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3.  Die schöpferische Evolution    Lorenz-1983

 

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Anpassung als kognitiver Vorgang

Durch die Ergebnisse von Manfred Eigen wissen wir heute, daß die Entstehung des Lebens durchaus kein Geschehen von so ungeheurer Unwahr-scheinlichkeit war, wie alle nichtvitalistischen Biologen und Philosophen bis dahin angenommen haben. Rupert Riedl hat in seinem Buch »Die Strategie der Genesis« überzeugend dargestellt, daß der Zufall in vielfacher Weise eingeengt ist: sowohl durch den Gewinn, den er in einigen Fällen bringt, als auch vor allem durch die komplexe Wechselwirkung zwischen den Genen, die keineswegs unabhängig voneinander in Aktion treten, wie man es sich früher vorgestellt hat.

Wir sind nach wie vor davon überzeugt, daß eine Erbänderung, durch die sich die Überlebenschancen eines Organismus verbessern, sehr unwahrscheinlich ist, doch steht dieser Unwahr-scheinlichkeit gegenüber, daß eine solche Erbänderung, wenn sie dem Organismus neue Möglichkeiten zur Beherrschung seiner Umwelt eröffnet, sich in einem entsprechenden Ausmaße bezahlt macht. Jede Erbänderung, die dem Organismus eine neue Möglichkeit bietet, mit seiner Umwelt fertig zu werden, bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß neue Information über diese Umwelt in das organische System hineingelangt ist. Anpassung ist ein essentiell kognitiver Vorgang. Diese Einsicht hilft uns zu verstehen, daß die intraspezifische Selektion eben gerade keine Anpassungen bewirkt: Die dem Organismus durch sie eingespeisten Erkenntnisdaten haben keinerlei Bezug auf die Umwelt; sie beziehen sich ausschließlich auf Eigenschaften der Art.

Das Material, an dem Selektion angreift, besteht immer aus den Eigenschaften des Phänotypus, die auf rein zufälligen Veränderungen oder Neukombinationen von Erbanlagen sowie natürlich auf Modifikationen beruhen.  ; diese Aussage erscheint jedoch als unwahrscheinlich, weil die wenigen Milliarden Jahre der Existenz unseres Planeten nicht ausgereicht hätten, um die Entstehung höherer Lebewesen und des Menschen aus virusähnlichen Vor-Lebewesen auf diesem Weg zu ermöglichen.

Wir wissen jedoch durch die Ergebnisse von Manfred Eigen, daß die möglichen Auswirkungen des Zufalls »gezähmt« werden, und zwar einerseits schon durch chemische Eigenschaften der Elemente und durch die komplexe Wechselwirkung zwischen den Genen, die, wie Rupert Riedl gezeigt hat, keineswegs so unabhängig voneinander in Aktion treten, wie man früher geglaubt hat.

Wir sind unverändert der Anschauung, daß eine Mutation, durch die sich die Überlebenschancen einer Spezies verbessern, höchst unwahrscheinlich ist. Doch steht dieser Unwahr-scheinlichkeit die ebenso gewaltige Verbesserung der Lebens- und Fortpflanzungschancen gegenüber, die im Gefolge jener glücklichen Erbänderung auftritt. Der Wissensgewinn, der in der neuen Anpassung liegt, trägt durch einen weiteren »Kapitalzuwachs« Zinsen, nämlich durch das Anwachsen der Zahl der überlebenden Nachkommen. Mit dieser Zahl steigt auch die Wahrscheinlichkeit, daß es einer dieser Nachkommen ist, dem der nächste »Haupttreffer« zufallen wird. Es besteht also bei allen Lebewesen ein Verhältnis positiver Rückkoppelung zwischen Wissensgewinn und Kapitalzuwachs. Man kann auch diesen Wirkungskreis gut durch den Vergleich mit kommerziellen Unternehmen anschaulich machen. Ein großer chemischer Konzern investiert regelmäßig einen erheblichen Teil seines Reingewinnes in seinen Laboratorien, in der berechtigten Annahme, daß der so erreichte Wissensgewinn sich durch weiteren Kapitalgewinn bezahlt machen werde. (Genau genommen ist dies gar kein Gleichnis, sondern ein Spezialfall; auch Industriekonzerne sind lebende Systeme.)

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Die »Anpassung an« eine gegebene Umwelt bedeutet daher immer das Herstellen einer Entsprechung, die in gewissem Sinne ein Bild dieser Umwelt ist. Donald MacKay spricht in diesem Fall von abbildender Information - ein Begriff, der keineswegs identisch mit dem der Informationstheoretiker ist. Von den einfachsten molekularen Anpassungen frühester Vor-Lebewesen zum wissenschaftlichen Weltbild des denkenden Menschen führt eine lückenlose Reihe von Übergängen.

Dieser evolutionäre Fortschritt ist jedoch nicht identisch mit dem Vorgang, den ich als schöpferische Evolution begreifen möchte. Ich habe die wilden Zickzackwege der Evolution nur deshalb so eingehend geschildert, weil sie eindeutig zeigen, daß dem organischen Werden eine prädeterminierte Richtung nicht innewohnt. Das oft zitierte Beispiel vom Flußdelta trifft auf das Evolutionsgeschehen in einem Punkte nicht zu: Während nämlich alle Wasserläufe stets vorwärts bergab laufen, kann es im Evolutionsgeschehen vorkommen, daß manche Lebensstämme sich rückläufig entwickeln. Von den Viren kann man sogar sagen, daß ihre Entstehung lebendige Materie in nichtlebendige zurückgeführt hat.

