht erklärt. Die Überlegung etwa, nur der westliche Kapitalismus sei schuld daran, und damit seinerseits eine Fehlentwicklung kultureller Evolution, greift zu kurz, die Wurzeln sind tiefer.

Der biologisch orientierte Sozialphilosoph John Gray meint, wir würden uns über unser Menschsein nur Illusionen machen.396 Wir seien keine überwiegend moralisch handelnden autonomen und willensfreien Subjekte. Vielmehr würden die meisten-von uns zumeist von Instinkten beherrscht und getrieben, wie andere Tiere auch. Er spricht daher nicht vom »homo sapiens«, sondern vom »homo rapiens«, also dem raffenden und raubenden Menschen.

Ist der Mensch so gesehen ausschließlich ein Tier, und insofern gar nicht von der Natur zu unterscheiden? Das wird nicht jeder so sehen. Allein die Verallgemeinerung »Mensch« ist zu grob - es gibt viele Menschen auf der Welt, die die Umwelt kaum schädigen, aber unter dem Verhalten der industrialisiert lebenden Menschen zu leiden haben. Täter und Opfer sind somit oft nicht identisch, meint daher die Ethikerin Uta Eser.397 Nicht der Mensch sei schlecht, sondern bestimmte Handlungen bestimmter Menschen. Dem ist allerdings insofern zu widersprechen, als offenbar auch die Menschen, die diese »schlechten Handlungen« (etwa eines vermehrten Konsums mit entsprechendem Rohstoffbedarf) bisher kaum oder nicht begehen, dann ebenso dafür anfällig sind, wenn die Bedingungen es erlauben, was in etlichen Entwicklungs- und Schwellenländern zunehmend der Fall ist. Gerne greifen sie unsere Lebensstile auf. Und bei anderweitig sich verändernden Umgebungsbedingungen können auch empathisch-»gute« Menschen bei uns und anderswo wieder »schlecht« werden.


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Eser betont, dass etliche Gegensatzpaare überwunden werden müssen, um den Gegensatz zwischen Humanität und Ökologie zu verringern:

Humanität - Ökologie

Freiheit - Naturgesetze

Gleichheit, Gerechtigkeit - Natürliche Unterschiede

Mensch als bestimmender Faktor - Mensch in Natur eingebunden

Individuum - Gesamtheit/Kollektiv

Menschliche Bedürfnisse - Selbstwert der Natur

Kultur - Wildnis

Entwicklung - Bewahrung

Anthropozentrik - Biozentrik  (398)

Sie fordert daher, weg von einem »Entweder-oder« hin zu einem »Sowohl als auch« zu kommen. Ähnlich sieht dies der Geobiologe und Paläontologe Reinhold Leinfelder, wenn er feststellt, dass wir ein untrennbarer Teil des Systems seien.399 Der Dualismus zwischen »guter Natur« und dem Menschen mit »böser Technik« sei überholt, Natur und Kultur seien Teile eines Systems geworden.

Auch der Philosoph Joachim Kahl führt die Gegensätze zusammen: zu einem Humanismus auf der Höhe der Zeit gehöre, dass der Mensch im Stufengang der Evolution als deren höchste Komplexitätsausgabe erkannt und zugleich das Doppelgesicht, die Ambivalenz alles Menschlichen, begriffen werde.400 Wir Menschen hätten gleichursprünglich und gleichrangig in uns gute und böse Anlagen, dies von Natur aus, als anthropologische Konstanten. Je nach den gesellschaftlichen Umständen und je nach erfolgreicher oder missglückter Erziehung würden sie wirksam (auch er betont somit die Umgebungsbedingungen). Ein endgültiger »Sieg« der einen Konstante über die andere, etwa als Sieg der Wahrheit über die Lüge oder des Mitleids über die Gewalt, wäre ein naturwidriges eschatologisches Wunder.

