Stanislaw Petrow

26. September 1983

 

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aus wikipedia-2022

Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow (* 7. September 1939 in Tschernigowka bei Wladiwostok; † 19. Mai 2017 in Frjasino bei Moskau) war ein Oberstleutnant der sowjetischen Luftverteidigungsstreitkräfte.

Am 26. September 1983 stufte er als leitender Offizier in der Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung einen vom System gemeldeten Angriff der USA mit nuklearen Interkontinentalraketen auf die UdSSR korrekt als Fehlalarm ein. Der Fehlalarm wurde durch einen Satelliten des sowjetischen Frühwarnsystems ausgelöst, der aufgrund fehlerhafter Software einen Sonnenaufgang und Spiegelungen in den Wolken als Raketenstart in den USA interpretierte.

Durch Eingreifen und Stoppen vorschneller Reaktionen verhinderte Petrow womöglich das Auslösen eines Atomkriegs, des befürchteten Dritten Weltkriegs.

Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung und wegen politischer Spannungen wurde Petrows Vorgehen erst in den 1990er Jahren publik.


Hintergrund (Kalter Krieg)​

Spätestens seit 1947 eskalierte der Konflikt zwischen der USA und der UdSSR zum sogenannten Kalten Krieg. Die Spannungen zwischen den beiden Supermächten führten zur Bildung der beiden Bündnissysteme NATO und Warschauer Pakt. Um 1950 begann ein beispielloses Wettrüsten. Eine Nuklearstrategie bildete sich rund um die Kernwaffen heraus. Den anfänglichen Vorsprung der USA bei den strategischen Nuklearwaffen (vgl. Interkontinentalraketen, strategische Bomber) hatte die UdSSR bis gegen Ende der 1960er Jahre durch eine massive Nachrüstung ihrer land- und seegestützten Interkontinentalraketen ausgeglichen, so dass ungefähre Parität hergestellt war. Eine Phase der Entspannungspolitik und die SALT-Verhandlungen Anfang der 1970er Jahre konnten das weitere Anwachsen der Arsenale nicht stoppen. Beide Parteien versuchten, ihre Positionen mit Hilfe neuer Technologien (vgl. z. B.: Mehrfachsprengköpfe) zu festigen.

 

Als sich die Spannungen um 1980 erneut verschärften, hatten beide Seiten bereits ein Vielfaches der zum Auslöschen des Gegners – und der restlichen Menschheit – erforderlichen nuklearen Zerstörungskraft akkumuliert (Overkill).

Im Fall eines gegnerischen Erstschlages sollte die Vergeltung in Form der totalen Vernichtung des Angreifers ausgelöst werden (Mutual assured destruction).

In der Realität gingen die Planungen für einen Atomkrieg – entgegen dem Eindruck, der in der Öffentlichkeit vermittelt wurde – allerdings nicht dahin, erst nach Erhalt des gegnerischen Erstschlags zurückzuschlagen – retaliation after ride-out – sondern, aufgrund der Verletzlichkeit der eigenen Kommando-, Kontroll- und Kommunikationssysteme (C3), bereits nach Erhalt der Warnung vor anfliegenden gegnerischen Raketen und Bombern binnen weniger Minuten den eigenen Gegenschlag auszulösen: Launch on Warning.

Voraussetzung dieses fragilen Gleichgewichts der Supermächte war das Vorhandensein eines hoch entwickelten automatischen Frühwarnsystems zur Überwachung des Luft- und Weltraums aus Radarstationen und Satelliten.

 

Im Jahr 1983 war das Verhältnis zwischen den beiden Blöcken wegen Ronald Reagans Bezeichnung der Sowjetunion als „Reich des Bösen“ und der Ankündigung des Raketenabwehrprogramms SDI im März sowie als Folge des Abschusses des Korean-Air-Lines-Flugs 007 durch die Sowjetunion am 1. September zusätzlich gespannt.

Zumindest das KGB war zusätzlich wegen wahrgenommenen Planungen der im November stattfindenden US-Kommandostabsübung Able Archer 83 beunruhigt.

