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2.     Die Ungeplantheit der Stammesgeschichte     Lorenz-1983

 

  Der Begriff der Teleonomie 

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Wenn man als vergleichender Anatom oder auch als vergleichender Verhaltensforscher mit irgendeinem Abschnitt des organischen Werdens vertraut geworden ist, gerät man nicht selten in einen merkwürdigen Konflikt. Man ist hin- und hergerissen zwischen dem bewundernden Erstaunen über die geradezu genialen Konstruktionen der Evolution und der Enttäuschung über so manche für unser Hirn naheliegenden Problemlösungen, die das evolutive Werden nicht gefunden hat: wieviel eindeutig Unzweckmäßiges wird von Generation zu Generation mitgeschleppt!

Viele Wissenschaftler neigen dazu, den Grad der Zweckmäßigkeit zu überschätzen, so z. B. Nicolai Hartmann, wenn er meint, Zweckmäßigkeit sei a priori einsichtig und habe daher den Charakter einer Kategorie des Organischen. Er sagt: »Es leuchtet nämlich durchaus am Wesen der Sache ein, daß ein Organismus mit unzweckmäßigen Organen, Gliedern, Formen und Funktionen nicht lebensfähig sein kann.«

Dieser Satz ist eindeutig überspitzt; ihm muß die von Oskar Heinroth immer wieder gepredigte Erkenntnis gegenübergestellt werden: »Es gibt im Organischen nicht nur das Zweckmäßige, sondern auch alles, was nicht so unzweckmäßig ist, daß es zur Ausmerzung der betreffenden Art führt.« Der zitierte Satz von Nicolai Hartmann ist also selbst dann nicht ganz richtig, wenn man ihn wie der Philosoph »nur auf Wesentliches und Lebensrelevantes bezieht«.

Die Irrtümer und Sackgassen, in die das evolutive Geschehen durch augenblickliche Vorteile gelockt werden konnte, sind alles andere als irrelevant für das weitere Werden der betreffenden Stammesreihe. Das wurde in den ersten Kapiteln meines Buches »Die Rückseite des Spiegels« ausführlich besprochen.

Die »Zweckmäßigkeit« des Körperbaus wie des Verhaltens jedes Lebewesens richtet sich ausschließlich und nachweislich auf die Erzeugung möglichst reichlicher Nachkommenschaft, d. h. auf das Überleben der Art - auf nichts sonst. Die Frage, wozu die Katze spitze, krumme Krallen hat, und die Antwort »zum Mäusefangen«, sind Kurzschrift für die Frage, welche arterhaltenden Leistungen den Selektionsdruck ausgeübt haben, der den Katzen diese Art von Krallen angezüchtet hat.

Wir bezeichnen diese Frage nach der arterhaltenden Zweckmäßigkeit als die teleonome Frage, im Gegensatz zu der nach dem Sinn des Daseins suchenden teleologischen.

  Das Unzweckmäßige 

Gustav Kramer hat in seiner Schrift »Das Unzweckmäßige in der Natur« viele Beispiele für dieses Phänomen gebracht, von denen hier nur eines angeführt sei: Im Verlauf des Übergangs zum Landleben wurde die Schwimmblase des Fisches zum Atemorgan. Beim Fisch, ja, schon bei den kieferlosen Cyclostomen (z. B. Neunaugen], sind im Kreislauf Herz und Kiemen hintereinander geschaltet, d. h., das ganze vom Herzen gepumpte Blut muß zwangsläufig das Atemorgan passieren, das aus dem Atemkreislauf kommende sauerstoffreiche Blut wird unvermischt in den Körperkreislauf geleitet. Da die Schwimmblase ein vom Körperkreislauf versorgtes Organ ist, läuft zunächst, auch nachdem sie zur Lunge, d. h. zum alleinigen Atemorgan des Tieres, geworden ist, das aus ihr kommende Blut in den Körperkreislauf zurück, der daher gemischtes, teils sauerstoffarmes aus dem Körper kommendes, teils sauerstoffreiches, aus der Lunge kommendes Blut führt.

Diese technisch höchst unbefriedigende Lösung wurde von allen Lurchen und beinahe allen Reptilien beibehalten. Alle diese Tiere sind, was selten zusammenfassend betont wird, in höchstem Grade ermüdbar. Ein Frosch, der nach einer Anzahl von Sprüngen nicht irgendeine Deckung erreicht hat, kann leicht gegriffen werden; dasselbe gilt auch von den gewandtesten und schnellsten Echsen. Kein Lurch und kein Reptil ist andauernder Muskelarbeit fähig, wie sie Haie, Knochenfische oder Vögel zu leisten vermögen.

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Unter den Reptilien haben nur die Krokodile eine vollständige Scheidewand, die das rechte Herz vom linken Herzen und damit den Lungenkreislauf vom Körperkreislauf trennt. Sie sind jedoch Abkömmlinge eines wahrscheinlich auf zwei Beinen gehenden und recht bewegungsfähigen Reptilienstammes, der den Ahnenformen der Vögel in mancher Beziehung nahesteht. Außer bei Krokodilen sind Atemkreislauf und Körperkreislauf nur bei Vögeln und Säugetieren völlig getrennt und werden nacheinander vom Blut durchlaufen: Die Lungenvenen führen frisch durchlüftetes, rein arterielles Blut, das in das linke Herz fließt und von da in den Körperkreislauf gepumpt wird, während das rechte Herz rein venöses Blut aus dem Körperkreislauf erhält und in die Lunge pumpt. Es hat also von der Entstehung der ersten Landwirbeltiere bis zu der der höchsten Reptilien und der Vögel gedauert, bis die »provisorische Konstruktion«, den Lungenkreislauf »im Nebenschluß« zum Körperkreislauf zirkulieren zu lassen, einer Lösung wich, die den Wirkungsgrad des Zirkulationssystems der Fische wieder erreichte, das zusammen mit der Kiemenatmung aufgegeben wurde.