Vor allem aber müssen wir uns darüber im klaren sein, daß ein besseres und verläßlicheres Angepaßtsein eines Lebewesens an seine Umwelt mit seiner Differenzierung und der Länge und Komplikation seines Evolutions­weges, mit seiner Entwicklungshöhe, nicht gleichgesetzt werden darf. Ein Pantoffeltierchen ist an die spezielle

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Umwelt seiner Art ebenso gut angepaßt wie der Mensch an seine. Wenn man die Überlebenschancen beider Spezies für die nächste Zukunft unserer Erde gegeneinander abwägt, erscheinen die Aussichten für die »niederere« Lebensform sogar bei weitem besser. Die Vollkommenheit der Anpassung kann ebensowenig zu einer Definition des »Höheren« verwendet werden wie etwa der Grad der Komplexität oder der Grad der Differenzierung und Subordination der Teile unter das Ganze. Bestenfalls könnte man den Umfang des Informationsgehaltes zum Maß organischer Entwicklungs-»Höhe« machen.

Der Weg zum Höheren    ^^^^  

Der Weg, den die Entwicklung eines lebenden Systems nimmt, hängt von äußeren und inneren Zufällen ab; das Lebensgeschehen ist, um Manfred Eigen zu zitieren, »ein Spiel, in dem nichts festliegt, außer den Spielregeln«. Die Evolution, obwohl grundsätzlich nicht zweckgerichtet, ist ein Erkenntnisvorgang. Unsere Einsicht in das Fehlen jeglicher Prädeterminiertheit darf uns indessen nicht der Erkenntnis einer Tatsache verschließen: Die jeweils höchsten Lebewesen einer bestimmten Erdepoche sind ausnahmslos »höhere« Tiere als die der vorangehenden. Wir müßten unserem Wertempfinden Gewalt antun, wollten wir daran zweifeln, daß die Haifische des Devons höhere Lebewesen waren als die Trilobiten des Kambriums, die Lurchreptile der Steinkohlenzeit höhere als die Haifische und die Reptilien des Erdmittelalters höhere als die Lurche.

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Diesem nichtrationalen Bewerten steht zweifellos etwas Wirkliches in unserer Außenwelt gegenüber, und dieses Wirkliche verlangt nach einer Erklärung, die wir vorläufig nur in Form einer recht unsicheren Hypothese zu geben vermögen. Die Anpassung ist an sich nur ein kognitiver und kein schöpferischer Vorgang, doch wird nicht nur das Objekt der Kognition - das »zu Wissende« - im Laufe der Epochen immer vielfältiger, sondern auch das wissende Subjekt. Das Spiel von allem mit allem spielt sich ja nicht nur zwischen Lebewesen und anorganischer Umwelt, sondern auch zwischen den unzähligen Arten existierender Lebewesen ab, und der Charakter dieses Spieles ist durchaus nicht immer und überall ein Kampf um das Dasein, sondern ebenso oft, und vor allem in den großen Zügen, ein Zusammenspiel, eine Symbiose. Ein Ökosystem ist ein ungemein kompliziertes Gebilde mit unzähligen fördernden wie hemmenden Wechselwirkungen. Unsere Hypothese besagt, daß es dieses Spiel unzähliger organismischer Wechselwirkungen ist, das die Evolution kreativ werden läßt. Es ist nicht ein allum­fassendes Prinzip, sondern die Wechselwirkung von nahe verwandten und oft sehr ähnlichen Formen, die zu nie dagewesenen »Erfindungen« führt.

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Ein Beispiel aus der Technik zeigt, daß der Selektionsdruck, der zur größeren Differenzierung und Komplikation eines Systems führt, vor allem von nahe verwandten Systemen ausgeübt wird. Henry Fords erstes, weltweit verbreitetes Produkt, die sogenannte „Tin Lizzie", war von durchschlagendem Erfolg in der Konkurrenz mit Pferdefahrzeugen. Ihre Benutzer waren mit dem Zweigang-Planten-Getriebe zufrieden, bei dem man notabene einen harten Druck auf das eine Pedal ausüben mußte, solange der erste Gang in Funktion bleiben sollte. (Die allgemeine Zufriedenheit drückte sich in dem bekannten Ausspruch einer frommen Großmutter aus: »If God had intended the Ford car to have a three speed gear, He would have fitted it with one«: Wenn Gott gewollt hätte, daß der Fordwagen ein Dreiganggetriebe habe, hätte er eines eingebaut). Nicht das Pferdefuhrwerk war es, das Ford später gezwungen hat, Mehrgang-Getriebe einzubauen, sondern die Konkurrenz anderer Autofirmen.

Ein Argument für die Annahme, daß das Spiel von allem mit allem, wie es sich zwischen der Vielzahl zusammenlebender Systeme abspielt, ein wesentlicher Faktor ist, der die Evolution »hinan«-treibt und schöpferisch werden läßt, liegt in der Tatsache, daß die stammesgeschichtliche Entwicklung einzelner Lebensformen nahezu stillsteht, wenn die Auseinandersetzung mit ähnlichen Wesen fortfällt. Dies kann besonders in isolierten ökologischen Nischen der Fall sein; »lebende Fossilien« kennen wir vor allem aus tieferen Meeresschichten.

