Emile
Zola

 

wikipedia  Autor  *1840


detopia

Z.htm

Dreyfuß-Affäre

Utopiebuch

Der utopische Roman-Zyklus
<Vier Evangelien>

Der Romanzyklus besteht aus
vier Teilen und hat als Dokument
des Fin de Siècle auch
zeitgeschichtliche Bedeutung:

  1. Fécondité (Fruchtbarkeit) (1899).
    In diesem Roman geht es auf der Folie des
    gesamten Komplexes der Geburtenregelung und Eugenik,
    in einem moralisch-biologisch verbrämten Sinn,
    um einen „Betrug“ an der Natur.

  2. Travail (Arbeit) (1901) nimmt auf utopische Weise und auf der Grundlage der Theorien von Charles Fourier die Umwandlung hochkapitalistischer Strukturen in eine Gesellschaft universalen Wohlstands vorweg.

  3. Vérité (Wahrheit) (1903). Dieser Roman überträgt die Dreyfus-Affäre detailreich auf das Schulwesen im inzwischen ausgebrochenen Kulturkampf.

  4. Justice (Gerechtigkeit) (unvollendet)

 

wikipe  Fin_de_Siècle


Nachwort-1983 von Rita Schober     wikipedia  Rita_Schober  1918-2012, mit Foto-2010 

Die Entdeckung des Arbeiters als literarischen Helden für die Weltliteratur

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Zolas Bedeutung für die Gegenwart zu erfassen heißt, ihn in doppelter Hinsicht zu würdigen: als Schriftsteller und als Citoyen. In beiderlei Hinsicht hat Zola Ungewöhnliches geleistet.

Als Anatole France in seiner Grabrede ausrief: „Er war einen Augenblick das Gewissen Frankreichs" — so rief er damit das große Beispiel ins Gedächtnis, das Zola durch sein Auftreten im Dreyfusprozeß gegeben hatte. Und wenn Jean Frdville für sein Gedenkbuch zum 50. Todestag des Schriftstellers 1952 den Titel wählte: „Zola, der Mann, der Sturm säte", so bedeutet diese gleichsam programmatische Zusammenfassung der Wirkung von Zolas Werk letztlich seine Wertung im gleichen Sinne. Der Mann, der im Dreyfusprozeß das Gewissen Frankreichs, ja der Welt wachrüttelte, war zu solcher Tat nicht zuletzt durch sein Schaffen als Schriftsteller und Künstler herangereift.

Als Zola 1898 um der Rettung eines ihm unbekannten, aber — wie er nach dem Studium der Akten fest überzeugt war - zu Unrecht verurteilten Majors der französischen Armee willen seinen Namen, sein Vermögen, sein Familienglück und seine Freiheit aufs Spiel setzte, trat kein unbesonnener Jüngling vor die Schranken des Gerichts, der vielleicht für seine schriftstellerische Laufbahn der Reklame eines öffentlichen Skandals bedurfte, sondern der in diesem Augenblick bedeutendste Schriftsteller Frankreichs, dessen Name in der ganzen Welt bekannt war, dessen Werke in Hunderttausenden von Exemplaren Verbreitung gefunden hatten, der auf der Höhe seines Ruhmes stand und in einem Alter war, wo man die Behaglichkeit eines gepflegten Heims und eines etwas ruhigeren Lebens zu schätzen weiß.

All dies setzte Zola ohne Zögern aufs Spiel, um der Wahrheit und Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen und seinem Vaterland dadurch unauslöschliche Schande zu ersparen. Zolas Schritt wird um so bedeutsamer, wenn man weiß, wie schwer sein Lebensweg von dem armen „verkrachten" Studenten aus der Provence bis zu dem weltberühmten Autor der „Rougon-Macquart" gewesen war.

Zola wurde 1840 in Paris geboren. Drei Jahre später verließ die Familie die Hauptstadt, um nach Aix-en-Provence zu übersiedeln, wo Zolas Vater, ein italienischer Ingenieur, die Bauleitung eines Wasserversorgungskanals für die Stadt übernommen hatte. Durch den unerwarteten frühen Tod des Vaters (1847) wurden Zolas glückliche Kinderjahre in Aix jäh unterbrochen. Frau Zola konnte ihren Sohn nur unter Opfern die höhere Schule besuchen lassen, und als sich die finanziellen Schwierigkeiten häuften, mußte sie in Paris bei einstigen Freunden ihres Mannes Hilfe suchen. So wurde der junge Emile aus seiner vertrauten Umgebung herausgerissen und hatte es