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Funktionswechsel

Die Frage, ob eine genetisch programmierte Struktur oder Funktion »zweckmäßig« sei, kann selbstverständlich immer nur in bezug auf ganz bestimmte Umweltbedingungen gestellt werden. Geringe Veränderungen des Lebensraumes können Einrichtungen unzweckmäßig werden lassen, die eben noch von größtem Arterhaltungswert gewesen waren. Aber auch die primär vom Organismus selbst bewirkten Veränderungen, beispielsweise die Eroberung einer neuen ökologischen Nische, können viele strukturelle und funktionelle Eigenschaften, die bis dahin arterhaltend wirkten, indifferent oder schädlich werden lassen. Zum Glück für den Stammesgeschichtsforscher wird die »Anpassung von gestern« mit großer Konservativität lange mitgeschleift. Das »Gerümpel« nicht mehr gebrauchter Strukturen wird dann oft in einer Weise benutzt, die seinem ursprünglichen Zweck »entfremdet« ist, was man als »Funktionswechsel« zu bezeichnen pflegt.

Die Ausnutzung von Möglichkeiten, die durch brachliegende »Strukturen von gestern« geboten werden, erscheint oft geradezu genial. Ein schönes Beispiel ist der »Umbau« der ersten Kiemenspalte primitiver Fische zum äußeren Gehörgang von Fröschen, Reptilien, Vögeln und Säugetieren. Als unsere Vorfahren vom Wasserleben zum Landleben, von der Kiemenatmung zur Lungenatmung übergingen, wurden die Kiemenspalten funktionslos, durch die bisher Atemwasser geströmt war.

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Der Skelettapparat, der die Kiemenbögen stützte, fand zum Teil im Zungenbein und im Kehlkopf Verwendung, die Spalten aber wurden geschlossen und verschwanden - bis auf eine: Die vorderste Kiemenspalte, das sogenannte Spritzloch, das bei den Rochen und bei vielen Haien als Einatmungsöffnung funktioniert, führte nahe am Labyrinth vorbei, am Organ der Schwere- und Beschleunigungswahrnehmung. Im buchstäblichen Sinn »lag es nahe«, den früher wasserführenden Kanal mit diesem ohnehin erschütterungsempfindlichen Apparat in Verbindung zu bringen und ihn, nunmehr mit Luft gefüllt, als ein Schallwellen leitendes »Hörrohr« zu verwenden.

Ein zweites, noch erstaunlicheres Beispiel von Funktionswechsel hängt ebenfalls mit der Entstehung des Ohres zusammen. Das Kiefergelenk der Fische, Lurche, Vögel und Reptilien wird aus zwei Knochen gebildet: erstens aus dem mit dem Schädelskelett ziemlich fest verbundenen Os quadratum und zweitens aus dem den hintersten Teil des Unterkiefers bildenden Os articulare. Als aus Reptilien Säuger wurden, löste sich das Articulare vom Kiefer und das Quadratum aus seiner festen Verbindung mit der Schädelbasis. Das erste trat mit dem Trommelfell, das zweite mit dem inneren Ohr in Verbindung, und beide wurden zu Schallwellen übertragenden Organen, den sogenannten Gehörknöchelchen.

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Gleichzeitig bildete sich weiter vorne ein neues Kiefergelenk aus. In dieser Gleichzeitigkeit liegt ein schwieriges mechanisches Problem, da zwei an denselben Skelettelementen hintereinanderliegende Gelenke einander blockieren müssen.

Der Funktionswechsel verschleiert ein wenig die Häufigkeit, mit der Organe ihre ursprüngliche Zweckmäßigkeit verlieren, weil eine nicht mehr

(in ihrer ursprünglichen Funktion gebrauchte Struktur fast immer zu irgendeinem anderen Zwecke verwendet werden kann, etwa so, wie man aus einem alten Kleidungsstück einen Putzlappen macht. Selbst der Blinddarmfortsatz des Menschen dient als Basis für Lymphgewebe (abgesehen davon, daß er, wie mein Vater zu sagen pflegte, in »fremddienlicher Zweckmäßigkeit« zur Ernährung der Chirurgen beiträgt). Was alles aus einem nicht mehr gebrauchten Organ entstehen kann, ist schier unglaublich. Aus einer Kiemenspalte wird ein Ohr, aus einem Kiefergelenk werden Gehörknöchelchen, aus dem Scheitelauge alter Vertebraten ist unsere Zirbeldrüse, ein Organ innerer Sekretion, geworden und aus dem Endostyl, einem mit Flimmerhärchen bekleideten Filterapparat der allerersten Wirbeltiere, die Schilddrüse, um nur einige Beispiele zu nennen.

Manchmal hat man geradezu den anthropomorphen Eindruck, als würde dem funktionslos gewordenen Organ wie einem unbrauchbar gewordenen Beamten als »Gnadenbrot« irgendeine Funktion zugewiesen, die, vom ganzen Organismus her gesehen, eigentlich entbehrt werden könnte. In Wirklichkeit ist es natürlich so, daß

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das Vorhandensein ungebrauchten Gewebes, ja, schon das des Raumes, den das zwecklos gewordene Organ einnahm, einen Selektionsvorteil bietet, der die Phylogenese dazu »verführt«, diese »billige Gelegenheit« einem anderen Zwecke nutzbar zu machen, zu dem man bei besserer Voraussicht ein von Grund auf neu geschaffenes Organ verwenden würde.

Vorausschauen aber kann die Phylogenese nicht; auch kann der Organismus seine Lebensfunktionen nicht für die Zeit unterbrechen, die zur Umkonstruktion nötig wäre, und ein Schild aufstellen: »Wegen Umbau geschlossen«.