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Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist der zu den Phyllopoden gehörige Süßwasserkrebs Triops cancriformis. Er hat sich eine wahrhaft »ausgefallene« ökologische Nische errungen, er lebt in Überschwemmungstümpeln, die nur kurze Zeit und keineswegs jedes Jahr mit Wasser gefüllt sind. Die Zwischenzeit überdauert die Art im Ei, das weder durch Trockenheit noch durch Frost geschädigt wird. Der Krebs kommt auf den Überschwemmungs­wiesen meiner engeren Heimat vor. Dank meiner früh erwachten Leidenschaft für Aquarienhaltung und dem aus dieser erwachsenden Spezialinteresse für phyllopode Krebse kann ich mit Sicherheit angeben, daß Triops cancriformis im Jahre 1909, das nächste Mal 1937 und dann wieder im Jahr 1949 aufgetaucht ist (zwischen 1940 und 1949 liegt eine kriegsbedingte Beobachtungslücke). Die wichtige Tatsache ist nun, daß diese Art bereits in der mittleren Trias nachgewiesen ist, und zwar durch den gut erhaltenen fossilen Abdruck des aus Fiederborsten gebauten Filterapparates ganz sicher dieselbe Art, nicht etwa nur dieselbe Gattung.

Was im Lauf der Zeit nach »oben« drängt, mag der Umstand sein, daß im Lauf der Evolution jeder Organismus immer wieder eine neue ökologische Nische schaffen muß, da vorhandene »schon besetzt« sind. Ähnliche Umstände scheinen vorzuliegen, wenn ein Organismus zwei verschiedenen funktionellen Anpassungen gerecht wird, also gewissermaßen zwei ökologische Nischen besetzt. Dies ist schon der Fall, wenn einem Lebewesen mehrere Verhaltensformen

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zur Verfügung stehen, deren jede in einer ganz bestimmten Umweltsituation angewendet werden muß. In diesem Fall ist eine höhere »Kommandostelle« nötig, die imstande ist, mehrere potentiell mögliche Verhaltensweisen total unter Hemmung zu setzen, um eine bestimmte - nämlich die der augenblicklichen Situation adäquate - zu enthemmen. Der übliche Ausdruck, sich zu etwas »entschließen«, bezeichnet einen analogen Vorgang auf höherer Ebene. Eben dies ist aber, wie Erich von Holst am Regenwurm demonstriert hat, die ursprünglichste und wichtigste Leistung einer »gehirnähnlichen« Organisation, wie sie beim Regenwurm und anderen Anneliden im Oberschlundganglion gegeben ist. Eine solche »Kommandostelle« hält die dauernd von der endogenen Reizproduktion des Tieres »angebotenen« Bewegungsweisen unter Hemmung und läßt nur derjenigen freien Lauf, die unter den augenblicklich obwaltenden Umständen ihre arterhaltende Leistung entfalten kann. Die Kommandostelle wird von den Sinnesorganen darüber informiert, welche besondere Umweltsituation zur Zeit gegeben ist, und sie besitzt genetisch programmierte Information darüber, welche von den zur Verfügung stehenden Bewegungsweisen aufweiche Umweltsituation »paßt«. Je mehr diskrete Verhaltensmöglichkeiten einem Tier zur Verfügung stehen, desto vielseitigere und höhere Leistungen werden von dem Zentralorgan verlangt, das sie gewissermaßen verwaltet. Wir kennen schon auf ziemlich einfacher Stufe

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Tiere, die sich in räumlich komplizierter Umgebung gut zurechtfinden, wie Seesterne und manche Schnecken. Sie sind fähig, Weggewohnheiten auszubilden und nach recht komplizierten Weidegängen auf ihren angestammten Sitzplatz zurückzufinden. Bei manchen Napfschnecken (Patelia) paßt sich das Wachstum der Schale an die besonderen Unebenheiten des Sitzplatzes an, von dem das Tier auch mit großer Gewalt nicht losgerissen werden kann. Der besondere teleo-nomische Wert des Zuriickfindens ist hier offenkundig. Andere einfache Tiere vermögen im freien Wasser ungemein schnell zu schwimmen: Die Pfeilwürmer (Chaetognatha) sind wahrscheinlich die im Verhältnis zu ihrer Eigenlänge schnellsten freischwimmenden Tiere, die es gibt. Sie sind jedoch nicht fähig, sich mit festen Hindernissen auseinanderzusetzen, die ihre Schwimmbahn begrenzen.

Wenn wir nun aber nach Tieren suchen, die ebensowohl komplexe Raumstrukturen durch Lernen zu beherrschen vermögen, als auch im freien Wasser blitzschnell zu schwimmen, so müssen wir zu einer sehr viel höheren Ebene von Lebewesen emporsteigen, nämlich bis zu gewissen stachelflossigen Fischen. Es sind dies Formen, die durch räumliches Lernen Wege in dem räumlich reich strukturierten Biotop der Korallenriffe beherrschen. Diese Wegdressuren werden durch exploratives Verhalten erworben. Territoriale Fische »wissen« von jedem möglichen Punkt ihres Revieres den kürzesten Weg zur sicheren Deckung. Die Entwicklungsstufe dieser Fische ist erstaunlich hoch, sie verblüffen immer wieder durch ihre Neugierde und ihre »unfisch-hafte« Intelligenz.

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Kulturelle Evolution    ^^^^  

Über die Richtung, in der die Evolution von Kulturen verläuft, wissen wir aus der Menschheitsgeschichte, daß sie analoge Zickzackwege beschreiten kann wie die genetische Evolution von Tier- und Pflanzenarten. Eine weitere Tatsache, deren wir sicher sind, ist die, daß die kulturelle Evolution - die psychosoziale, wie Julian Huxley sie genannt hat - um ein Vielfaches schneller verläuft als die phylogenetische. Ich habe in meinem Buch »Die Rückseite des Spiegels« den Versuch einer natürlichen Erkenntnistheorie unternommen und die Hypothese aufgestellt, daß das begriffliche Denken des Menschen durch eine Integration mehrerer, vorher schon existenter Erkenntnis­leistungen zustande kam. Unter diesen ist die Fähigkeit der Raumvorstellung als erste zu nennen. Die Anschauungsformen von Raum und Zeit sind, meiner Meinung nach, in Wirklichkeit nur eine, nämlich die Anschauungsform von Bewegung in Raum und Zeit.