schwer, sich in den neuen Verhältnissen, unter fremden Menschen zurechtzufinden. Seine Freunde, allen voran Cdzanne und Baille, waren in Aix geblieben, und jn seinen Träumen zog es Zola zurück nach der Provence. An die neuen Klassenkameraden, die ihn wegen seiner südfranzösischen Aussprache hänseltön, fand er keinen Anschluß. Kein Wunder, daß Zolas Schulergebnisse nicht die besten waren und er beim Abitur zweimal durchfiel. Ohne Reifezeugnis, ohne finanzielle Mittel oder einflußreiche Beziehungen, mußte er froh sein, als Hilfsarbeiter in den Docks mit einem Monatslohn von 60 Francs unterzukommen. Er scheint allerdings nicht lange in dieser Stellung geblieben zu sein. Wovon er in den folgenden drei Jahren bis 1862, bis zu seinem Eintritt als Expedient in das Verlagshaus Hachette, lebte, ist nicht so recht bekannt. Jedenfalls hat Zola in dieser Zeit das ganze Elend der Großstadt, Not, Hunger und Kälte, am eigenen Leibe erfahren, und ebenso hatte er das Leben der Arbeiter in den Vorstädten und die falsche Romantik der Boheme, die glänzenden Fassaden des Zweiten Kaiserreichs und seine schmutzigen Hinterhöfe aus eigener Anschauung kennengelernt. Diese Erfahrungen haben sein ganzes späteres Schaffen nachhaltig beeinflußt, sie waren, um mit Gorki zu sprechen, „seine Universitäten".

Man könnte Zola auf Grund seines Hauptwerkes, der „Rougon-Macquart", den „Chronisten des Zweiten Kaiserreichs" nennen, jener Epoche, die nach den philanthropischen Träumen der Februarrevolution und den sehr „realistischen" Gewehrsalven Cavaignacs bei der Nieder-knüppelung der Pariser Arbeiteraufstände im Juni 1848 mit dem Staatsstreich Napoleons, des Neffen ßonapartes, unrühmlich begann und mit dem militärischen Zusammenbruch bei Sedan ebenso unrühmlich endete. Denn dieser „dritte" Napoleon hatte von seinem Onkel nichts als den Namen und einen fast krankhaften Geltungstrieb geerbt. Im übrigen besorgte er als weltgeschichtliche Karikatur seines Vorgängers mit unsauberen Mitteln die unsauberen Geschäfte einer Handvoll von Hasardeuren und Abenteurern. Seine Regierung gab sich zwar sozial und fortschrittlich, in Wirklichkeit diente sie der Profitgier einer kleinen Gruppe von Großunternehmern, begünstigte die Millionengeschäfte anrüchiger Geldinstitute und erstickte hinter der glänzenden Fassade rauschender Hoffeste und prunkender Weltausstellungen, auf denen sich die Potentaten Europas ein Stelldichein gaben, jeden Hauch von Freiheit und Demokratie. Ein Regime, das blutig begann, sich durch Blut und Zwang hielt und schließlich in Blut unterging.

Das wahre Wesen dieses Kaiserreichs hinter der goldenen Maske erkannt zu haben war die eine große Erfahrung, die Zola durch seine harten Lehrjahre vermittelt wurde. Die zweite war vielleicht noch wichtiger.

Er hatte jene Kräfte gespürt, die mit ihrem Fleiß, ihrer Arbeit, ihrer Intelligenz, ihrem täglichen Kampf um die elementarsten Menschenrechte das kommende „Jahrhundert der Gerechtigkeit und Freiheit" vorbereiteten: allen voran die Arbeiter, die den von einer kleinen Minderheit vergeudeten materiellen Reichtum schufen; die Baumeister und Ingenieure, die wahre Wunderwerke der Technik mit Kühnheit und Phantasie entwarfen; die Wissenschaftler und Gelehrten, deren Forschen immer weitere Bereiche der Natur erschloß und nutzbar machte; ihnen fühlte er sich verwandt, in ihr Werk wollte er sich mit seinem eigenen Tun einreihen.

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So stand das Ziel seiner künftigen Arbeit als Schriftsteller für ihn unverrückbar fest: eine Literatur zu schaffen, die den Menschen einen Spiegel vorhielt, um ihnen zu helfen, ihre Fehler vor allem bei der Ordnung ihres Gemeinwesens zu erkennen und abzustellen, um ihnen den Glauben an die Kraft der Vernunft, des menschlichen Könnens und Wollens, an Wissenschaft und Wahrheit, an das Schöne und Gute einzuimpfen.

Aber noch hatte er auf dem Weg dahin kaum die ersten Schritte getan. Zwar schrieb er seit Jahren Verse, und mit dem Eintritt bei Hachette war er seinem Traum, die schriftstellerische Laufbahn einzuschlagen, wenigstens „räumlich" ein Stück näher gekommen. Mit dem Wechsel vom Versand in die Werbeabteilung hatte er außerdem direkten Kontakt mit Künstlern und Wissenschaftlern erhalten. Aber es fehlte ihm ganz allgemein noch an Wissen und praktischer Erfahrung beim Schreiben. Herr Hachette, dem er seine lyrischen Versuche vorgelegt hatte, gab ihm den Rat, Prosastücke, Erzählungen zu schreiben. Zola beherzigte diesen Hinweis und konnte schon 1864 seine „Erzählungen für Ninon" veröffentlichen.