Diese für die gesamte Stammesgeschichte kennzeichnenden Vorgänge bringen es mit sich, daß ein Organismus niemals einem Gebäude gleicht, das von einem menschlichen Intellekt vorausschauend geplant wurde und in dem von vornherein alle nötigen Teile zweckmäßig entworfen wurden. Er gleicht vielmehr dem Haus eines Siedlers, der sich, um überhaupt einen Unterschlupf zu haben, zuerst eine einfache Blockhütte baute, dann aber, dem Anwachsen seiner Familie und seines Wohlstandes entsprechend, ein größeres Haus errichtete, die alte Hütte aber keineswegs abriß, sondern als Lagerschuppen, Stall oder sonstwie verwendete. Der Stammesgeschichtler kann vorgehen wie ein Kunsthistoriker, der beim Studium einer alten Kathedrale die Etappen ihres Baus und ihre Geschichte analysiert.

Aber der Kulturgeschichtler wird nur selten finden, daß die Zielsetzung des Bauens, während

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es im Gange war, so weitgehend verändert wird, wie dies der Stammesgeschichtler bei seinem vergleichbaren Forschen so oft feststellen muß.

Zickzackwege der Phylogenese

Es mag bei menschlichen Planvorhaben vorkommen, daß plötzlich eintretende unvorhergesehene Umstände dazu zwingen, die schon hergestellten Strukturen zu einem völlig anderen Zweck zu verwenden, als vorgesehen war. Man hat aus Schlössern Schulen oder Altersheime gemacht oder aus alten Schiffen Kasernen. In der Stammesgeschichte aber finden sich Kurswechsel, die eine unvergleichlich schärfere Abweichung von der vorherigen und schon durch lange Zeiträume verfolgten Anpassungsrichtung bedeuten. Solche Kurswechsel sind manchmal durch »Erfindungen« erklärbar, die in einem bestimmten Lebensraum gemacht wurden und die betreffenden Tiere befähigten, andere und neue ökologische Nischen zu besiedeln. Eine interessante »Erfindung« dieser Art ist die Schwimmblase der Fische. Ihre primäre Funktion war die eines Atemorgans, und sie entstand wahrscheinlich in sumpfigem Süßwasser von niedrigem und wechselndem Sauerstoffgehalt.

Die Schwimmblase war die Voraussetzung für die Eroberung des trockenen Landes durch die Vorfahren von Lurchen und Reptilien, gleichzeitig aber eröffnete sie als ein hydrostatisches Organ die Möglichkeit, in Fische ein festes Knochenskelett einzubauen, dessen Gewicht ohne den Auftrieb der Luftblase im wahrsten Sinne des Wortes »untragbar« gewesen wäre.

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Um zu verstehen, warum Knochenfische und nicht Knorpelfische wie die Haie in gewaltiger Überzahl die Meere bevölkern, muß man selbst einen kleinen Hai und einen Knochenfisch von vergleichbarer Größe in Händen gehalten haben, um die Überlegenheit der Körperkräfte zu ermessen, die dem Knochenfisch aus der Hebelwirkung seiner festen Knochen erwächst.

Einen der merkwürdigsten und radikalsten Kurswechsel, den wir in der Geschichte höherer Tiere kennen, ist die Rückkehr von vierfüßigen und landlebenden Reptilien und Säugetieren ins Weltmeer.

Ich denke hier nicht an die Entstehung von wasserbewohnenden Vierfüßlern, die, wie etwa Meeresschildkröten, Krokodile, Seehunde und Seelöwen, die allgemeine Form der Vierfüßler beibehalten haben, sondern an die Tiere, die in ihrer Körperform und in der Mechanik ihrer Fortbewegung wieder völlig fischartig geworden sind: die Ichthyosaurier unter den Reptilien und die Wale unter den Säugern. Schon das althergebrachte Wort Walfisch zeigt, daß man diese Tiere lange Zeit für Fische gehalten hat.

Man muß sich vergegenwärtigen, wie viele Schritte der Phylogenese getan werden mußten, um Wirbeltiere von Wasserbewohnern zu Landbewohnern werden zu lassen, wie weit der Weg vom Fisch zum Säugetier ist, um die ganze Erstaunlichkeit eines »Unternehmens« zu würdigen, das aus einem Säuger wieder einen »Fisch« macht.

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Verglichen mit menschlicher Zwecksetzung käme das dem Verfahren eines Technikers gleich, der ein Automobil zu bauen beginnt und, wenn der Wagen fast oder ganz fertig ist, ein Motorboot daraus macht.

Die Fischform und die fischähnliche Bewegungsweise waren für die Reptilien begreiflicherweise leichter zu erreichen als für die Säuger. Die meisten Reptilien hatten und haben auch heute noch eine lange, seitlich biegsame Wirbelsäule, die sich auch beim Laufen auf trockenem Lande noch merklich schlängelt, und alle diese Formen schwimmen, wenn man sie ins Wasser wirft, »wie die Fische«.

Zur vollendeten Anpassung an diese Art der Fortbewegung war es nur nötig, vertikale Flächen, vor allem eine Flosse an den vortreibenden Teilen des Schwanzes, sowie eine reibungs-mindernde Stromlinienform des Körpers herzustellen. Als viele Millionen Jahre früher die Fische eine Schwanzflosse »erfanden«, entwickelten die meisten von ihnen diese Flosse an der Bauchseite des Schwanzendes, das sich ein wenig nach oben abwinkelte. Die Morphogenese der Schwanzflosse aller Knochenfische und deren erwachsene Form bei Haien und Stören zeigen diese Konstruktion noch heute.

Die Ichthyosaurier »wählten« das umgekehrte Verfahren, was bei Betrachtung der heute lebenden, ans Schwimmen angepaßten Reptilien begreiflich erscheint:

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Bei diesen wird die vertikale Ruderfläche des Schwanzes durch Hautkämme, hohe Schuppen und dergleichen nach oben hin verbreitert, während seine ventrale Fläche - die ja beim Kriechen auf dem Land meist am Boden schleift - flach bleibt. Wahrscheinlich war dies der Grund, warum den Ichthyosauriern die Schwanzflosse auf der Rückseite ihres Schwanzendes gewachsen ist.