 

Der Vorfall am 26. September 1983​

Oberstleutnant Stanislaw Petrow war am 26. September 1983 diensthabender Offizier im Serpuchow-15-Bunker (ungefähr 50 Kilometer südlich von Moskau). Seine Aufgabe bestand in der computer- und satellitengestützten Überwachung des Luftraumes. Im Fall eines nuklearen Angriffes auf die UdSSR sah die Strategie einen mit allen Mitteln geführten sofortigen nuklearen Gegenschlag vor.

Kurz nach Mitternacht meldete der Computer den Start einer auf die Sowjetunion gerichteten Atomrakete im US-Bundesstaat Montana. Ab einem feindlichen Raketenstart hatte die sowjetische Führung 28 Minuten Zeit, um – unwiderruflich – über einen Gegenschlag zu entscheiden. Petrow blieb eine Viertelstunde für die Unterrichtung seines Vorgesetzten. Da der Raketenstart laut dem System nur von einer einzigen Basis erfolgt sein sollte, hielt Petrow einen Erstschlag für unwahrscheinlich. Zusätzlich war die Verlässlichkeit des Satellitensystems (Kosmos 1382)[6] zuvor mehrfach in Frage gestellt worden. Auf Satellitenaufnahmen der US-Militärbasis konnte Petrow keine Rakete erkennen. Da die Basis jedoch zu dem Zeitpunkt genau auf der Tag-Nacht-Grenze lag, hatten die Bilder nur eingeschränkte Aussagekraft. Petrow meldete der Militärführung einen Fehlalarm.[9] Kurze Zeit später meldete das Computersystem eine zweite, dritte, vierte und fünfte abgefeuerte Rakete. Da das Satellitensystem letztlich keine weiteren Raketen meldete, ging Petrow weiterhin von einem Fehlalarm aus, da ein tatsächlicher Atomschlag seiner Ansicht nach mit deutlich mehr Raketen hätte stattfinden müssen.[10] Dabei standen ihm keine anderen Daten zur Verfügung, um seine Einstufung im maßgeblichen Zeitraum überprüfen zu können. Das landgestützte sowjetische Radar konnte keine zusätzlichen Daten liefern, da dessen Reichweite dafür zu gering war. Erst nach 17 Minuten wurde aus den Daten der Bodenradare klar, dass tatsächlich keine Raketen heranflogen.

 

Petrow stand während dieser Entscheidungsphase unter erheblichem Druck: Einerseits würde eine Weiterleitung von fehlerhaften Satellitendaten (Fehlwarnung) zu einem sowjetischen atomaren Erstschlag führen. Andererseits würden im Falle eines tatsächlichen US-amerikanischen Angriffs umgehend dutzende nukleare Sprengköpfe auf sowjetisches Territorium niedergehen und seine Einstufung der Satellitenwarnung als Falschmeldung eine gravierende Einschränkung der sowjetischen Handlungsoptionen bedeuten.

Dies hatte auch den Hintergrund, dass die Sowjetunion damals eine dezentral organisierte Zweitschlagfähigkeit als Gegenmaßnahme gegen Enthauptungsstrategien erst teilweise aufgebaut hatte.

Am Morgen stellte sich heraus, dass das satellitengestützte sowjetische Frühwarnsystem Sonnenreflexionen auf Wolken in der Nähe der Malmstrom Air Force Base in Montana, wo auch US-amerikanische Interkontinentalraketen stationiert waren, als Raketenstarts fehlinterpretiert hatte.

Auch wenn den Befehl zum Gegenschlag letztlich noch das sowjetische Oberkommando und die Staatsführung hätten geben müssen, hatte Petrow durch sein Verhalten die hierarchische Kettenreaktion bis zu einem möglichen Nuklearkrieg rechtzeitig unterbrochen.

 

Weiterer Lebensweg​

Petrow wurde für sein Verhalten seitens seiner Vorgesetzten weder belobigt noch belohnt – aber auch nicht bestraft. Eine ursprünglich für sein Handeln geplante Ordensverleihung blieb aus, denn als sich der Grund für die Anfälligkeit des Systems herausgestellt hatte, zogen Vorgesetzte die Geheimhaltung vor, um ihr eigenes Gesicht zu wahren.

Jedoch erhielt er später einen Orden für andere Verdienste um den Aufbau der Anlage und wurde schließlich noch befördert. Er verließ das Militär im Folgejahr aus rein familiären Gründen, kehrte jedoch später als Zivilist wieder auf seinen früheren Posten zurück. Petrow starb am 19. Mai 2017 in Frjasino bei Moskau, wo er die letzten Jahrzehnte seines Lebens gewohnt hatte.