Sein weiterer Lebensweg war damit entschieden, und auch das ästhetische Credo des Naturalismus, der neuen Richtung, die er in der Literatur einzuschlagen gedachte, war mit seinen fast gleichzeitig publizierten kunstkritischen Artikeln über die Brüder Goncourt und über Manet proklamiert. Es bedurfte noch eines Werkes, womit er seine künstlerische Eigenheit dokumentierte. Der Roman „Th6rese Raquin" (1867) bewies nicht nur das Talent seines Autors, sondern war eine wenn auch zweifellos im literarischen Gefolge der Brüder Goncourt einherkommende, mit geradezu provokatorischer Konsequenz durchgeführte naturalistische Studie. Das von Taine übernommene, dem Roman vorangestellte Motto „Laster und Tugend sind Produkte wie Vitriol und Zucker" unterstrich die programmatische Absicht des Verfassers. Es erregte ebenso Anstoß wie der Inhalt. Aber der Skandal, der Zola fast seit der ersten veröffentlichten Zeile begleitete, konnte dem jungen Schriftsteller, der nach dem Ausscheiden bei Hachette (1865) von seiner Feder lebte, als willkommene Reklame in gewisser Beziehung nur recht sein. Denn seine finanzielle Lage blieb prekär. Erreichtes und erträumtes Ziel stimmten noch lange nicht überein. Aut Caesar, aut nihil; alles oder nichts, mit dieser Losung war Zola ausgezogen, sich einen Platz unter den ersten Schriftstellern des Landes zu erkämpfen. Teilerfolge konnten ihn weder entmutigen noch befriedigen. Vom ersten Tage seines Schaffens an suchte er nach einem Plan, einem Vorhaben, das durch Größe und Kühnheit seinem Autor den unbestrittenen Vorrang geben mußte. Durch vielfältige Lektüre und Studien vorbereitet, ging er in den Jahren 1868/69 endgültig daran, den ersten Entwurf seiner „Rougon-Macquart" auszuarbeiten. Noch ehe der erste Band abgeschlossen war, brach der Deutsch-Französische Krieg aus.

Als Sohn einer Witwe war Zola vom Heeresdienst freigestellt. Er ging also mit seiner Frau — Zola hatte im Mai 1870 ein Mädchen aus dem Volk, das er während seiner Bohemejahre kennengelernt hatte, geheiratet — und seiner Mutter nach Marseille und später nach Bordeaux, wo er als Parlamentsberichterstatter für die Zeitung „La Cloche", ein liberales, mehr linksgerichtetes Blatt, arbeitete. Zolas gesamtes schriftstellerisches Schaffen wurde vom ersten Tage an durch eine intensive journalistische Tätigkeit

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ergänzt und bereichert. Die Jahre als politischer Korrespondent der Zeitung „La Cloche" waren dabei für den Schriftsteller Zola von besonderer Wichtigkeit. Auch nach dieser Zeit bis zum Jahre 1881 arbeitete Zola ununterbrochen an verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften mit, vor allem setzte er seinen Feldzug für den Naturalismus — denn als einen Feldzug kann man seinen literaturtheoretischen Kampf in den Zeitungen des In- und Auslandes für eine zeitgemäße Kunst schon bezeichnen — unentwegt fort. Mitte der neunziger Jahre nahm er angesichts der wachsenden Reaktion auf allen geistigen Gebieten diesen Kampf für eine wahre, dem Leben verbundene Kunst, ganz allgemein für Wahrheit und Fortschritt, nochmals mit unverminderter Heftigkeit auf. Diese journalistische Tagesproduktion hinderte Zola aber nicht, die Ausarbeitung der „Rougon-Macquart" mit großer Stetigkeit zu verfolgen. Seit 1871 erschien Jahr um Jahr ein Band. Der eigentliche Erfolg ließ jedoch auf sich warten. Zwar erhielt Zola von den Meistern der Literatur, wie Flaubert und den Brüdern Goncourt, Anerkennung und Lob, aber die Presse schwieg ihn tot oder bedachte ihn mit Verunglimpfungen. Diese wuchsen sich nach der Veröffentlichung des „Totschlägers" 1877 zu einem solchen Eklat aus, daß damit zugleich die Mauer des Schweigens um den Schöpfer des Naturalismus durchbrochen war. Mit dem Rühm kam auch der lang erwartete finanzielle Erfolg. Von den Autorenhonoraren des „Totschlägers" konnte sich Zola eine Villa in M6dan bei Paris kaufen, und seine Bücher sicherten ihm von da an ein mehr als auskömmliches Leben. Sein eigener Entwicklungsweg ist in den nächsten Jahren identisch mit der Geschichte seines Werkes. Nur einmal noch trat das Privatleben gegenüber der Arbeit in den Vordergrund. 1888, nach achtzehnjähriger Ehe, verliebte sich der damals fast fünfzigjährige Zola in die blutjunge Jeanne Rozerot, die in seinem Hause tätig war. Zola fand in dieser Verbindung die späte Erfüllung einer heimlichen und sicher schon lange gehegten Sehnsucht. In Zolas Werk gibt es eine ganze Reihe, zum Teil sehr feinfühlig erfaßter Kindergestalten: Miette und Silvere, die beiden Liebenden aus dem „Glück der Familie Rougon", die Kinder der Familie Mouret aus der „Eroberung von Plassans", Jeanne aus „Ein Blatt Liebe", die Kinder der Maheude, vor allem Jeanlin, im „Germinal", die kleine Nana aus dem „Totschläger". Wer seine künstlerische Welt mit so vielen Kindern bevölkert, muß eine innere Beziehung zu ihnen haben. Zolas Ehe war jedoch kinderlos geblieben. Jeanne nun schenkte ihm kurz nacheinander eine Tochter und einen Sohn.