Die zweite wichtige Leistung, die mit der Raumvorstellung zusammen die neue Systemfunktion des begrifflichen Denkens möglich macht, ist die Abstraktionsleistung der Gestalt-

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Wahrnehmung, ohne die wir uns in sich konstante Gegenstände gar nicht vorstellen könnten; eine dritte aber ist das explorative Verhalten mit seinem sachlichen Interesse an Gegenständen. Sicherlich hat die sachliche Exploration von Umweltdingen dazu geführt, daß das Einzelwesen auf der Schwelle der Menschwerdung die Tatsache entdeckte, daß seine tastende Hand ein Gegenstand derselben realen Außenwelt ist wie der explorierte Gegenstand. In diesem Augenblick war der erste Brückenschlag vom Greifen zum Begreifen vollzogen.

Noam Chomsky meint, das begriffliche Denken sei im Dienste der Beherrschung der außer-artlichen Umwelt entstanden und habe erst sekundär Beziehungen zur Sprache erlangt. Es gibt für diese Annahme gewiß zwingende Argumente; ich glaube aber dennoch, daß begriffliches Denken und Sprache Hand in Hand entstanden sind, denn sowie auch nur Ansätze zu Begriffen gegeben waren, konnte es nicht ausbleiben, daß sprachliche Symbole dafür gefunden wurden.

Die Entstehung des begrifflichen Denkens und der Wortsprache hat unabsehbare biologische Folgen. Es wurde zwischen Biologen seit der Entdeckung der Evolution viel darüber diskutiert, ob erworbene Eigenschaften vererbt werden könnten oder nicht. Ich habe schon vor Jahren einen sarkastischen Aphorismus geprägt, der besagt: »Daß etwas im allgemeinen nicht vorkommt, wird dem Forschenden oft erst klar, wenn ein

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Ausnahmefall ihm zeigt, wie es aussehen würde, wenn es regelmäßig vorkäme.« Das neu entstandene, nie dagewesene begriffliche Denken des Menschen macht die - selbstverständlich nicht genetische - Vererbung erworbener Eigenschaften möglich. Wenn ein Mensch Pfeil und Bogen erfindet, so hat zunächst seine Familie und sein Stamm, bald aber die ganze Menschheit dieses nützliche Werkzeug, und die Wahrscheinlichkeit, daß es wieder vergessen wird, ist nicht größer als die, daß ein körperliches Organ von vergleichbarer Wichtigkeit rudimentär wird. Die ungeheure Anpassungsfähigkeit des Menschen, der in denkbar verschiedenen Lebensräumen sein Fortkommen findet, ist ein Ausdruck der hohen Geschwindigkeit, mit der sich die kulturelle Evolution vollzieht.

Eine zweite, vielleicht noch wesentlichere Folge des begrifflichen Denkens und der Wortsprache ist das Band, durch das sie Individuen miteinander verbindet. Die schnelle Verbreitung von Wissen, die Angleichung der Meinungen innerhalb einer sozialen Gruppe schafft eine Einigkeit und Brüderlichkeit, wie sie nie vorher existiert hatte. Bänder dieser Art umschlingen größere und kleinere Scharen von Menschen. Gemeinsames Wissen, Können und Wollen schafft eine kulturelle Einheit. Geist ist für mich eben diese durch begriffliches Denken, Wortsprache und gemeinsame Tradition verursachte Grundleistung der menschlichen Gesellschaft. Geist ist ein sozialer Effekt.

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Ich habe schon gesagt, daß ein Mensch, für sich genommen, gar kein Mensch ist: nur als Mitglied einer geistigen Gruppe kann er voll Mensch sein. Geistiges Leben ist grundsätzlich überindividuelles Leben; die individuelle konkrete Verwirklichung geistiger Gemeinsamkeit nennen wir Kultur.

Die Kultur als lebendes System    ^^^^  

So groß auch der Abstand - Nicolai Hartmann würde sagen: der Hiatus - zwischen einer rein genetischen Evolution und dem geistigen Werden einer Kultur zu sein scheint, so bleiben beide doch grundsätzlichen Spielregeln des Werdens unterworfen. Die Annahme, daß die Entwicklung einer Kultur von Einsicht und geistigem Wissen gesteuert werde und in weiser Sicherheit den Pfad zum »Höheren« hin verfolge, ist ein Irrtum. Keine der noch nicht spezifisch menschlichen Grundfunktionen wird durch ihre Integration zum begrifflichen Denken entbehrlich gemacht; keine verliert auch nur im geringsten an Bedeutung. Sie alle sind beim Menschen stärker entwickelt, als irgendeine von ihnen es bei einer Tierart ist, selbst wenn sie bei dieser die lebenswichtigste Funktion erfüllt. Neugierverhalten ist die wichtigste lebenserhaltende Leistung der Ratte - der Mensch ist noch neugieriger. Optische Wahrnehmung gestalteter Ganzheiten ist eine der wichtigsten Leistungen gewisser Vögel, aber der Mensch ist ihnen darin überlegen usw.

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Der menschliche Geist ist von Elementarleistungen abhängig, vor allem vom Gleichgewicht ihres Zusammenspiels, das viel leichter gestört werden kann als jede einzelne der unentbehrlichen Teilfunktionen. Ein geringes Zuviel auf der einen Seite, ein geringes Zuwenig auf der anderen bedeutet eine Erkrankung dieses Geistes. Diese aber ist, bei dem Begriff von Geist, wie ich ihn eben definiert habe, notwendigerweise eine epidemische Erkrankung.