Der Rückweg der Säugetiere zur Fischform war viel weiter: Ihre Wirbelsäule war kürzer geworden, ihr Schwanz hatte sich verdünnt und seine Muskulatur weitgehend eingebüßt. Bei der Lokomotion bewegt sich ihr Rumpf nicht mehr seitlich schlängelnd, als Rest dieser Bewegungsweise ist nur noch die Koordination der Beinbewegungen beim Schritt und beim Trab übriggeblieben: Das Hinterbein der einen Seite wird in beiden Gangarten gleichzeitig mit dem Vorderbein der anderen bewegt, wie sich dies aus der Rumpfschlängelung uralter Vorfahren ergeben hat. Wenn Säugetiere schwimmen - und das können fast alle -, »gehen« die meisten von ihnen auch im Wasser einen raschen Schritt, dessen Bewegungskoordination sich nicht merklich von der des Gehens auf festem Boden unterscheidet. Nur stark wasserangepaßte Formen wie Fischotter, Biber und Nutria paddeln bei lässigem Vorwärtsschwimmen nur mit den Hinterpfoten.

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Die Säugetiere verfügen neben dem Schritt aber noch über eine andere Bewegungskoordination des Laufens: über den »Galopp«, der in verschiedenen Varianten, vom einfachen »Frontstützwechsel«, bei dem beide Vorder- und beide Hinterbeine gleichzeitig bewegt werden, bis zu der komplizierten Bewegung von Huftieren, fast immer der möglichst schnellen Ortsveränderung dient.

»Langsam Galoppieren«, meist als »Hoppeln« bezeichnet, findet sich bei den Hasenartigen (Lagomorphae) und bei den Känguruhs. Schritt und Trab sind bei diesen Tieren verschwunden, Hasen benutzen die beidbeinige Sprungbewegung auch zum Schwimmen, so daß sie stoßweise durchs Wasser gleiten, Känguruhs hat anscheinend noch niemand schwimmen gesehen.

Je kürzer die Extremitäten eines Säugetieres sind, desto mehr tritt bei ihm das Traben vor dem Galoppieren zurück, bei desto geringeren Geschwindigkeiten »fällt es in Galopp«. Wie aus dem Bild des galoppierenden Hundes sehr schön hervorgeht, spielt bei dieser Gangart die Bewegung des Rumpfes, nämlich seine Krümmung und Streckung in der Mittelebene (Sagittalebene) des Tieres, eine große Rolle; der große Vorteil des Galoppierens liegt darin, daß die Rumpfmuskulatur, die bei Schritt und Trab kaum gebraucht wird, für die Lokomotion nutzbar gemacht wird.

Die Säugetier-Wirbelsäule ist - angepaßt an die verschiedenen Gangarten - in der lotrechten Ebene beweglicher, und die Muskulatur, die solche Bewegungen bewirkt, ist stärker ausgebildet als die zur seitlichen Bewegung. Wenn Säuger zu Wassertieren werden und aufs neue die zur Lo-

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komotion in diesem Medium so dienliche Schlängelbewegung ausbilden, so liegt es näher, die Wellen in der Lotrechten verlaufen zu lassen als in der Waagrechten.

Mit anderen Worten: Das »undulierende« Schwimmen von Wassersäugern ist wohl vom Galopp abgeleitet. Demgemäß entstehen auch die vortreibenden, dem Wasser Widerstand leistenden Flächen, die notwendigerweise rechtwinkelig zur Ebene der Bewegung stehen müssen, in der Waagrechten: Der verbreiterte Schwanz mancher Fischottern, der Ruderschwanz des Bibers und die Schwanzflosse der Wale sowie die der Seekühe bilden horizontale Flächen. Auch die Seelöwen, die sogenannten Ohrenrobben (Otariidae), »schwimmen im Galopp«, nicht aber die Seehunde (Phocidae): diese führen mit ihrem Hinterende und mit den Hinterbeinen seitlich schlängelnde Bewegungen aus; die Flächen ihrer vortreibenden Ruderfüße stehen lotrecht.

Es ist eine ganze Reihe von Säugetierstämmen ins Wasser gegangen. Die Marderähnlichen (Mustelidae] unter den Raubtieren (Carnivora) scheinen dazu besonders begabt, wegen der Kürze und Breite ihrer Beine und der Beweglichkeit ihres Rückgrats. So finden sich unter ihnen alle nur denkbaren Übergangsformen zwischen dem den Iltissen nahestehenden, gut tauchfähigen Nerz über Fischotter, Meerotter bis zum südamerikanischen Riesenotter, der den echten Robben in so vielen Punkten ähnelt, daß man kaum daran zweifeln kann, daß diese aus gleicherweise

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ans Wasserleben angepaßten Marderartigen entstanden seien.

Gegen diese Annahme spricht allerdings, daß Ohrenrobben (Otariidae) und Seehunde (Phocidae) auf verschiedene Weise schwimmen, was meines Erachtens dazu zwingt, für diese Gruppen getrennte Ursprünge anzunehmen. Bei beiden Gruppen ist der Schwanz, der bei den Ottern flossenartig verbreitert und für das »Galoppschwimmen« wesentlich ist, auf einen kurzen Stummel reduziert. Bei beiden funktionieren die Hinterfüße als »Schwanzflosse«; sie stehen aber, wie gesagt, bei den Otari-iden waagrecht und bei den Phociden lotrecht. Otariiden und Phociden sind wahrscheinlich unabhängig voneinander entstanden.

Bei den Seekühen (Sirenia) und den Walen (Cetacea) sind die Hinterbeine völlig verschwunden, dem Vortrieb dient eine aus Haut und Bindegewebe aufgebaute Schwanzflosse - ein für Säugetiere völlig neues, nur im Dienste der Wasseranpassung entstandenes Organ. Die Sirenen stammen von Säugetieren ab, die den Elefanten und den Schliefern [Hyracoidea] nahestanden. Den Ursprung der Wale suchte man früher ebenfalls in dieser Gruppe; neuerdings neigen die vergleichenden Anatomen dazu, die Ahnen der Wale in Raubtieren, etwa in primitiven Marderartigen, zu sehen. Dafür spricht, daß die Wale - im Gegensatz zu den ausschließlich pflanzenfressenden Sirenen - fast durchwegs reine Fleischfresser sind; lediglich einige Flußdelphine nehmen auch etwas vegetabilische Nahrung auf.