Diese späten Vaterfreuden stürzten Zola zugleich in schwere persönliche Konflikte, in schmerzliche Auseinandersetzungen mit seiner Frau und treuen Lebensgefährtin, ja sogar mit seinen Freunden. Und während des Dreyfusprozesses ließ es sich eine sensationshungrige Boulevardpresse nicht entgehen, diese Seite seines Privatlebens durch den Schmutz zu ziehen. Andererseits bewies gerade dieser Prozeß, daß alle Irrungen und Wirrungen seines persönlichen Lebens ihn in keinem Augenblick so tief verstrickten, daß er darob das eine vergaß, was er als die höchste Pflicht des Menschen ansah: unter Einsatz seiner ganzen Person einzutreten für die Wahrheit, nicht nur in der Kunst, sondern auch im täglichen Leben.

Hintergründe und Peripetien des Dreyfusprozesses sind bekannt: 1894 war der jüdische Hauptmann Dreyfus wegen angeblichen Hochverrats

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zunächst zum Tode und dann zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden. Durch die Ritzen der verschlossenen Türen, hinter denen man den Prozeß geführt hatte, drang sehr schnell die Ahnung der Wahrheit: Dreyfus war unschuldig. Aber weder der Familie noch dem Senator Scheurer-Kestner gelingt es, eine Revision des Prozesses zu erreichen. Da veröffentlichte Zola 1897 im Dezember drei Artikel im »Figaro« und, als die Wiederaufnahme des Prozesses auf sich warten läßt, den berühmt gewordenen Brief an den Staatspräsidenten Faure, vom 13. Januar 1898, der mit den Worten „Ich klage an" beginnt und mit dem lapidaren Satz „Ich warte" endet. Zola brauchte nicht lange zu warten, denn was er bezweckt hatte, die Wiederaufrollung der Affäre, trat ein, wenn auch nicht als Revision des Dreyfusprozesses, sondern als Prozeß Zola. Er wurde verklagt und zu einem Jahr Gefängnis und 3000 Francs Geldstrafe verurteilt. Um sich der Vollstreckung der Freiheitsstrafe zu entziehen, mußte er für ein Jahr nach England in Verbannung gehen. Dreyfus wird bei der nachfolgenden Revision seines Prozesses neuerlich verurteilt und dann überraschend begnadigt. Die Weltausstellung des Jahres 1900 stand vor der Tür. Die Regierung war an einer Beruhigung der Gemüter mehr als interessiert, denn tatsächlich hatte die Auseinandersetzung um diesen Prozeß die inneren Widersprüche des Landes mit so elementarer Wucht aufbrechen lassen, daß das Ansehen Frankreichs darunter gelitten hatte und der Erfolg der Ausstellung gefährdet schien. Zola seinerseits mußte noch achtzehn Monate warten, bis sein Prozeß suspendiert wurde. Er hatte keine Gelegenheit mehr, weder für sich noch für Dreyfus Gerechtigkeit zu fordern. Mitten in dieser ungeklärten Situation starb er in der Nacht vom 29. zum 30. September 1902 an einer Kohlenoxidvergiftung, die durch einen verstopften Ofen hervorgerufen wurde. Die Atmosphäre der Dreyfusaffäre in Rechnung gestellt, erscheint es nicht ausgeschlossen, daß dies kein Unfall war. Die Forschung konnte den Tatbestand bis heute nicht klären. Zola wurde mitten aus fruchtbarem Schaffen gerissen, er hatte seine „Vier Evangelien" noch nicht abgeschlossen. Vielleicht hat er seinen Mut als Citoyen mit dem Leben bezahlt.

Zolas Name ist in der Weltliteratur unlösbar mit der Bewegung des Naturalismus verbunden. Was hat man darunter eigentlich zu verstehen, und wie kam es zu dieser Bezeichnung?