 

Ehrungen und Gedenken​

Der Unternehmer Karl Schumacher aus Oberhausen[13] besuchte Petrow 1998 in Russland, um sich für dessen Verhalten zu bedanken, und lud ihn nach Deutschland ein. 1999 besuchte Petrow Oberhausen, gab Radio- und Fernsehinterviews und diskutierte mit Oberhausener Schülern.

Die Association of World Citizens mit Sitz in San Francisco zeichnete Petrow sowohl am 21. Mai 2004 in Moskau – wo ihm mit der Auszeichnung auch 1000 US-Dollar überreicht wurden – als auch am 19. Januar 2006 im UN-Hauptquartier in New York mit dem World Citizen Award aus.

 

Petrow (links) bei der Verleihung des Dresden-Preises, 2013
Am 24. Februar 2012 wurde Stanislaw Petrow mit dem Deutschen Medienpreis ausgezeichnet.[14] Am 17. Februar 2013 wurde ihm in der Dresdner Semperoper der mit 25.000 Euro dotierte Dresden-Preis 2013 verliehen.[15], [16]

Anfang Juli 2018 ging bei der Stadt Bonn ein Bürgerantrag ein, einen Platz nach Petrow und Wassili Archipow, der vermutlich ebenfalls einen Atomkrieg verhindert hatte, in Archipov-Petrov-Platz umzubenennen.[17] Der Antrag wurde allerdings abgelehnt.[18]

 


Denkmal​[Bearbeiten]

An seinem 2. Todestag im Jahr 2019 wurden in Oberhausen Gedenktafeln[19] in drei Sprachen für Petrow aufgestellt. Die Inschrift lautet:




„Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“

 

Es handelte sich hierbei um das weltweit erste Denkmal für Petrow überhaupt. Bei der Enthüllung der Tafeln waren die Tochter und der Sohn Petrows anwesend.

Dokumentarfilm​[Bearbeiten]

Der dänische Filmregisseur Peter Anthony begleitete Stanislaw Petrow über einen Zeitraum von 10 Jahren für den 2014 erschienenen (und mit nachgestellten Rückblenden versehenen) Dokumentarfilm Der Mann, der die Welt rettete (im Original: The Man Who Saved the World).[20], [21]

35. Jahrestag​[Bearbeiten]

Am 26. September 2018 ehrte der MIT-Professor Max Tegmark Petrov bei einer Zeremonie im New Yorker Museum of Mathematics mit dem mit 50.000 Dollar dotierten Future of Life Award des Future of Life Institute. Der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-Moon, sagte bei diesem Anlass:




„Es ist schwer, sich etwas Verheerenderes für die Menschheit vorzustellen als einen totalen Atomkrieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Und doch hätte es am 26. September 1983 zufällig dazu kommen können, wenn Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow nicht so weise entschieden hätte. Dafür gebührt ihm die tiefe Dankbarkeit der Menschheit. Lassen Sie uns beschließen, gemeinsam an der Verwirklichung einer Welt ohne Angst vor Atomwaffen zu arbeiten und uns dabei an das mutige Urteil von Stanislaw Petrow zu erinnern.“

 

 

Der Preis wurde von seiner Tochter Elena entgegengenommen. Petrovs Sohn Dmitry hatte seinen Flug nach New York verpasst, weil die US-Botschaft sein Visum verzögert hatte. „Dass ein Mann kein Visum bekommt, um die Stadt zu besuchen, die sein Vater vor der nuklearen Vernichtung gerettet hat, ist sinnbildlich dafür, wie frostig die amerikanisch-russischen Beziehungen geworden sind, was das Risiko eines versehentlichen Atomkrieges erhöht“, sagte Tegmark bei der Übergabe des Preises.[22]

 

Zu diesem Jahrestag brachte der WDR eine Folge der Sendung Stichtag über Stanislaw Petrow.[23]

