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1.2 - Wenn Nachhaltigkeit zum Fluch wird

Taxacher-2012

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Mit der Industrialisierung schafft sich der Mensch in einem bisher unvorstellbaren Maß eine künstliche Umwelt, eine zweite Natur, in der er besser zu leben glaubt als in der ersten Natur, der er mühsam sein Überleben abringen musste. Paradoxerweise bringt ihn aber diese neue Macht in seinem Verhältnis zur Natur in eine neue, direkte Konfrontation mit ihr. Er erhält jetzt die Rückmeldung über die Folgen seines Handelns an der Natur, die er manipuliert. »Kein Zeitalter der Geschichte ist stärker von den Naturwissenschaften durchdrungen und abhängiger von ihnen als das 20. Jahrhundert. Aber seit Galileis öffentlichem Widerruf hatte sich kein Zeitalter unbehaglicher mit ihnen gefühlt.«(84)

Erst allmählich begreift der Mensch, dass ihm die entscheidenden Gefahren nicht mehr allein von seinesgleichen drohen, von Feinden, die sind wie er - weil der Mensch des Menschen Wolf ist, wie Thomas Hobbes sagte -, sondern von der in ihrer Feindlichkeit gerade überwunden geglaubten Natur - im Aggregatzustand ihrer menschengemachten Veränderung. »In meiner Kindheit um die Jahrhundertwende hätte man den Gedanken, der Mensch könne jemals die Macht haben, die gesamte Erdatmosphäre zu verunreinigen, in das Reich der Phantasie verwiesen«, erzählt der Geschichtsphilosoph Arnold Toynbee: »Bis heran an das dritte Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts hat die Menschheit ihre wachsende Fähigkeit, die Biosphäre zu beeinflussen, unterschätzt.«(85) Am Ende der Moderne sieht der Mensch sich in einer bisher ungeahnten Weise mit den Naturgesetzen selbst als Gegnern konfrontiert. Die Menschheit kann sie künftig nur beachten und einkalkulieren oder aber untergehen.

   Technik bringt Natur zurück  

Technikkritische Philosophen wie Günther Anders beschrieben die Umkehrung im Verhältnis des Menschen zu seinem Werk: Was er als Instrument seiner Herrschaft schafft, beherrscht ihn mehr und mehr. Einmal von der zweiten, der technischen Natur umgeben, wird der Mensch immer abhängiger von ihr. Damit »nimmt die Bedeutung der Technik so überhand, dass sich das politische Geschehen schließlich in ihrem Rahmen abspielt«.86

Technischer Fortschritt ist jetzt notwendig, um die Technik kontrollierbar zu halten, und dieser Fortschritt gewinnt gerade dadurch eine Eigendynamik, die sich kaum mehr kontrollieren lässt. Was erfunden wird, wird auch hergestellt, auch verwendet, und die unerwünschten Folgen können wiederum nur durch technische Gegengifte kuriert werden. Technischer Fortschritt wird zu einem Wettlauf gegen sich selbst.

Die Technikkritik hat diese Analyse allerdings lange gewissermaßen idealistisch betrieben: Sozial- und kulturkritisch kam die Entfremdung des Menschen von sich selbst, seine Einspannung in technische Vorgänge, die Bedrohung seiner Humanität in den Blick. Die Wiederkehr unserer Natur-Konfrontation in einem zugleich ursprünglichen und nie da gewesenen Sinn scheint in der Philosophie immer noch kein zentrales Thema - als sei es ein positivistischer Sündenfall, in einer kritischen Theorie die Naturgesetze einzuführen.

Dabei gäbe es hier einiges zu reflektieren: Der Menschheit ist mittlerweile der Rückweg aus ihrer technischen Zivilisation so sehr abgeschnitten, dass man in diesem Sinn tatsächlich von einem »Ende der Geschichte« sprechen kann. Aus dem Fortschrittsoptimismus und den Visionen der Utopisten ist die bange Hoffnung geworden, der Fortschritt möge reichen, uns vor seinen katastrophalen Folgen zu retten.