Als der junge Zola daranging, sich einen Platz als Schriftsteller zu erobern, mußte et sich zunächst mit der zeitgenössischen Situation vertraut machen. Der etwas zufälligen Lektüre der Jünglingsjahre, in denen sich Zola außer für Rabelais und Montaigne vor allem für die Romantiker — Musset, George Sand, Victor Hugo — begeistert hatte, folgte während der Tätigkeit im Verlag Hachette eine bewußte Beschäftigung mit den bedeutendsten Erscheinungen der Gegenwart, nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Philosophie und Naturwissenschaft. Zola vertiefte sich in das Studium Hippolyte Taines und der neuesten Theorien der Vererbungslehre und Physiologie, und diese nicht immer ganz verdaute Lektüre hat in seiner Literaturtheorie, seiner Weltanschauung und in seinem Werk vielfältige Spuren hinterlassen. In dieser Auseinandersetzung mit der geistigen und künstlerischen Situation entdeckte er nach den jugendlichen Ausflügen in die romantischen Idealgefilde, durch die eigene bittere Erfahrung gereift, die härtere, aber vom Zauber der Wahrheit erhellte Welt der großen Realisten — Moliere,

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Diderot, Flaubert —, vertiefte er sich begeistert in das literarische Experiment, das die Brüder Goncourt in „Germinie Lacerteux" unternommen hatten, ließ er sich stets von neuem durch die bunte und doch so schonungslos kritische Welt Balzacs faszinieren.

Wahr sein in der Kunst wie Balzac, wie er mit seiner Zeit gehen, ihre spezifische Poesie entdecken, in der vordersten Front der literarischen und kulturellen Bewegung stehen, das wurde hinfort zu Zolas Devise.

Dieser prononcierte Avantgardismus mußte ihn in der Malerei, der er sich schon durch seine Jugendfreundschaft mit C6zanne verbunden fühlte, ganz natürlich in die Kreise der Impressionisten führen, die sich vom traditionellen Akademismus entschieden ab- und dem Leben zugewandt hatten. Der Vater dieser antiakademischen Bewegung, Courbet, hatte seine künstlerischen Bemühungen mit dem Programmwort Realismus eindeutig gegen jede konservative Ateliermalerei abgegrenzt. Von der Malerei war der Terminus Realismus dann sehr schnell in die Literatur gedrungen, dort aber von nicht gerade erstrangigen Vertretern, Duranty und Champfleury, für ihre eigenen mittelmäßigen Werke benutzt und damit bei der Öffentlichkeit und ernsten Künstlern wie Flaubert in Mißkredit gebracht worden. So finden wir die eigentümliche Situation, daß sich der Autor der „Madame Bovary", eines Romans, der vom Staatsanwalt seines „anstößigen Realismus" wegen verurteilt worden war, im Briefwechsel mit seinen Freunden gegen die Klassifizierung als Realist wehrt.

Jede neue literarische Richtung, die so wie die angeblichen Realisten die Darstellung der Lebenswahrheit als ihr Ziel proklamierte, mußte dies unter einem anderen „Firmenschild" tun, um nicht in Mißkredit zu geraten.

Taine hatte nun als erster zur Kennzeichnung der künstlerischen Besonderheit Balzacs die Bezeichnung Naturalismus verwendet. Zola, der Balzac längst als den großen Meister und sein großes Vorbild verehrte, sah im Aufgreifen dieses Terminus einen doppelten Vorteil: Naturalismus, als Losungswort in die literarische Diskussion geworfen, bedeutete, daß sich sein geistiger Schöpfer von dem diskreditierten „Realismus" Durantyscher Prägung unmißverständlich distanzierte und sich zugleich über Taines „Naturalisten Balzac" mit der wirklichen großen realistischen Erzähltradition Frankreichs solidarisch erklärte. Somit bezeichnete dieses Wort bei Zola von Anfang an ein Doppeltes: Einmal charakterisierte der Schriftsteller damit seine eigenen ästhetischen Ansichten, die, von Taines positivistischer Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie und den modernen Vererbungslehren beeinflußt, theoretisch dem sehr nahekamen, was wir auch in der heutigen materialistischen Ästhetik als Naturalismus zu bezeichnen pflegen, zum anderen verwendete Zola Naturalismus im heutigen Sinne von Realismus. Ein Drittes kam hinzu: die philosophische Bedeutung. Hier hieß Naturalismus soviel wie Anerkennung der ewig wirkenden Lebenskräfte in Natur und Gesellschaft.

Die Zeitgenossen ihrerseits verstanden unter Naturalismus weniger eine ästhetische Theorie als vielmehr die literarischen Werke jener Schriftsteller, die sich zu Zola und seinen Forderungen in der Kunst bekannten, also sein Werk und das Werk seiner Schule — auch wenn Zola selbst die Bezeichnung „Schule" für den Naturalismus ablehnte. In diesem Sinne, zur Kennzeichnung einer literarischen Epoche, bedienen sich auch die Li-

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eschichten dieses Terminus. Man spricht von Naturalismus, wie von Romantik oder Klassik spricht.

Zola glaubte, durch die Verpflichtung der Literatur auf die neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaft und Medizin zu einer Wissenschaftlichen Vertiefung des literarischen Menschenbildes beizutragen, durch die Forderung nach der Alltagswahrheit der romantischen Scheinwelt zu entgehen und durch das Postulat der Unparteilichkeit der Darstellung der objektiven Wahrheit näher zu kommen. Und in seiner Zeit gesehen und verstanden, war sein Kampf für die Durchsetzung dieser Forderungen trotz ihrer inneren Widersprüchlichkeit letztlich ein Kampf für den Realismus, vor allem, wenn man das Beispiel seines eigenen Werkes in diese große Auseinandersetzung, wie sie in der Literatur der achtziger und neunziger Jahre in Frankreich vor sich ging, mit einbezieht.