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Wenn man in Rechnung stellt, welche offensichtlichen Nachteile der Konstruktion einem Lebewesen anhängen, das schon zum warmblütigen und luftatmenden Landtier geworden war, wenn es wieder zum Meerestier wird, so wundert man sich, daß sich dies »lohnt«.

Man kann jede Tier- oder Pflanzenart als ein sich selbsterhaltendes »Unternehmen« auffassen.

Schon die Heizung kostet bei den oft in polaren Regionen lebenden Walen gewaltige Energiemengen, wenn auch die dicke Specklage, die gleichzeitig als hydrostatisches Organ der Schwebefähigkeit und konturausgleichend der Stromlinienform dient, eine sehr gute Wärmeisolierung darstellt. Dafür verliert das Fett die Funktion der Energiereserve, denn es darf ja nicht angegriffen werden. Die Ernährung der Wale ist auch aus einem zweiten Grund eine nicht ganz problemlose Angelegenheit: Sie müssen nicht nur ihren Energie-, sondern auch ihren Wasserbedarf aus ihren Beutetieren gewinnen. Man weiß von gefangengehaltenen Delphinen, daß sie, wenn sie aus irgendwelchen Gründen die Nahrung verweigern, viel schneller verdursten, d. h. an Entwässerung zugrunde gehen, als sie verhungern würden.

Eine andere Schwierigkeit, die durch hochinteressante Spezialanpassungen teilweise, aber nie ganz überwunden wurde, liegt für die Wale in der Notwendigkeit, zum Atmen an die Oberfläche des Wassers zu kommen. Wale können zwar sehr lange den Atem anhalten, ertrinken aber, wenn man sie in Netzen zu fangen versucht, ungemein leicht, wovon die Fänger und Tierpfleger der modernen großen Ozeanarien ein recht trauriges Lied zu singen wissen.

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Besondere Schwierigkeiten bereitet auch die Geburt. Wale und Sirenen sind die einzigen Säuger, die überhaupt nie an Land gehen, also auch im Wasser gebären. Die augenfällige Gefahr, daß das Neugeborene ertrinkt, wird bei Walen durch hochinteressante Instinkthandlungen gebannt: Ein anderes, mit der Gebärenden befreundetes Weibchen, sehr häufig ihre erwachsene Tochter, steht schon während der Geburt bereit, um das Junge, sowie es erscheint, an die Meeresoberfläche zu tragen. Sie balanciert dabei das Baby auf ihrem Kopf, und zwar in der richtigen Lage, um seine Atemöffnung, das sogenannte Spritzloch, über das Wasser zu heben.

Wenn man sich die vielen Hilfsmechanismen von Struktur und Verhalten vor Augen hält, mit deren Hilfe Schwierigkeiten umgangen und Probleme gelöst werden, die sich aus der Umkonstruktion eines landbewohnenden Säugetiers zu einem Wasserbewohner ergeben, so bewundert man, wie so oft, die »Genialität« der »wohldurchdachten« Maßnahmen und Zusatzerfindungen; andererseits kann man aber nicht umhin, zu staunen, daß ein so einschneidender Wechsel der Anpassungsrichtung überhaupt »lohnt«, mit anderen Worten, daß der Wassersäuger sich in Konkurrenz mit den »berufenen« Wassertieren, den Fischen, halten kann.

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Sackgassen der Evolution

Der Weg der Evolution ist ganz offensichtlich von dem Zufall bestimmt, der eine bestimmte Erbänderung in einer ebenso bestimmten, augenblicklich vorhandenen Umwelt mit einem Selektionsvorteil belohnt. Wie oft dieser Weg die Richtung wechseln kann, haben wir soeben erfahren. Er hinterläßt seine Spuren in Gestalt der auf S. 31 besprochenen »Anpassung von gestern« in den Strukturen der Lebewesen, die es dem Stammesgeschichtsforscher erlauben, seinen Verlauf zu rekonstruieren.

Das Genom selbst enthält das Ergebnis einer Unzahl von Erbänderungen und Selektionsvorgängen; es enthält aber keinerlei »Aufzeichnung« über die Reihenfolge dieser Ereignisse. Da die einzelne Erbänderung zufallsbedingt und ungerichtet vor sich geht, ist es von nur in astronomischen Ziffern ausdrückbarer Unwahrscheinlichkeit, daß die Evolution jemals genau denselben Weg zurückgehen sollte, den sie gekommen ist.

Diese aufgrund unseres heutigen Wissens über genetische und phylogenetische Vorgänge selbstverständliche Tatsache hat schon vor vielen Jahren der belgische Paläontologe Louis Dollo aufgrund seiner vergleichend-stammesgeschichtlichen Untersuchungen erschlossen und das Gesetz von der »Irreversibilität der Anpassung« aufgestellt.

Je spezieller die Anpassung ist - mit anderen Worten, je weiter und verschlungener der Weg aufeinanderfolgender mutativer und seligieren-

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der Vorgänge gewesen ist, der zum gegenwärtigen Zustand einer Art geführt hat -, desto unwahrscheinlicher wird es, daß die Anpassung rückgängig gemacht wird. Wenn ein Selektionsdruck auftritt, der ihr Rückgängigwerden vorteilhaft macht, geht die Evolution so gut wie immer einen anderen Weg als den, auf dem sie gekommen ist.