Die Menschheitsgeschichte teilt uns mitleidlos die Tatsache mit, daß Kulturen wie alle lebenden Systeme zugrunde gehen können. Vergleichende Studien, wie sie z. B. Oswald Spengler angestellt hat, sagen uns, daß unsere eigene Kultur am Rande des Grabes steht. Wie schon im Vorwort gesagt wurde, war Oswald Spengler genau das, was Karl Popper einen »historicist« nennt; er glaubte, das Altern und Zugrundegehen von Hochkulturen logisch vorhersagen, d. h. aufgrund einer »Logik der Zeit« und eines »natürlichen Alterns aller Kulturen« erklären zu können.

Nichts liegt dem evolutionären Erkenntnistheoretiker und auch dem Arzt ferner als Fatalismus. Deshalb bin ich verpflichtet, nach Ursachen des Verfalls unserer Kultur zu fahnden und, soweit sie erkennbar sind, Gegen­maß­nahmen vorzuschlagen. In meinem Buch »Die Rückseite des Spiegels« habe ich in dem Kapitel, dessen Titel dem des vorliegenden Abschnittes gleich ist, darzutun versucht, in wie vielen Punkten die Entwicklung einer Kultur derjenigen einer Tier- und Pflanzenart analog ist. Diese Vorgänge spielen sich auf sehr verschiedenen Ebenen ab; dennoch sind beide Systeme »Unternehmen mit gekoppeltem Macht- und Wissensgewinn«.

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Die Analogien zwischen den beiden verschiedenen Arten der Entwicklung gehen so weit, daß sich analoge Methoden ihrer Erforschung ausgebildet haben. Die Kulturgeschichte und insbesondere die historische Sprachforschung verwenden dieselben Methoden wie die Stammesgeschichtsforschung, um aus Ähnlichkeit und Unähnlich-keit der gegenwärtig lebenden Systeme ihre Abstammung zu erforschen und sich Vorstellungen von der gemeinsamen Ahnenform zu bilden. Bis ins vorige Jahrhundert haben Geschichtsphilosophen versucht, an der Theorie einer einheitlichen historischen Entwicklung festzuhalten. Arnold Toynbee und andere haben gezeigt, daß die Entwicklung menschlicher Kulturen einen genauso regellos verzweigten Entscheidungsbaum darstellt, wie ich es in meinem Lehrbuch für den Lebensstammbaum zu zeigen versuchte.

Meines Wissens ist Erik Erikson der erste gewesen, der auf die Parallelen zwischen der Verzweigung des Artenstammbaumes und der historischen Kulturentwicklung hingewiesen hat. Er hat den treffenden Ausdruck »pseudo-specia-tion«, also »Quasi-Artenbildung« geprägt. Kulturgruppen verhalten sich in vieler Hinsicht zueinander wie verschiedene, aber sehr nah verwandte Tierarten. Die nahe Verwandtschaft muß betont werden, weil in keinem bekannten Fall

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zwei menschliche Kulturen sich in ihrer ökologischen Entwicklung so weit voneinander entfernt haben, daß sie, ohne einander Konkurrenz zu machen, im gleichen Lebensraum existieren könnten, wie es z. B. zwei nahe verwandte Entenarten, Löffelente und Stockente, ohne weiteres können. In dem erwähnten Buch habe ich in den Abschnitten über kulturgeschichtliche Ritenbildung und kulturelle Invarianz der wirklichen Leistungen gesprochen, die zur Begrenzung kultureller Gruppen beitragen und sie als Einheiten konstituieren.

Vererbung und Veränderung in der Kultur       ^^^^   

Man ist heute so daran gewöhnt, unter Vererbung den genetischen, d. h. biologischen, Vorgang zu verstehen, der stammesgeschichtlich erworbene Information den Nachkommen übermittelt, daß man den ursprünglichen, juristischen Sinn des Wortes Vererbung zu vergessen geneigt ist. An ihn zu erinnern ist deshalb nötig, weil im Werden einer Kultur die unveränderte Weitergabe gewisser zur Tradition gewordener, also nicht genetisch fixierter Verhaltensnormen eine sehr ähnliche Rolle spielt wie die unveränderte Weitergabe genetischer Information in der Phylogenese. In der Kultur ist das Abweichen von diesen Normen für das Fortschreiten der Entwicklung ebenso unentbehrlich wie die Veränderungen des Erbbildes in der Phylogenese.

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Die ritualisierten Normen sozialen Verhaltens, die uns durch die Tradition unserer Kultur überliefert werden, stellen ein kompliziertes stützendes »Skelett« der menschlichen Gesellschaft dar, ohne das keine Kultur zu bestehen vermag. Wie alle Skelettelemente können auch die der Kultur ihre »stützende« Funktion nur um einen hohen Preis ausüben: Sie müssen nämlich stets gewisse Grade der Freiheit ausschließen. Ein Wurm kann sich an jeder Stelle seines Körpers biegen; wir können unsere Glieder nur an jenen Stellen bewegen, an denen Gelenke vorhanden sind. Jede Änderung der stützenden Struktur hat einen Abbau gewisser Teile zur Voraussetzung, bevor ein Aufbau in neuer und erhofftermaßen besser angepaßter Weise möglich ist. Zwischen Abbau und Wiederaufbau liegt notwendigerweise eine Phase vergrößerter Verwundbarkeit. (Eine Illustration dieses Prinzips ist die Häutung der Krebse, die ihr Außenskelett abwerfen müssen, damit ein größeres wachsen kann.)