Zolas Werk umfaßt in der französischen Gesamtausgabe vom Ende der zwanziger Jahre insgesamt fünfzig Bände, darunter neben Novellen, Erzählungen, Theaterstücken, Aufsätzen, Briefen, Artikeln zur Literatur-und Kunstkritik und literaturtheoretischen Abhandlungen allein fast dreißig Romane. Die neue Gesamtausgabe aus den siebziger Jahren (Ed. Tchou) enthält außerdem alle bisher nicht wieder veröffentlichten Zeitungsartikel. Eine Gesamtausgabe von Zolas Briefen wird zur Zeit vorbereitet und publiziert.

Trotz der Fülle schriftstellerischer Interessen war Zola in erster Linie Romancier, auch wenn er gelegentlich davon träumte, die Bühne zu erobern, um sie als öffentliches Forum für seine Ideen zu benutzen, und er es bisweilen verstand, mit Witz zu erzählen. Ein so weitschichtiges Werk spiegelt naturgemäß die Entwicklung wider, die sein Autor im Laufe seines Lebens in seinen Ansichten durchschreitet. So zeichnen sich in Zolas künstlerischem Schaffen und in seinen literaturtheoretischen Überlegungen drei große Perioden ab: die Jugendperiode von 1860 bis 1868, die man als seine Lehrzeit betrachten kann; die Zeit der künstlerischen Reife, die mit den zwanzig Jahren Arbeit an den „Rougon-Macquart" ausgefüllt ist; und die Zeit, in der seine Spätwerke entstanden, die Städte-Trilogie und die „Vier Evangelien".

Fragt man sich, was von dieser reichen Produktion bleibenden Wert und damit auch für uns noch Bedeutung hat, so stehen „Die Rougon-Macquart" zweifelsohne im Vordergrund. Als Zola unter dem Banne Balzacs diesen „großen Plan" faßte, gedachte er zunächst in fast kindlicher Naivität, mit der „Masse" der getürmten Bände den Leser zu überwältigen. Aber so imponierend die Arbeitsleistung an sich war, das allein hätte nicht genügt, diesem Zyklus bleibenden Wert zu geben. Dazu mußte das Werk des großen Vorgängers seinem Wesen nach fortgesetzt und erneuert werden. Balzacs „Menschliche Komödie" hatte dem realistischen Roman eine neue Dimension gegeben, die konkret historisch-soziale. Eine Reihe Bezirke der Wirklichkeit waren vor ihm erobert worden, der Mensch in seiner äußeren Gestalt und seinem inneren Wesen, seiner sozialen Situation und seiner Umwelt, das dinglich-sachliche Milieu und die Schönheit der Natur. Aber den Menschen selbst als das Produkt einer bestimmten Zeit und Gesellschaft und diese hinwiederum als notwendige Stufe eines gesetzmäßigen historischen Prozesses zu begreifen und begreifbar zu machen, hatte noch

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keiner vor ihm unternommen. Nun erst gewann die literarische Gestalt ihre volle Plastizität. Diese Rastignacs, Luciens, Goriots, Grandets, dieser Vautrin und Nucingen waren Typen, in denen sich wirklich das Wesen einer Epoche, des Julikönigtums, resümierte. Denn das war das zweite Neue, das Balzac geschaffen hatte, bewußt den Menschen einer bestimmten Zeit, seiner Zeit, mit aller gerade ihm eigenen Spezifik zu zeichnen — wie ein Historiker. Und als solchen betrachtete sich Balzac. Allerdings ging es ihm dabei um eine Geschichte eigener Art. In den Rückwirkungen auf das private Leben, auf Fühlen und Denken und Handeln der Menschen, auf ihre Zwecksetzungen und Zielsetzungen, ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Bedürfnisse, ihre Träume und Wünsche, ihre Wertvorstellungen, Normen und Ideale sollten die Wandlungen und Umschichtungen im historischsozialen Geschehen gezeigt werden. Die Geschichte selbst mit ihren Fakten und Ereignissen blieb im Hintergrund. Im Werke Balzacs spielen weder die Februarrevolution noch die Kämpfe der Lyoner Arbeiter, noch der Blan-qui-Aufstand, noch Louis-Philippe eine unmittelbare Rolle. Und auch die sozialen Gegenkräfte dieser von der Industrierevolution geprägten kapitalistischen Gesellschaft, die Arbeiter, ja der ganze Sektor der materiellen Produktion in seinen Vorgängen bleiben im Schatten. Damit waren Größe und Grenze des Balzacschen Werkes gegeben. Die Welt der Arbeit war noch zu erobern, und das ist das entscheidende Neue, was Zola zur Stofferweiterung des kritisch-realistischen Romans beigetragen hat. Sicher hat es auch schon vor ihm Arbeiterromane gegeben. Aber sie behandelten den Arbeiter karitativ, betrachteten ihn als den Bemitleidenswerten, Notleidenden, dem die herrschenden Klassen, die Gebildeten und Begüterten, zu Hilfe kommen müßten, um ihn aus seinem Elend zu einem menschenwürdigen Dasein emporzuheben. Doch kein Romancier vor Zola hatte den Arbeiter literarisch als die große geschichtsbewegende Kraft gestaltet, die das Antlitz der Menschheit im 20. Jahrhundert bestimmen würde. Diesen prinzipiellen Wechsel der Erzählperspektive als erster unternommen zu haben ist Zolas bleibendes Verdienst. Auch ihm war die Bewältigung dieses neuen literarischen Gegenstandes von einem neuen Erzählstandpunkt aus nicht beim ersten Versuch geglückt. ,,Der Totschläger" war gleichsam ein Herantasten an Milieu und Sujet, und als Ergebnis eine aufrüttelnde Milieustudie.