Wenn z. B. eine Gruppe von Fischen in Anpassung an das Leben auf dem Grund des Wassers das hydrostatische Organ der Schwimmblase abgebaut hat und daher weit schwerer als Wasser und nicht mehr schwebefähig ist, aus irgendwelchen Gründen Formen hervorbringt, die frei schwimmen, so wird nicht das rudimentär gewordene Luftbläschen aus der Rumpelkammer geholt, sondern ein neuer Schwebeapparat in Gestalt von Tragflächen »erfunden«, die meist von den Brustflossen gebildet werden, wie bei den Knurrhähnen (Triglidae] und bei den Flughähnen (Dactylopteridae), denen man, eben wegen dieser Tragflächen, lange Zeit fälschlicherweise Flugvermögen zugeschrieben hat.

Ein anderes und noch schöneres Beispiel für den in Rede stehenden Vorgang führt O. Abel in seinem Lehrbuch der Paläozoologie an. Der schwere Panzer der Schildkröten entstand bei landbewohnenden Formen durch Verbreiterung der Rippen und der Dornfortsätze der Wirbel, die schließlich zu einem geschlossenen Panzer verschmolzen. Die Gruppe eroberte, wahrscheinlich auf dem Weg durch Süßwassersümpfe, das offene Meer, und der schwere Panzer der terrestri-

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schen Vorfahren wurde durch die Bildung von Lücken (Fontanellen], die von den Außenrändern des Rückenschildes gegen die Wirbelsäule zu fortschritt, leichter gemacht; ebenso traten im Bauchpanzer Rückbildungen ein.

So entstanden Hochseeformen mit sehr leichten und im Interesse der Stromlinienform nur sehr flach gewölbten Panzern. Von derart hochspezialisierten Hochseeschildkröten sind in der älteren Tertiärzeit Formen abgezweigt, die zum Leben in Küstenregionen zurückgekehrt sind, wo der Besitz eines starken Panzers von Vorteil war. Bei diesen Tieren bildete sich über den Rudimenten des alten Knochenpanzers ein neuer aus, der aus kleinen, mosaikartig aneinanderstoßenden, unregelmäßig polygonalen Platten bestand. Die Nachkommen dieser sekundär zu Küstenbewohnern gewordenen Seeschildkröten, wie das im Eozän bis Pliozän vorkommende Psephophorus, sind nun neuerdings zu Hochseetieren geworden, bei denen sich die Reduktion des Knochenpanzers wiederholt hat. So erklärt sich anhand fossiler Formen die sonst ganz unerklärliche Tatsache, daß die heute lebende hochseebewohnende Lederschildkröte zwei übereinander liegende Panzer trägt, die beide rückgebildet und nicht funktionstüchtig sind.

In gewissem Sinne ist auf lange Sicht die hohe Spezialisierung immer gefährlich für die betreffende Lebensform. Es ist nicht nur sehr unwahrscheinlich, daß sie den »Weg zurück« findet; mit zunehmender Spezialisierung nimmt auch die

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Wahrscheinlichkeit ab, daß überhaupt ein neuer und anderer Weg gefunden werden kann, falls sich der begangene als Sackgasse erweisen sollte. Die Zahl der Verwendungsmöglichkeiten jeglicher Struktur, auch der eines menschengemachten Werkzeugs, nimmt mit seiner Spezialisierung ab.

Je weiter eine spezielle Anpassung getrieben ist, desto weniger verträgt sie eine Veränderung dessen, woran sie angepaßt ist. Schwalben und Mauersegler sind in bewundernswerter Weise an das Fangen fliegender Insekten angepaßt; die Arten dieser Gruppen sind erfolgreich und in großer Individuenzahl über die nördliche gemäßigte Zone verbreitet. Bei keiner anderen Vogelart kennen wir so vernichtende Katastrophen, wie sie diese Arten betreffen, wenn durch plötzlich und frühzeitig eintretendes herbstliches Schlechtwetter der Insektenflug aufhört, ehe die Vögel ihren Herbstzug angetreten haben.

Die phylogenetische Spezialanpassung ist einem kommerziellen Unternehmen zu vergleichen, das große Summen in die Fabrikation eines neuen Artikels investiert, ehe man weiß, wie lange die »Konjunktur« für seinen Absatz anhalten wird. Je spezieller die Fabrikeinrichtung, desto unwahrscheinlicher ist es, daß sie nach Aufhören dieser Konjunktur zu etwas Anderem verwendbar sein wird. Was den Artenwandel ebenso wie das menschliche Unternehmen zu den abwegigsten Spezialanpassungen veranlassen kann, ist ein augenblicklicher großer Gewinn.

Dem in meinem Buch »Die Rückseite des Spiegels« besprochenen Effekt der positiven Rückwirkung von Kapital- und Informationsgewinn folgt die Phylogenese ohne jede einsichtige Voraussicht - das menschliche Industrieunternehmen indessen oft trotz dieser.

Die Wirkung innerartlicher Konkurrenz

Die natürliche Selektion bevorzugt durchaus nicht das, was auf lange Sicht für die Art vorteilhaft ist, sondern belohnt blindlings alles, was im Augenblick einen größeren Fortpflanzungserfolg gewährt. Besonders klar tritt diese Blindheit in jenen Fällen zutage, in denen dieser Erfolg nicht von Umständen der außerartlichen Umwelt abhängt, sondern von der Interaktion zwischen Artgenossen. Der innerartliche Wettbewerb kann bizarre Bildungen zur Folge haben, die den Interessen der Art im Wege stehen. In Fällen, wo die Auswahl des Geschlechtspartners dem Weibchen obliegt, wie dies bei sehr vielen kollektiv balzenden Vögeln, aber auch bei höheren Säugern vorkommt, kommt es zur Ausbildung von Balzorganen, die ausschließlich durch das Ansprechen von angeborenen Auslösemechanismen der Weibchen seligiert werden. Die Konkurrenz der Männchen ist dann so gut wie ausschließlich auf die Entfaltung der wirksamsten »Werbetechnik« begründet.