Unsere Spezies hat, wie ich glaube, einen eingebauten Mechanismus, dessen lebenserhaltende Wirkung darin besteht, kulturelle Strukturveränderungen möglich zu machen, ohne die gesamte, in der Kulturtradition enthaltene Information dadurch zu gefährden. Ähnlich wie die Mutationsrate genau bemessen sein muß, um die Stammesentwicklung einer Spezies nicht zu gefährden, so muß auch in jeder Kultur das Maß möglicher Veränderungen begrenzt sein. Junge Menschen beginnen mit Herannahen der Puber-

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tat ihre Bindung an die Riten und Normen sozialen Verhaltens zu lockern, die ihnen durch die Familientradition überliefert sind. Gleichzeitig werden sie für neue Ideale empfänglich, die sie zu ihrer eigenen Sache machen können und für die sie vor allem kämpfen wollen. Diese Mauser oder Häutung traditioneller Ideen und Ideale ist eine kritische Phase in der Individualentwicklung des Menschen und bringt Gefahren mit sich. In dieser Entwicklungsphase ist der junge Mensch besonders anfällig für Indoktrinierung.

Dennoch ist diese gefährliche Phase in der Ontogenese des Menschen unentbehrlich, denn sie bietet eine der Möglichkeiten zu Veränderungen in der großen Erbschaft der kulturellen Tradition. Die Krise der Wertung von Idealen ist wie eine offene Tür, durch die neue Gedanken und Erkenntnisse Eintritt erhalten und in die Strukturen einer Kultur integriert werden können, welche ohne diesen kritischen Vorgang allzu starr wäre. Die kultur- und damit lebenserhaltende Funktion dieses Mechanismus hat jedoch eine Art Gleichgewichtszustand zwischen der Unver-änderlichkeit alter Traditionen und der Anpassungsfähigkeit zur Voraussetzung, in dem sie nicht umhin kann, gewisse Teile der traditionellen Erbschaft über Bord zu werfen. Ganz wie in der biologischen Entwicklung der Arten bewirkt ein Übergewicht des Konservativen auch in der Entwicklung von Kulturen die Entstehung von »lebenden Fossilien«, ein Übermaß der Veränderlichkeit dagegen die Entstehung von Abnormitäten. Als Beispiel solcher Fehlentwicklung sozialen Verhaltens seien die Erscheinungen des Terrorismus und so mancher abwegiger Sekten genannt.

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Der in Rede stehende Mechanismus, dessen Funktion es ist, die im Laufe der Kulturentwicklung angehäufte traditionelle Information weiterzugeben und gleichzeitig die Türe für neuen Informationserwerb zu öffnen, ist in unserer westlichen Kultur offensichtlich aus dem Geleise geraten, wie die Häufigkeit der eben erwähnten Monstrositäten beweist. Sehr viele heutige junge Menschen scheinen zu glauben, die gesamte, in unserer kulturellen Tradition enthaltene Information sei entbehrlich. Sie »schütten die Eltern mit dem Bade aus«; sie stehen der älteren Generation überaus kritisch gegenüber. Diese Gegensätze zwischen den Generationen haben ihre Ursache zweifellos in der Schnelligkeit der Entwicklung unserer technologisch orientierten Kultur. Der Abstand zwischen den Interessen einer Generation und der nächsten wird immer größer. Wie Thomas Mann in »Joseph und seine Brüder« so herrlich dargestellt hat, war in biblischen Zeiten der kulturelle Schritt von einer Generation zur nächsten so klein, daß die Identifikation mit dem Vater nicht nur selbstverständlich war, sondern so weit gehen konnte, daß man sich tatsächlich für diesen selbst hielt und seinen Namen annahm. Mit der sprunghaften Zunahme des Entwicklungstempos unserer Zivilisation werden die Generationen einander immer unähnlicher.

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Auch ist es eine nicht wegzuleugnende Tatsache, daß die Menge von Tradition, die von jeder Generation über Bord geworfen werden muß, von Generation zu Generation zunimmt. Vor wenigen Jahrzehnten konnte man z. B. die in dem britischen Spruch »Right or wrong, my country« ausgesprochene Maxime noch hinnehmen, heute kann man das nicht mehr moralisch verantworten.

Während die Generationen einander bei allen Zivilisationsvölkern immer unähnlicher und fremder werden, werden auf der ganzen Erde die Menschen derselben Generation einander immer ähnlicher. Der Ausbau weltweiter Transport-und Verkehrsmöglichkeiten und die immer weiter verbreiteten Medien lassen sozusagen den Erdball kleiner werden. Eigenschaften, die eben noch als Nationaleigenschaften angesehen werden konnten, verschwinden. Noch vor wenigen Jahren konnte man Deutsche, Engländer und Amerikaner am Schnitt ihrer Kleider mit Sicherheit unterscheiden; heute ist das unmöglich. Vor allem die Jugendlichen aller Industrieländer sind einander im äußeren Habitus ähnlich geworden.

Die emotionale Bindung einer neu entstandenen Gruppe an die eigenen Symbole und Ideale läßt sie nicht sehen, wie groß der Wert des wohlerprobten, überlieferten Wissens ist, auf das sie kompromißlos zu verzichten bereit ist. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß mit dem Über-Bord-Werfen einer alten Kultur ganz selbstverständlich und sofort eine neue, bessere entstehen werde.

Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß keine zweckgerichtete Vorherbestimmung des Weltgeschehens unsere Kultur schützt. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß dem Menschen selbst die Verantwortung auferlegt ist, seine Kultur vor Fehlentwicklungen ebenso wie vor dem Erstarren zu bewahren.