Mit „Germinal" (1885) gelang dann der eigentliche große Wurf.

Dieser Roman ist ein Markstein nicht nur in der Geschichte der französischen, sondern der Weltliteratur. Von da an gelten gleichsam neue ästhetische Maßstäbe, weil neue ästhetische Maßstäbe erst durch den neuen ästhetischen Gegenstand gesetzt werden. Die erste, die diese Bedeutung des Arbeiters für die Erneuerung der Literatur erkannt hatte, war George Sand gewesen in ihrer Vorrede zu den „Gefährten von der Frankreichwanderschaft". Aber sie besaß weder die schöpferische Kraft noch die geschichtliche Erfahrung, um diese Erkenntnis künstlerisch umzusetzen. Zolas „Germinal" dagegen wurde von der realen Tragik der zeitgenössischen Klassenkämpfe, den Streiks der nordfranzösischen Bergarbeiter gespeist und getragen.

Die Wucht dieses historischen Geschehens, dem Schriftsteller durch eigene Anschauung und intensives Versenken in die Ereignisse vermittelt, gibt dem Roman jene epische Größe, die ihn weit aus dem Gesamtwerk als Gipfelleistung heraushebt.

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Wenn Zola im „Germinal" die zentrale historisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung seiner Zeit, den Kampf zwischen „Kapital" und „Arbeit" darstellen wollte, mußte er eine solche Krisensituation herausgreifen, in der alle, auch die für gewöhnlich versteckten Gegensätze aufbrechen, in der die tatsächliche, die der historischen Entwicklung entsprechende Kraft der beiden ringenden Klassen hervortritt und die geschichtliche Perspektive ihres Aufstieges oder Untergangs sichtbar wird. Darum konnte „Germinal" nicht einfach ein Abklatsch des Bergarbeiterstreiks in Anzin sein, sondern mußte die Erfahrungen eines viel größeren Zeitraums in kondensierter Form zusammenfassen. Dadurch wird es Zola möglich, sowohl die Peripetien dieses Kampfes zwischen Arbeit und Kapital, mit vielen authentischen Details angereichert, mit der ihnen eigenen dramatischen Schwerkraft abrollen zu lassen als auch die Charaktere seiner Menschen und ihre Entwicklung als Ergebnisse bestimmter gesellschaftlicher Konstellationen sichtbar zu machen. Am Schicksal der Familie Maheu zeigt Zola, daß alles individuelle Bemühen, aller Fleiß, alle Ausdauer, aller Mut und alle Sparsamkeit das menschenunwürdige Los der Bergarbeiter nicht zu ändern vermögen. Etiennes Worte von sozialer Gerechtigkeit müssen ihnen wie eine Kunde aus dem Paradies der Zukunft klingen,-und so nehmen sie den Kampf auf, nicht mutwillig und aus Lust am Randalieren, sondern aus Verzweiflung, an den Abgrund des Verhungerns getrieben. Und wenn sie auch diesmal noch unterliegen, so haben sie doch das Krachen im Gebälk des anscheinend so festen Gebäudes der alten Gesellschaft deutlich vernommen, und ihr Vertrauen in die eigene Kraft, ihr Glaube an die Zukunft ist gewachsen, eine Zukunft, die morgen schon für sie emporkeimen wird. Denn das soll Zolas Schlußvision von der keimenden Saat anzeigen, so wie der Titel selbst: Germinal — Keimmonat, dem ganzen Roman diese symbolische Deutung unterlegt und damit die im Werk selbst nicht voll ausgeführte Perspektive zusammenfaßt. Um sie handlungsmäßig zu entwickeln, hätte sich Zola nicht vornehmlich auf die Darlegung der ökonomischen Forderungen der Streikenden konzentrieren dürfen, sondern auch die politischen Konsequenzen richtig entwickeln müssen. Aber hier liegt seine Grenze. Zwar läßt er in den Ansichten Etiennes und Rasseneurs die verschiedenen utopisch sozialistischen Systeme Revue passieren, sogar die Internationale und die Ideen von Marx kommen ins Spiel, aber da seine eigenen Vorstellungen von einer proletarischen Revolution mit durch das Schreckgespenst anarchistischer Umtriebe getrübt sind — die Gestalt Su-warins ist ihm von der Kritik oft genug als Anachronismus angekreidet worden, erklärt sich aber folgerichtig aus der ganzen Anlage des Romans —, muß er die revolutionäre Wucht des Geschehens in der expressis verbis angebotenen Lösung reformistisch zurücknehmen. Zu dieser weltanschaulich bedingten Grenze kommen gewisse „naturalistische" Verzeichnungen seiner Gestalten. Trotz allem hat er mit diesem Roman — und das ist sein wesentlichstes Verdienst — den Arbeiter als neuen literarischen Helden erobert.

