Start      Interview 1975 

Nachtrag

 

359-360

Im Jahr 1948 kam mir der Gedanke, daß viele historische Wandlungen verständlich werden könnten, wenn man - wie ich in <Conditions of Happiness> (1949) bemerkte - sie dahingehend untersucht, welches Vater- und Mutterbild jeweils gültig war. 

Anthropologen haben festgestellt, daß zahlreiche primitive Gesellschaften sich in zwei Gruppen einteilen lassen: In der einen herrscht eine Himmelsvater-Religion, eine restriktive Moral, und die Frauen besitzen einen niedrigen Status; in der andern herrscht eine Erdmutter-Religion, eine permissive Moral, und die Frauen nehmen eine Vorrangstellung ein. 

Da Gottheiten Projektionen des Unbewußten sind, erschien es einleuchtend, daß in der einen Gruppe die Vater-Projektion überwog, in der andern indes die Mutter-Projektion vorherrschte. Ich nannte diese beiden Gesellschaftsmodelle <patristisch> und <matristisch>.

In <Wandlungen der Sexualität> (1957) legte ich dar, daß mit diesen Modellen verschiedene weitere, untergeordnete Verhaltensnormen verknüpft sind. So ist bei Patristen die Homosexualität, bei Matristen der Inzest Stein des Anstoßes. Patristen ziehen dunkle Kleidung vor und kennen strenge Bekleidungs­vorschriften, Matristen nicht. Patristen verstehen sich vornehmlich auf disziplinierte, intellektuelle, Kunstformen wie Architektur, während Matristen vor allem in Improvisationskünsten wie Musik und Tanz glänzen. 

Auch sind die politischen Strukturen bei Patristen hierarchischer, bei Matristen hingegen demokratischer oder egalitärer Natur. Patristen beunruhigen sich über Leute, die sich an fremdem Eigentum vergreifen oder die öffentliche Ordnung stören, Matristen sorgen sich über Kranke und Hungernde. Es fehlen auch nicht merkwürdige Verhaltensdetails; so bevorzugen Patristen glatte, geschmeidige, Matristen rauhe, zottige Oberflächen­strukturen — und so weiter.

Es war augenfällig, daß diese Trennungsmerkmale nicht nur die Unterschiede zwischen einigen primitiven Gesellschaften erklärten (sofern der Ausdruck «primitiv» hier überhaupt angebracht ist), sondern auch auf historische Wandlungen innerhalb der westlichen Zivilisation ein erhellendes Licht werfen mußten. Das Mittelalter war zweifellos eine patristische Epoche — im Gegensatz zu der voraufgegangen, von den Kelten geprägten Periode.

Ebenso trug die Viktorianische Zeit wiederum einen patristischen Stempel, der sie von der freisinnig-matristischen Aufklärungszeit nachhaltig unterschied. Der Aufstieg des Christentums selbst war ein Triumph der Vaterfigur über die heidnischen Muttergottheiten der frühen Mittelmeerkulturen.

Heute schwimmen wir im Westen eindeutig auf einer matristischen Welle, welche die patristische der Viktorianischen Zeit abgelöst hat, was vielleicht eine völlige Trendumkehr heraufbeschwören mag.

Freilich, Projektionen des Unbewußten — etwa in bezug auf das die Religion bestimmende Vater- und Mutterbild — sind nicht der einzige psychologische Faktor im Sozialgefüge. 

In <The Angel Makers> worin ich die Gründe analysierte, welche die Heraufkunft von Viktorianismus und Puritanismus ermöglichten, führte ich zumindest zwei weitere Faktoren auf, von denen jener, der in der Polarität zwischen «hartem Ich» und «weichem Ich» besteht, besonderes Gewicht besitzt; in <Das Experiment Glück> (1973) erörterte ich die Bedeutung ebendieses Faktors für die Gegenwart.

Zwei Anmerkungen sind hier anzufügen.

Zum einen: Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß die Gesellschaft zwischen den vorgenannten Extremen in berechenbarem Rhythmus hin- und herpendelt. Manchmal schlägt das Pendel rasch, bisweilen bleibt es in dieser oder jener Richtung «hängen».

Zum andern: Die schöpferischsten und erfolgreichsten Kulturen sind jene, die, wie die griechische der Antike, eine Zeitlang im Gleichgewicht verharren; patristische Disziplin und matristische Kreativität müssen eine innige Verbindung eingehen, soll eine Kultur Größe erlangen.

Dieses Gleichgewicht wiederzugewinnen ist unsere Aufgabe von heute.

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