»Die Lösung liegt vorne, immer weiter vorne, nie hinten. Im Stehenbleiben ist keine Hoffnung, weil die Menschheit von dynamischen Kräften weitergetrieben wird, über die sie keine Macht hat. ... >Wir können mit dem Erfinden nicht aufhören, denn wir sitzen nun einmal auf dem Tiger<, schreibt Dennis Gabor (87, De Closets)

  Zukunft als Wand  

Durch diese neue Konfrontation mit den Naturgesetzen erhält die Moderne eine apokalyptische Unausweichlichkeit: Erstmals wird das Gefälle zur Katastrophe ausrechenbar. Eine »Apokalypse in Zahlen«(88) rückt in den Blick. »Wir... aller apokalyptischer Frömmigkeit ledig ... sind bedroht von einer anderen finsteren Wolke von Daten und Zusammenhängen, die alle auf die so genannte Gattungsfrage hinauslaufen: Geht es doch zu Ende mit der Menschheit?«(89, Amery)

Apokalyptische Angst bezieht sich nicht mehr auf unvorhersehbare oder gar übernatürliche Ereignisse, sondern darauf, dass alles so bleibt, wie es ist - und eben dadurch nicht bleiben wird.

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Die ökologische Katastrophe kommt auf uns zu, wenn wir nichts tun, wenn wir einfach alles so laufen lassen wie bisher. Carl Amery nannte dies das »Bierhefe-Programm«: Einfach weitermachen und weiterwachsen, bis das System, von dem man sich ernährt, umkippt. »Bisher war die Menschheit insgesamt noch nie vor das Problem gestellt, scharf zwischen einem solchen biologischen Ablaufprogramm und dem Streben nach wahrer Nach­haltigkeit zu unterscheiden - heute stehen wir vor dieser absoluten Notwendigkeit.«(90-Amery)

Nüchtern formuliert der Naturwissenschaftler Jared Diamond die Wiederkehr alter religiöser Kategorien: »Schon oft wurde der Weltuntergang für den Fall prophezeit, dass wir keine Einsicht zeigten und uns nicht zur Umkehr entschlössen. Neu ist daran heute, dass die Vorhersage ... wahrscheinlich eintrifft.«(91.Schimpanse)

Wir sind in eine Situation eingetreten, in der es Stagnation nicht mehr gibt. »Einstmals war das pure Trägheitsgesetz der Hauptfaktor der Umwelterhaltung.... die bloße Trägheit, die mächtigste Kraft des Daseins, trug dazu bei, die Ausbeutung der Natur in Grenzen zu halten. Heute dagegen ist die Wirkungsweise des Trägheitsgesetzes gleichsam umgekippt: Die Dinge einfach laufen zu lassen, trägt eher zur Destabilisierung der Mensch-Umwelt-Beziehung bei.«92

Geschichte hat damit eine Unausweichlichkeit angenommen, die es so noch nicht gab. Niemand kann mehr hoffen, dass »nichts passiert«. Das bedeutet die Umkehrung der gewohnten Erlebnisweise von Geschichte, in der bestimmte starke Veränderungen einen katastrophischen Charakter annehmen konnten, nicht aber der Zustand als solcher diese Drift hatte. Heute stehen Katastrophen schon fest und wir müssen sehenden Auges auf sie zugehen. Geschichtliche Zukunft verliert ihre grundsätzliche unkalkulierbare Offenheit, die Philosophen für ihr Grundkennzeichen hielten. Zukunft bekommt den Charakter einer Wand, auf die wir zurasen. Das ist ein Bild von ihr, das früher nur Apokalyptiker kannten.

»Nachhaltigkeit« ist seit den 1990er Jahren in der Umweltbewegung und -politik zu einer Art Zauberformel geworden. Sie soll das Grundkriterium für ein Handeln darstellen, das ein Weiterleben der Menschheit ermög­licht. Nachhaltigkeit ist der neue kategorische Imperativ der Moderne: Handle so, dass die Maximen deines Handelns auch in Zukunft befolgt werden können, ohne dass die ökologischen Lebensgrundlagen der Mensch­heit dadurch zusammenbrechen!

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So formuliert, besagt Nachhaltigkeit nicht etwa eine öko-romantische Erhaltung von Natur in einem fiktiven unberührten Zustand, sondern die Kalkulation der ökologischen Folgen unseres Handelns für uns selbst, im Börsen­deutsch: die »Einpreisung« unserer Aktivitäten. So komplex und unsicher die Berechnung eines nachhaltigen Verhaltens im konkreten Fall sein mag, grundsätzlich ist das Kriterium keineswegs »weich«. Ein Verhalten, das Nachhaltigkeit nicht gewährleistet, ist auf Dauer tödlich.