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Besonders unsinnig scheint das, wenn zur Ausbildung wirksamer Signalorgane Strukturen herangezogen werden, die im Dienste einer anderen Funktion stehen, welche durch diese Differenzierung beeinträchtigt wird. So sind z. B. beim Argusfasan die Armschwingen des Männchens um ein Vielfaches verlängert und mit wunderschönen, wie aufgemalt wirkenden Augenflecken geziert. Voll erwachsene Argushähne können zwar noch fliegen, sind aber deutlich flugbehindert. Die Ausbildung der Armschwingen muß einen Kompromiß bilden zwischen den Anforderungen, die an die Fluchtfähigkeit des Hahnes gestellt werden, und jenen, die der »Geschmack« des Weibchens an sie stellt: Wenn der Vogel allzu schlecht fliegt, tötet ihn ein Bodenraubtier, ehe er Junge zeugen kann; wenn seine Armschwingen nicht eindrucksvoll genug sind, bleibt er ebenfalls ohne Nachkommen, weil das Weibchen einen anderen Hahn bevorzugt.

Ein anderes Beispiel für einen Irrweg, in den intraspezifische Selektion eine Tierart gelockt hat, ist eine Gruppe von Säugetieren: die Hirsche. Bei den großen Gattungen und Arten dieser Gruppe tragen die Männchen stets ein großes Geweih, das aus Knochensubstanz besteht. Es wird alljährlich abgeworfen und wächst neu. Man muß sich vor Augen führen, welche Nachteile dieses Gebilde für die Art mit sich bringt. Es bedeutet erhebliche Kosten, jedes Jahr einen oft viele Kilogramm schweren Baum aus Knochen wachsen zu lassen. Das Geweih ist, solange es noch wächst und von einer behaarten Haut, dem

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»Bast« überzogen ist, außerordentlich verwundbar und muß bei Arten, die in dichtem Wald leben, die Bewegung erheblich behindern - so genau auch die Hirsche über die Ausmaße der ausladenden Spitzen orientiert sind und so geschickt sie auch mit den Stangen zu manövrieren wissen. Dies alles aber wird seligiert, weil das Geweih während der wenigen Wochen der Brunft im Rivalenkampf gebraucht und außerdem als optischer Auslöser von den Damen verlangt wird. A. Bubenik hat nachgewiesen, daß man mit einem künstlichen und übertrieben großen Hirschgeweih den Harem vom stärksten Platzhirsch weglocken kann.

Seligiert wird eben das, was im Augenblick und unter den vorherrschenden Bedingungen die größte Nachkommenschaft verspricht, und nicht, was der Arterhaltung auf lange Sicht dienlich und in diesem Sinne teleonom ist.

Zu den für die Arterhaltung sinnlosen und ungünstigen und nur durch die Vorteile für das Genom des Individuums seligierten Eigenschaften und Verhaltensweisen gehört auch der Kindermord, der bei Langur-Affen (Semnopithecinae) und bei Löwen beobachtet wurde. Bei beiden Arten besitzt ein Männchen einen Harem von mehreren Weibchen. Wenn der bisherige Pascha einem anderen weichen muß, beißt dieser sämtliche noch mit ihren Müttern lebenden Nachkommen tot, was für ihn einen Fortpflanzungsvorteil bedeutet, weil die Mütter daraufhin früher in neue Brunst kommen und von ihm begattet werden können.

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Was mit posthumen Nachkommen des früheren Haremsbesitzers geschieht, scheint nicht bekannt zu sein. Von manchen Beobachtern wird übrigens der von Y. Sugiyama beschriebene Kindermord der erwähnten Affen für eine pathologische Ausnahmeerscheinung gehalten, was in Anbetracht der Seltenheit der Erscheinung nicht ganz unwahrscheinlich ist.

Die in diesem Abschnitt besprochenen Funktionen der Selektion, die der Erhaltung der betreffenden Art deutlich schädlich sind, stellen meines Erachtens ein starkes Argument für die Annahme dar, daß dem Evolutionsvorgang kein eingebauter Plan innewohnt, der zu einer Entwicklung in Richtung größerer Vollkommenheit der Anpassung führt und noch weniger eine Entwicklungstendenz »nach oben« bewirkt.

Die Anpassung an eine bestimmte Gegebenheit ist mit dem Erwerb von Information über sie gleichzusetzen. Innerartliche Selektion bewirkt nur Information über die Eigenschaften des Konkurrenten, mit dem man in Wettbewerb steht. Die Art »erfährt« durch intraspezifische Selektion nichts über die Außenwelt und gerät also, was diese betrifft, ungemein leicht in höchst unteleonome Sackgassen der Evolution.

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   Abbauende Evolution oder »Sacculinisierung« 

Es wurde im Vorangehenden wohl zur Genüge gezeigt, daß die Evolution von jedwedem erreichten Entwicklungsstadium aus in beliebiger Richtung weitergehen kann, blindlings jedem neu auftauchenden Selektionsdruck folgend. Wir wollen uns darüber im klaren sein, daß in dem eben gebrauchten Begriff einer Evolutions-»Richtung« ein zunächst unreflektiertes Werturteil enthalten ist. Von diesem wird im zweiten Teil des Buches gesprochen werden. Für den gegenwärtigen Zusammenhang ist es völlig ausreichend, daß jeder von uns versteht, was gemeint ist, wenn man von einem höheren oder einem niedrigeren Lebewesen spricht.

In diesem Abschnitt soll nun von einer Evolutionsrichtung gesprochen werden, die zu einer Wertverminderung zu führen scheint.

Es ist nahezu unmöglich, einen unmittelbar verständlichen Ausdruck für diesen Vorgang zu finden.

Die Worte Involution, Dekadenz oder auch Degeneration haben alle Bedeutungen, die dem hier in Rede stehenden Vorgang nicht entsprechen. »Abbauende Evolution« ist vielleicht der beste Ausdruck. Dieser ist so spezifisch, daß ich versucht war, ihn nach einem eindrucksvollen Beispiel »Sacculinisierung« zu nennen. Das eindeutige, aber einer Definition bedürftige Wort »Sacculinisierung« wählte ich nach einem Lebewesen, an dem der Vorgang abbauender Evolution besonders anschaulich wird.