Populärkultur​[Bearbeiten]
Die Stoner-Rock-Band Beehoover widmete Petrow ein Lied.[24]
2009 inszenierte die Theatergruppe Rimini Protokoll mit Petrow, als Darsteller seiner Geschichte, das dokumentarische Stück Der Zauberlehrling. (U. A. am 22. Mai 2009 im Central, Düsseldorfer Schauspielhaus)[25]
2011 widmete die deutsche Elektronikformation ['ramp] ihr Album return Stanislaw Petrow (im Booklet irrtümlich als „Vladimir“ vermerkt durch einen in den Medien falsch übermittelten Namen).[26]
2019 widmete die Punkrock-Band Krachmakers Stanislaw Petrow einen deutschsprachigen Song auf einer Vinyl-Single.[27]
Im Januar 2021 veröffentlichte Roger Waters, der ehemalige Bassist und Sänger von Pink Floyd, den Song The Gunner's Dream, in dem er sich mit Petrow auseinandersetzte.
 

 

 

 

   Der einsame Tod des Mannes, der die Welt gerettet hat 

 

 

https://www.heise.de/tp/features/Der-einsame-Tod-des-Mannes-der-die-Welt-gerettet-hat-7096489.html

 

17. Mai 2022 Leo Ensel

 

 

Vor fünf Jahren starb, von der Öffentlichkeit unbemerkt, der russische Oberstleutnant a.D. Stanislaw Petrow. Sein Dienst an der Menschheit ist unbeschreiblich

 

Im Herbst 1983 stand die Welt infolge eines Raketenalarms im sowjetischen Raketenabwehrzentrum unmittelbar vor einem Atomkrieg. Der diensthabende Offizier Stanislaw Petrow behielt die Nerven. Am 19.05.2017 starb er einsam in seiner Plattenbauwohnung bei Moskau.

 

 

Fast zehn Jahre hatte es gedauert, bis die Nachricht von seiner Millionen Menschenleben rettenden Nicht-Tat allmählich in die Welt sickerte. Und dann dauerte es nochmals Jahre, bis er langsam wenigstens einen Bruchteil der Anerkennung erhielt, die er verdient:

Der ehemalige Oberstleutnant der Sowjetarmee Stanislaw Petrow hatte im Herbst 1983 durch eine einsame mutige Entscheidung sehr wahrscheinlich einen dritten Weltkrieg verhindert und damit das Leben von Millionen, gar Milliarden Menschen gerettet.

 

Die Nacht vom 25. auf den 26. September 1983

 

Zur Erinnerung: In der Nacht vom 25. auf den 26. September, mitten im kältesten Kalten Krieg, schrillte um 0:15 Ortszeit im sowjetischen Raketenabwehrzentrum bei Moskau die Sirene. Das Frühwarnsystem meldete den Start einer US-amerikanischen Interkontinentalrakete.

Dem diensthabenden Offizier Petrow blieben nur wenige Minuten zur Einschätzung der Lage.

Im Sinne der damals geltenden Abschreckungslogik – "Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter!" – hatte die Sowjetführung weniger als eine halbe Stunde Zeit, den alles vernichtenden Gegenschlag auszulösen.

Petrow analysierte die Situation und meldete nach zwei Minuten der Militärführung Fehlalarm infolge eines Computerfehlers. Während er noch telefonierte, zeigte das System einen zweiten Raketenstart an, kurz darauf folgten ein dritter, vierter, fünfter Alarm. Stanislaw Petrow behielt trotz allem die Nerven und blieb bei seiner Entscheidung.

Nach weiteren 18 Minuten extremster Anspannung passierte – nichts! Der diensthabende Offizier hatte recht behalten. Es hatte sich in der Tat um einen Fehlalarm gehandelt; wie sich ein halbes Jahr später herausstellte, infolge einer außergewöhnlichen Konstellation von Sonne und Satellitensystem, noch dazu über einer US-Militärbasis. Das sowjetische Abwehrsystem hatte diese Konfiguration als Raketenstart fehlinterpretiert.

Was geschehen wäre, wenn Petrow zu einer anderen Einschätzung gelangt und dem als äußerst argwöhnisch geltenden Parteichef Andropow den Anflug mehrerer US-amerikanischer Interkontinentalraketen gemeldet hätte – und dies im Vorfeld der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Westeuropa und drei Wochen nach dem Abschuss einer südkoreanischen Passagiermaschine über der russischen Insel Sachalin –, das kann sich jeder ausrechnen, der bereit ist, die notwendige Fantasie und den Mut aufzubringen, eins und eins zusammenzuzählen. Nie hat die Welt vermutlich so unmittelbar vor einem alles vernichtenden atomaren Weltkrieg gestanden.