Tatsächlich illustrieren die aktuellen Trends der ökologischen Situation der Menschheit allerdings eher die andere Seite der Medaille: den Fluch der Nachhaltigkeit unseres Handelns. Nachhaltigkeit ist an sich »wertfrei«: Wir beeinflussen das Ökosystem unserer Erde so nachhaltig, dass dadurch unsere Zukunft determiniert wird, selbst wenn wir uns demnächst noch entscheiden sollten, unser Wirtschaften entscheidend umzustellen. »Wir sind >größer als wir selbst<: Die Produkte, die wir herstellen, die Effekte, die wir auslösen, sind so langfristig, dass sie nicht nur uns konfrontieren können, sondern auch unsere Enkel und Urenkel.«93

Auch hier gleicht unsere Situation strukturell der, die religiöse Unheilspropheten früher zu predigen pflegten: Unsere gegenwärtigen Sünden sind so bedeutsam, dass sie uns am Ende einholen werden. Das »Jüngste Gericht« wird uns die Quittung präsentieren. An einem apokalyptischen point of no return verkündeten Propheten, dass selbst Umkehr nun zu spät kommen würde, weil sie die Auswirkungen des schon Geschehenen nicht mehr zu tilgen vermöchte. »Ihr, die ihr den Tag des Unheils hinausschieben wollt«, heißt es in diesem Sinn bei Amos: »Das Fest der Faulenzer ist nun vorbei« (Amos 6,3.7).

 

   Zeitdruck und Verzögerung   

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Zu einer apokalyptischen Situation gehört das nahe Ende. Die apokalyptischen Bücher biblischer Zeit sagen stets das Ende voraus, das vor der Tür steht, nicht eines in ferner Zukunft. Sie analysieren den Lauf der Weltgeschichte so, dass ihre Gegenwart stets unmittelbar vor dem Zusammenbruch und der ultimativen Wende zu stehen kommt.(94,Taxacher2010, s86) Dieser Zeitindex gilt heute nicht mit prophetisch-religiöser, sondern prognostisch-naturwissenschaftlicher Begründung auch für die ökologische Katastrophe. Die Warner, die sie uns vor Augen führen, haben deshalb einen apokalyptischen Gestus angenommen, der ihnen manchmal vielleicht gar nicht bewusst ist: Stets schärfen sie uns ein, dass es »fünf vor zwölf« ist, dass wir uns gerade in jener Stunde befinden, in der es fast, aber noch nicht ganz zu spät ist, also »höchste Zeit«. Stets stehen wir am Rand des Abgrunds, der nächste Schritt könnte unser letzter sein.

Schon bei den alten Apokalyptikern war diese Zeitdiagnose auch eine Handlungsanweisung: Die Empfänger der Botschaft sollen sich auf das nahe Ende einstellen, sie sollen umkehren und Buße tun, um im nahen Weltgericht gerettet zu werden, oder sie sollen standhaft bleiben und ausharren in der Hoffnung, dass es nicht mehr lange dauert.

Die säkulare Handlungsanweisung der ökologischen Apokalyptiker lautet: Wir müssen jetzt unser Handeln ändern, jetzt umsteuern, ehe es zu spät ist. Denn sie erwarten ja nicht wie die religiösen Apokalyptiker vom Ende die Wende Gottes, vielmehr gilt ihre Hoffnung der Abwendung des Endes.

»Die Zukunft all dessen, was wir erreichten, seit wir Intelligenz entwickelt haben, hängt von der Weisheit unserer Handlungen in den nächsten paar Jahren ab.«(95, Wright)

Diese Pragmatik der apokalyptischen Zeitansage macht unapokalyptisch gestimmte Gemüter skeptisch, was ihren Realitätsgehalt angeht. So wie sich die alten Weltende-Weissagungen nicht erfüllt haben und immer wieder neu gedeutet wurden, scheinen auch die modernen Öko-Apokalyptiker ihre Zeitansage vor sich herzuschieben wie die Bugwelle ihrer Warnungen. Seit es ökologische Untergangswarnungen gibt, sehen sie das baldige Umkippen unserer Lebensverhältnisse kommen; aber die Katastrophe scheint seit vielen Jahrzehnten stets gleich nah - oder eben fern - zu bleiben.

Meine These lautet dennoch: Der Zeitdruck gehört objektiv zur apokalyptischen Situation der Gegenwart. Dies liegt gerade im ökologischen Charakter der Krise begründet. Man mag wohl über Zahlen und damit auch über Fristen streiten - aber vernünftigerweise kaum darüber, dass uns die Bedrohung, der sich die Menschheit durch die Zerstörung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen aussetzt, eine Frist setzt und diese sich nicht in Jahr­hunderten bemisst.