Es erscheint daher im Sinne der Gegensatzüberwindung nicht angemessen, nur die guten Seiten des Menschen und seine großen Fähigkeiten zu betonen, oder gar auf eine grandiose Vollendung des Einzelnen zu hoffen (was Kahl wohl mit »eschatologisch« meint), dabei aber seine destruktiven Anteile zu ignorieren. Kahl führt weiter dazu aus:


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Denn der Mensch ist nicht nur das mitfühlendste, klügste, phantasiebegabteste und humorvollste Lebewesen. Er ist auch, und zwar gleichzeitig, das grausamste, hinterhältigste, niederträchtigste Wesen unter der Sonne, wobei seine Klugheit diese Anlagen eiskalt zum blutigen Exzess steigern kann. Statt einem Prinzip Hoffnung das Wort zu reden und von einem luftigen Reich der Menschlichkeit zu schwärmen, das Jahrmillionen währen soll, gilt es, hier und heute das Gewaltmonopol eines demokratischen und sozialen Rechtsstaates zu sichern und die wohltätigen und kooperativen Anlagen im Menschen durch eine kluge humanistische Erziehung zu fördern.401

Mit unseren speziellen Denkfähigkeiten haben wir große kulturelle Leistungen vollbracht, um speziell menschliche Bedürfnisse zu erfüllen, wie etwa Spiritualität und Kunst. Mit den gleichen Fähigkeiten aber haben wir unsere Existenzgrundlagen beschädigt, so dass nun die Aufgabe besteht, die großen Fähigkeiten anders einzusetzen als bisher. Von daher ist neben dem grundsätzlich richtigen Appell an Empathie auch ein größeres Maß an menschlicher Demut und Bescheidenheit angeraten, gerade vor den Gesetzen der Natur, und vor neuen etwaig wieder folgenreichen Entscheidungen. Alle Rufe danach, was der Mensch jetzt tun oder wie er sich hin zu einer höheren Stufe entwickeln müsse, drohen seine dominante Stellung im Ökosystem zu zementieren, die gleichzeitig mit Blick auf die von ihm verursachten Schäden kritisiert wird. Fortschritte wie technische Wetterbeeinflussung und Genmanipulationen etwa verschärfen eher oben aufgeführte Gegensätze. Vielleicht muss einfach einmal nicht alles gemacht werden, was möglich ist. Dafür allerdings wäre alles Tun und Lassen nach den planetaren Konsequenzen zu befragen, die es nach sich ziehen kann.402 Die Weiterentwicklung des Menschen hin zu solcher Reflexion sowie zur Selbstbeschränkung wäre wünschenswert, erscheint aber fraglich. Global denken und global empathisch sein ist überfordernd.

* * *

Für die Bewältigung der ökologischen Krise vorgeschlagene Werte, wie die oft geforderte Empathie, aber auch Emotionen, zwischenmenschliche Beziehungen und eine mentale Weiterentwicklung, haben für Psycho­therapeuten eine zentrale Bedeutung. Sie werden uns gleich beschäftigen.

Insgesamt aber stellt sich die Frage, wie realistisch eine rasche Entstehung neuer Werte - oder die Rückkehr zu sehr alten Werten aus Zeiten vor Eigentum, Macht und Konkurrenz - zur Bewältigung der ökologischen Krise ist, sieht man sich die Bedingungen an, die dafür nötig sind. Erst extremere Erlebnisse und Selbsterfahrungen führen zu einer »emotionalen Ergriffenheit« und dadurch zu neuen Einstellungen. Durch wohlgemeinte Appelle an rationale Einsicht oder Vorschriften, was sich zu ändern habe, erscheint dies wiederum unwahrscheinlich.

Wenn aber eine Werterneuerung, zwischenmenschliche Beziehungen und emotionales Ergriffensein so wesentlich sind, auch aus soziologischer Sicht, und wenn Empathie, Reflexivität, Demut, Bescheidenheit, Selbsterfahrung und Selbsttranszendenz so wünschenswert sind, und wenn die Menschheit in ökologischer Hinsicht schon so schwer psychiatrisch erkrankt ist, wie weiter oben behauptet, könnten dann nicht Psychologen und Psychiater zur Verbesserung der heutigen Situation beitragen?

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