Die „Rougon-Macquart" setzen die realistische Tradition der „Menschlichen Komödie" auch auf anderen Gebieten fort. Auch Balzacs historische Dimension erscheint hier in neuer Qualität. Eigentlich war diese Geschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich von Beginn an zugleich eine

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Geschichte des Kaiserreichs selbst in seinen wesentlichen historischen Ereignissen und Vorgängen gewesen, ob es sich um den Staatsstreich wie im „Glück der Familie Rougon", um die Umbauten der Hauptstadt wie in der „Beute", die Vorgänge in der Kammer oder die Geburt des kaiserlichen Prinzen wie in „Seine Exzellenz Eugene Rougon", die Weltausstellung in „Nana" oder den Deutsch-Französischen Krieg im „Zusammenbruch" handelte. Der Kaiser selbst, seine Minister, die Börsenjobber und Spekulanten der ihn umgebenden Clique und all die anderen Drahtzieher, durch deren Treiben das Leben einer Maheude, eines Etienne und einer Gervaise im letzten so vergiftet wird, die Florent und Miette und Silvere auf ihrem Gewissen haben, werden zum Teil sogar unter ihren historischen Namen, immer aber mit ihrer historischen Schuld in dieser Welt Zolas sichtbar, einer Welt, die in gewisser Beziehung breiter und allseitiger eingefangen ist als die Welt Balzacs. Balzacs Hauptinteresse hatte zwei Aspekten des umfassenden Kapitalisierungsprozesses seiner Zeit gegolten: der Selbstentfremdung des Menschen und der Verdinglichung aller menschlichen Beziehungen und Werte. Zola ging den Prozessen seiner Epoche zweifelsohne nicht so tief auf den Grund, weder im ökonomischen noch im sozialen Bereich, und seine Menschendarstellung litt allzuoft unter „naturalistischen" Verzerrungen, aber dafür hat er alle Klassen und Schichten der damaligen Gesellschaft und alle wichtigen neuen ökonomischen Erscheinungen seiner Epoche berücksichtigt.

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Und schließlich - auch dies darf man bei einer Überprüfung Zolas auf seine heutige Bedeutung hin nicht vergessen - hat er sich mit der Brandmarkung des Bestehenden, der Kritik an der alten, kapitalistischen Gesell­schaft nicht begnügt; entsprechend seiner Auffassung von der Menschheitsgeschichte als einem ewigen Zyklus von Aufstieg und Untergang bewegte sie sich, wie ihm die Symptome nur allzu deutlich anzuzeigen schienen, auf der absteigenden Kurve. Deshalb versuchte er, zugleich mit der Kritik an seiner Zeit den Lösungsweg in die Zukunft zu weisen, die neue Welt des Menschen des bevorstehenden 20. Jahrhunderts zu verkünden.

Zolas <Vier Evangelien"> von denen nur drei zur Ausführung gelangten, sind oft wegen ihres utopischen Charakters, ihrer Übertreibungen und Naivitäten belächelt worden. Zola wollte mit seinem "neuen Glauben" — trotz aller Bedenken, die man gegen die ideologischen Implikationen dieser Theorien anmelden kann und mußdas Idealbild des befreiten, arbeitenden, in der Gemeinschaft tätigen Menschen in dem kommenden Reich der Gerechtigkeit und Freiheit zeichnen. Sicher blieb dieses von ihm entworfene Idealreich der Zukunft eine Utopie, die von den Ideen Fouriers gespeist wurde.

Aber daß er die Pflicht des Schriftstellers erkannte, mit seinem Tun an der Zukunft der Menschheit mitzubauen und sich für ihr Schicksal mitverantwortlich zu fühlen, macht den „Naturalisten" Zola zu einem Wegbereiter unserer Tage.

Erst mit diesem Bemühen schließt sich der Ring seines Werkes, so wie sich durch sein Eingreifen in den Dreyfusprozeß der Ring seines Lebens schloß. Es ist deshalb kein Wunder, daß sein Name immer dann genannt wird, wenn es um die großen Ziele der Menschheit geht, um Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und sozialen Fortschritt.

Rita Schober

 

 

 

aus Biografie  Nana   R&L  1982  Schober

 

(Ordner)    www.detopia.de      ^^^^

Emile Zola, *1840