Die Ungeplantheit der Kulturentwicklung       ^^^^    

Kulturen entwickeln sich, ganz wie andere lebende Systeme, jede für sich, auf eigene Rechnung und Gefahr und ohne jeden präexistenten Plan. Es fällt vielen Menschen schwer, die Tatsache einzusehen, daß die Entwicklung menschlicher Kulturen »zum Höheren hin« keineswegs ausschließlich durch menschliche Wertempfin-dungen, menschliche Einsicht und menschlichen guten Willen gesteuert wird.

Wir übersehen heute keineswegs alle Faktoren, die unsere kulturelle Entwicklung beeinflussen. Es steht dringend zu hoffen, daß Wertempfindungen unter ihnen eine immer größere Rolle spielen werden. So wie die Dinge auf unserem Planeten heute liegen, scheint es aber, daß auch in der Kulrurentwicklung das Spiel von allem mit allem ohne bestimmte Zielsetzung, sondern nur aufgrund der allgemeinen Beschaffenheit des Lebendigen, in die von uns bewertete Richtung drängt. Es ist die Vielfältigkeit des Selektionsdruckes, die Mannigfaltigkeit der Ansprüche, die

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das große organische Werden nach oben drängt. Nach Hans Freyer war ein sehr plötzliches Aufblühen von Hochkulturen dort zu verzeichnen, wo verschiedene Kulturen, z. B. ackerbauende und nomadische, aufeinander­stießen. Wir müssen die ernüchternde Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß es nicht nur die Ideale und Wertempfindungen unserer Besten sind, die die Entwicklungsrichtung unserer Kultur bestimmen. Diese Richtung scheint vielmehr den uralten Faktoren zu unterliegen, die schon in der Stammesgeschichte unserer vormenschlichen Ahnen am Werke waren.

Es wurde schon in vorhergehenden Abschnitten auseinandergesetzt, daß ein schöpferisches Geschehen offenbar nur dann möglich ist, wenn am »Spiel von allem mit allem« viele Mitspieler beteiligt sind. Das war früher auch in der Entwicklung der Kulturen der Fall, wie Freyer dargestellt hat. Heute aber gibt eine einzige »Kultur« den Ton an: Alle hochzivilisierten Völker der Erde kämpfen mit denselben Waffen, bedienen sich derselben Technologien und - was wohl das Entscheidende ist - handeln auf demselben Weltmarkt und versuchen mit denselben Mitteln, einander zu übervorteilen.

Mit einem Wort: es herrschen im Hinblick auf die Aussichten einer Weiterentwicklung unserer Kultur nahezu analoge Bedingungen, wie sie für die Weiterentwicklung einer Tierart vorliegen, wenn infraspezifische Selektion am Werke ist. Die Aussichten sind also äußerst trübe.

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Homo ludens        ^^^^  

Im Kapitel über die Vorgänge des schöpferischen Werdens müssen auch jene besprochen werden, die sich im Gehirn des Menschen und - auf kollektiver, sozialer Ebene - im Menschengeist abspielen. In einem ganz besonderen Sinne sind nämlich die kreativen Vorgänge, die im Menschen, und nur im Menschen, vor sich gehen, ein Spiel. Friedrich Schiller hat gesagt, daß der Mensch nur dann ganz Mensch ist, wenn er spielt. Wenn Manfred Eigen sein bahnbrechendes Werk »Das Spiel« genannt hat, so bedeutet dies eine Gleichsetzung des schöpferischen Prinzips mit einer Auseinandersetzung von sehr vielen Einzelsystemen, aus deren Mannigfaltigkeit und nach den unbegreiflicherweise vorgegebenen Spielregeln etwas geschaffen wird, das wir als etwas Höheres empfinden - empfinden müssen -, als es die Elemente waren, aus denen es entstanden ist.

Das Neugierverhalten ist schon auf der Ebene des Tieres nur sehr schwer vom Spielen zu trennen, und die nahe Verwandtschaft von Forschen und Spielen wurde mir niemals klarer vor Augen geführt als in jenem glücklichen Sommer, in dem Niko Tinbergen in Altenberg war und in dem wir mit dem Eiroll-Verhalten der Graugans spielten, über das wir dann eine wissenschaftliche Arbeit geschrieben haben. Als Benjamin Franklin elektrische Funken aus der feuchten Drachenschnur gezogen hat, war das ganz sicher kein zweckgerichtetes Verhalten, das die Erfindung des Blitzableiters zum Ziel hatte.

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Die stark anziehende Wirkung eines Zieles hemmt die Fähigkeit des »Herumspielens« mit Faktoren, aus deren Kombination sich eine Problemlösung ergeben könnte. Wolfgang Köhler erzählt von seinem Schimpansen Sultan, wie er sich von dem Problem, zwei Teile einer Angelrute zusammenzustecken, um eine Banane heranzuholen, die mit keinem der Teile allein erreichbar war, abwandte und »ziellos« mit den beiden Stöcken spielte. Als er dabei herausfand, daß sie sich ineinanderstecken ließen, erkannte er allerdings sofort, daß er nun ein Werkzeug besaß, mit dem er sein Ziel erreichen konnte.