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Die moderne Apokalyptik ist eine der Zahlen, weil die Krise naturwissenschaftlich messbar ist. Messbar ist auch ihre Zeit. Ob es nun um die einander aufschaukelnden Prozesse des Klimawandels oder um die Anreich­erungs-Vorgänge von Giften geht: Stets läuft die ökologische Uhr gegen uns. Zeitdruck ist ein wesentlicher Faktor unserer Situation. Unser Dilemma besteht darin, dass die sozial-psychologischen und politischen Uhren der Menschheit anders ticken als die ökologische Uhr. Der notwendige gesellschaftliche Wandel verläuft gegenüber den in Gang gesetzten ökologischen Katastrophenprozessen quälend langsam ab - und dazu noch diskontinuierlich. Schließlich gibt es massiven Widerstand gegen Veränderungen unserer Wirtschaftsweise. Der apokalyptische Zeitindex unserer Zeit lautet also: Ungleichzeitigkeit, Verzögerung.

Darin steckt ein Paradox: Die Zivilisation der Moderne ist gleichzeitig zu schnell und zu langsam. Ihr Fortschritt ist so schnell und produziert so rasant sich ausbreitende Folgen, dass gesellschaftliche Anpassungs­prozesse, welche diese Folgen bewältigen müssten, nicht nachkommen. Das hängt aber gerade damit zusammen, dass diese Folgen unseres Handelns sich in der Natur langfristig und für unser Alltagsbewusstsein langsam auswirken, so dass wir stets erst zu spät unausweichlich mit ihnen konfrontiert werden. Dass uns die Untergangsszenarien immer wieder übertrieben vorkommen, liegt also in der Natur der Sache selbst. Es muss »zu früh« gewarnt werden. Wenn wir das Vorhergesagte wirklich am eigenen Leib spüren, ist es viel zu spät, um es noch zu ändern. »Das Wandlungstempo ist zu hoch, aber die Warnsignale stellen sich erst spät ein, sie sind unvollständig und verzerrt, werden missachtet oder kurzerhand geleugnet. Der Bewegungsschwung ist hoch, aber die Reaktion ist zu langsam.«96

Deshalb haben es die leicht, die wollen, dass alles so weitergeht wie bisher - weil sie davon profitieren. Das sind in den reichen Gesellschaften zumindest subjektiv nicht nur die Mächtigen. Deshalb ist ein die Katastrophe herbei­führendes Wirtschaftssystem trotz seiner jetzt schon erkannten katastrophischen Züge so erstaunlich stabil.

Ändern könnte das nur eine Umstellung unseres politischen und gesellschaftlichen Systemverhaltens, das Gregory Fuller »den Super-Paradigmenwechsel« nennt.(97) Aber gegen diesen steht ein Wirtschaftssystem, dem es inhärent zu sein scheint, dass es zugleich für die Natur zu schnell und dann wieder für die Bewältigung seiner Auswirkungen zu langsam reagiert. Das gilt, seit »die beschleunigte kapitalistische Produktivität sich von den Regenerationszyklen der Natur abgekoppelt hat, so dass die Gefahr besteht, dass dieses gesellschaftliche System tendenziell seine Naturbasis ruiniert.«(98)

Dieses Paradox vor Augen, kann man die Öko-Propheten sogar von der anderen Seite kritisieren: »Naiv die Politiker, die da verkünden: Es ist drei Minuten vor zwölf! Die Mittagsglocke hat längst geschlagen.«(99, Fuller)

So sagte auch der Arktis-Forscher Konrad Steffen schon 2004: »Es ist bereits fünf nach zwölf.«(100, zitiert nach Kolbert  

Die gewissermaßen pragmatisch-strategische Ansiedlung unserer Situation kurz vor der letzten kritischen Wende-Stunde, wie sie antik-religiöse und modern-säkulare Apokalyptiker gemeinsam haben, ist grundsätzlich schon überholt. Denn der Zusammenbruch kann nur als in wenigen Jahrzehnten wahrscheinlich prognostiziert werden, weil er längst in Gang gesetzt wurde. Damit wird die apokalyptische Situation definitiv zu unserer Gegenwart. 

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 wikipedia  Konrad_Steffen *1952 in Zürich bis 2020 (Gletscherspalte, Grönland)

      "Fünf nach Zwölf", Lauterburg 1998    Carl Amery   Gregory Fuller      wikipedia  Inhärenz  

 

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