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Der Krebs Sacculina carcini ist wahrscheinlich ein Abkömmling des großen Stammes der Ruderfußkrebse (Copepoda), vielleicht auch der Rankenfußkrebse (Cirripedia). Als frisch aus dem Ei geschlüpfte Larve ist dieser Krebs ein typischer Nauplius, d. h. ein sechsbeiniges Krebschen, das rasch durchs Wasser rudert und mit einem Zentralnervensystem ausgestattet ist, dessen Programmierung es ihm erlaubt, den prospektiven Wirt, die Strandkrabbe Carcinides maenas, aufzusuchen und sich gezielt an ihrer Unterseite an der Grenze zwischen dem Kopfbruststück und dem Schwanz festzusetzen und einzubohren.

Sowie dies gelungen ist, wachsen aus dem Vorderende des Krebschens strukturlose Schläuche in den Körper des Wirtes, den sie durchdringen wie das Mycel eines Pilzes seinen Nährboden. Auge, Extremitäten und Nervensystem des Parasiten verschwinden völlig; er wächst an der Außenseite des Wirtes zu einer riesenhaften Geschlechtsdrüse aus, die an größeren Krabben Kirschgröße erreichen kann.

Analoge Erscheinungen finden sich bei vielen Parasiten, außerdem aber auch an vielen Tierarten, die nicht als Schädlinge wirken, sondern der anderen Tierart ausgesprochen nützen - bei sogenannten Symbionten. Symbionten, die Erscheinungen abbauender Evolution zeigen, sind z. B. sehr viele unserer Haustiere, die allmählich aller jener speziellen Anpassungen verlustig gehen, die ihren Vorfahren zum unabhängigen Überleben in der Wildnis unentbehrlich waren.

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Fast alle Haustiere haben viel von der Bewegungsfähigkeit ihrer undomestizierten Vorfahren verloren; alle haben nur in Hinsicht auf jene Eigenschaften gewonnen, die dem Menschen dienlich sind und auf die er bewußt oder unbewußt einen Selektionsdruck ausübt. Man nennt diese Vorgänge der »Haustierwerdung« herkömmlicherweise Domestikation. Unser ästhetisches Empfinden bewertet die meisten Domestikationserscheinungen negativ. Julian Huxley sprach von »Vulgarisation«.

In der Tat wirken die meisten undomestizierten Ahnenformen unserer Haustiere im Vergleich zu diesen ausgesprochen »edel« - es gibt aber mindestens zwei vielsagende Ausnahmen. Ich pflegte in der Vorlesung immer Wildform und domestizierte Form nebeneinander zu zeigen und dann unvermittelt ein arabisches Vollblutpferd und ein Przewalski-Wildpferd in umgekehrter Reihenfolge. Da brauchten dann selbst Eingeweihte einige Sekunden, um sich darüber klarzuwerden, daß der Araber die Domestikationsform des Przewalski-Pferdes sei.

Was in ästhetischer Hinsicht für das Pferd gilt, gilt in Hinsicht auf soziale Verhaltensweisen für den Hund. Der Mensch hat rund 14. 000 Jahre auf eine sowieso schon hochsoziale Wildform eine scharfe Selektion ausgeübt, und zwar auf die Entwicklung von Eigenschaften, die als menschliche Tugenden gelten: Liebesfähigkeit und Treue, Mut, Tapferkeit und Gehorsam. Was Wunder, wenn in diesem Zeitraum Wesen entstanden, die uns in all diesen Eigenschaften übertreffen.

Die Evolution, die sich bei Parasiten wie bei Symbionten findet, hat immer die Partnerschaft zu einer anderen Lebensform zur Voraussetzung, die jene Funktionen übernimmt, die bei ihrem Schmarotzer oder Partner abgebaut werden. Die Strandkrabbe findet Nahrung, bringt sich in Sicherheit und vollbringt unzählige andere Funktionen, und der Parasit »verläßt« sich darauf, daß der Wirt sie übernimmt. In gleicher Weise ist das Haustier auf menschliche Funktionen angewiesen.

Die Frage, ob eine Spezies der abbauenden Evolution verfallen kann, ohne daß eine andere Lebensform - Wirt oder Symbiont - vikariierende Leistungen vollbringt, ist sehr wichtig. Wir kennen ein einziges sicheres Beispiel für das Auftreten von Domestikations­erscheinungen an einem freilebenden und sicher nicht parasitischen Tier, nämlich am Höhlenbären. Wilhelm von Marinelli hat bei seiner Untersuchung von Höhlenbärenskeletten aus der Drachenhöhle bei Mixnitz in der Steiermark eindeutige Domestikationserscheinungen gefunden, die in der gesamten Tierwelt sonst nur von Haustieren, insbesondere vom Haushund, bekannt sind. Der Höhlenbär war das Leitfossil seiner Zeit und das größte und wehrhafteste Tier seines Lebensraumes. Es hat sicher kein noch größeres Raubtier gegeben, das Höhlenbären gefressen hat.

Dies ist der einzige Hinweis darauf, daß Anzeichen abbauender Evolution auch dann auftreten können, wenn kein Wirt oder symbiontischer Partner Ersatz für verlorengehende Differenzierungen leistet.

Diese Frage ist für uns Menschen deshalb lebenswichtig, weil unsere Art schon heute in körperlicher Hinsicht unverkennbare Domestikationserscheinungen zeigt und weil ein Abbau spezifisch menschlicher Eigenschaften und Leistungen das erschreckende Gespenst der Unmenschlichkeit beschwört.

Wenn man die Anpassungsformen des Parasiten nach der Menge von abbildender Information beurteilt, so findet man einen Verlust von Information, der durchaus unserer gefühlsmäßigen negativen Bewertung des Parasiten entspricht. Die erwachsene Sacculina carcini hat über keinerlei Einzelheiten ihres Lebensraumes Information, außer über ihren Wirt.

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