Ähnliche Vorgänge haben sich wahrscheinlich bei jeder Erfindung eines Werkzeugs abgespielt. Danach aber stellte sich bei der Herstellung des nunmehr bekannten Werkzeugs ein rein zweckgerichtetes Verhalten ein, das wir Arbeit nennen. Arbeit kann, wie wir im 8. Kapitel besprechen werden, durch die »Funktionslust«, die Freude am eigenen Können, zu einem Selbstzweck werden, was gewisse Gefahren heraufbeschwört. Hier aber, im Kapitel über schöpferische Vorgänge, beschäftigt uns eine andere Freude am Können: Der Mensch, der über verschiedenartige gekonnte Bewegungen verfügt, kann gar nicht umhin, mit ihnen zu spielen, und aus Können und Spielen entsteht die Kunst. Die ursprünglichste Kunst war wohl der Tanz, dessen Urformen sich schon beim Schimpansen andeuten.

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Aber auch bei jeder zweckgerichteten Handlung kann sich das Spielen in die Kette der Geschehnisse einschalten, und bei der Herstellung eines Gebrauchsgegenstandes mag der Arbeitende sich nicht davon zurückhalten lassen, unnötige, aber schöne Verzierungen an seinem Erzeugnis anzubringen. Der vom Homo faber hergestellte Gegenstand gewinnt durch die schöpferische Kraft des Homo ludens ein merkwürdiges Eigenleben. In religiöser Hinsicht verselbständigt er sich zum Kultobjekt, wie Hans Freyer es beschrieben hat. Allerfrüheste Kunstgegenstände sind ganz offensichtlich sakraler Natur.

Karl Bühler hat immer betont, daß Wahrnehmen eine Aktivität ist. Jede kognitive Leistung ist es im gleichen Sinne wie auch jedes explorative Verhalten. Die Abbildung der realen Außenwelt, die in jedem Organismus zustande kommt, ist unvollkommen und verschieden, gibt aber dem Organismus - sei es nun ein Pantoffeltierchen oder ein Mensch - Informationen, die einander, wenn man sie vergleicht, nie widersprechen und die sich nur durch ihren größeren oder geringeren Gehalt an Einzelheiten unterscheiden. Immer aber erhält der Organismus diese Informationen, indem er etwas tut

Aus dem explorativen oder Neugierverhalten entwickelt sich beim Menschen phylogenetisch wie ontogenetisch die Wissenschaft. Sie ist der Kunst wesensmäßig so nahe verwandt wie das Neugierverhalten dem Spiel. Beiden gemeinsam ist eine sehr wesentliche Vorbedingung ihres Funktionierens:

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Beide bedürfen, wie Gustav Bally es in der Terminologie von Kurt Lewin ausgedrückt hat, des »entspannten Feldes«. Anders ausgedrückt: Spiel und Neugierverhalten haben jeweils eigene Motivationen; weder Spielen noch Explorieren kommt je im Dienste einer anderen spezifischen Motivation vor. Der Rabenvogel, der an einem ihm unbekannten Gegenstand hintereinander ein reiches Repertoire von Verhaltensweisen abhandelt, ist von keiner der dabei ins Spiel kommenden und im »Ernstfall« die betreffenden Bewegungsmuster aktivierenden Motivationen bewegt. Er würde ganz im Gegenteil mit der spielerischen Exploration sofort aufhören, würde eine solche in ihm aufquellen.

All dies gilt im Prinzip für die menschliche Kunst und die menschliche Forschung genauso wie für das Spielen und das Neugierverhalten der Tiere. So betrachtet, gibt es, genau genommen, keine »angewandte Kunst« und noch weniger eine angewandte Wissenschaft - es gibt nur eine Anwendung der Kunst oder der Wissenschaft.

Das Gesetz »L'art pour l'art« hat allgemeinste Gültigkeit. In bezug auf die Forschung bestehen sehr ähnliche Gesetze. Die Freiheit des Spiels, die für alles schöpferische Werden auch schon in der Phylogenese Vorbedingung war, ist offenbar für die Kreativität des forschenden Menschen ebenso unentbehrlich. Der Weg zum Ziel oder zu dem, was sich nachträglich als ein erstrebenswertes Ziel erweist, führt anfangs oft in eine ganz unerwartete und scheinbar abwegige Richtung.

Schon bei einem Huhn, das zu einem hinter einem Gitter liegenden Stück Brot strebt, wird der Umweg um den Zaun herum um so schwerer gefunden, je näher am Gitter die Lockspeise liegt und je intensiver damit die Appetenz nach ihr wird. Das Ideenspiel des Forschers entbehrt eines eng definierbaren Zieles ebenso wie das Spiel der Lebensformen in der Phylogenese. Der Forscher weiß nicht, was er finden wird, seine Gestalt­wahr­nehmung erteilt ihm nur eine ungefähre Information, in welcher Richtung sie Interessantes »wittert«. Was dieses Interessante aber nun eigentlich ist, muß er durch ein Verfahren ermitteln, in dem Versuch und Irrtum, Hypothese und Falsifikation eine Rolle spielen, die der Funktion zu gleichen scheint, welche der Mutation und der Selektion im Spiel des organischen Werdens zukommt.

Es gibt Fragen, die der Mensch stellen darf, auch wenn er ihre Unbeantwortbarkeit voraussetzen muß, und in bezug auf solche Fragen ist ihm die Spekulation erlaubt: Ich glaube, daß sowohl die Kunst wie das Erkenntnis­streben des Menschen Erscheinungsformen des großen Spieles sind, in dem nichts weiter festliegt als die Spielregeln; sie sind nur spezielle Fälle des schöpferischen Geschehens, dem wir unsere Existenz verdanken. Auf dieser, einem Glauben gleichzusetzenden Überzeugung beruht auch mein Versuch, im zweiten Teil dieses Buches die Realität und die lebenserhaltende Wichtigkeit menschlicher Wertempfindungen zu erweisen.

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Lorenz-1983