Wer war dieser Mann, dem wir die Rettung unserer Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verdanken?

 

Ein sowjetisches Leben in kurzen Strichen skizziert: 1939 bei Wladiwostok geboren, der Vater Jagdflieger, die Familie eines Soldaten muss oft umziehen.

 

Später wird er selbst Berufssoldat. Für seine weltrettende Entscheidung wurde er zuerst gerüffelt, dann weder befördert noch bestraft.

 

Den frühen Tod seiner geliebten Frau Raissa scheint er nie verwunden zu haben.

 

Die Journalistin Ingeborg Jacobs hat vor drei Jahren über ihn, die Zeit des Kalten Krieges und die berühmte Nacht im Herbst 1983 ein kluges und einfühlsames Buch verfasst [1].

 

Ein verhinderter Friedensnobelpreisträger im Plattenbau

 

Als ich im Jahre 2010 zum ersten Mal von Stanislaw Petrow und den Ereignissen des 26. September 1983 erfuhr, musste ich mich erst einmal setzen. Nachdem ich endlich wieder zu mir gekommen war, mir bewusst gemacht hatte, was da eigentlich geschehen war und was ich zusammen mit der ganzen Welt diesem Mann verdanke, schossen mir einige Fragen durch den Kopf:

Warum erhält dieser Mann nicht den Friedensnobelpreis?

Warum steht diese Geschichte nicht in den Lesebüchern aller Kinder dieser Welt?

Als warnendes Beispiel dafür, wie weit es die Menschheit mit ihrem Wettrüsten bereits gebracht hatte.
Und als ermutigendes Beispiel für menschlichen Mut und Zivilcourage.

Und: Wie lebt dieser Stanislaw Petrow als russischer Rentner in seiner vermutlich 60 Quadratmeter großen Wohnung im Plattenbau?

Hat er mehr als 200 Euro im Monat?

Und: Wie geht es ihm?

Ist er gesund? Glücklich?

Ich wusste nichts über ihn und hatte doch, ohne es erklären zu können, ein Gefühl: Dieser Mann ist nicht glücklich!

 

 

Im Mai 2013 nahm ich Kontakt mit ihm auf. Ich schickte Stanislaw Petrow einen Dankesbrief zusammen mit einer schönen Armbanduhr, auf deren Rückseite eine Dankeswidmung eingraviert war, und Geld. Wenig später erhielt ich von ihm eine sehr freundliche Mail.

 

Besuch in Frjasino

Es dauerte noch drei Jahre, bis ich ihn im Sommer 2016 in Frjasino bei Moskau besuchte. Als das Taxi vor dem großen Wohnblock in der Uliza 60 let SSSR hielt, stand er schon, in der Hand eine Stofftasche, vor dem Eingang. Er kam gerade vom Kiosk, wo er noch Mineralwasser für uns beide eingekauft hatte.

 

Ich sah einen schmächtigen älteren Mann mit fahler Gesichtsfarbe, schon etwas klapprig auf den Beinen, der erkennbar schlecht sah. Wie er mir später erzählte, war eine Star-Operation nicht erfolgreich verlaufen.

 

Vor diesem Treffen hatte ich Angst gehabt. Ich wusste, dass seine zunehmende Bekanntheit ihm durchaus nicht immer zum Vorteil gereicht hatte. Die wenigsten seiner Besucher waren uneigennützig gewesen, von einem dänischen Regisseur waren er und seine Geschichte wie eine Goldmine zynisch ausgebeutet worden. Er war zu Recht misstrauisch.

Wir setzten uns in seine Küche und es wunderte mich nicht: Viele russische Männer, vor allem die älteren, tun sich schwer mit der Führung eines eigenen Haushalts – und das konnte man deutlich sehen. Ich fuhr alle meine Antennen so weit wie möglich aus, ignorierte die verwahrloste Küche und schaute ihm nur in seine schönen wässrig-hellblauen Augen.

Eine Stunde nahm er sich Zeit und ich erlebte auf dem abgewetzten speckigen Küchenmobiliar aus Kunstleder einen freundlichen, klugen, sensiblen und gebildeten Mann mit einer kräftigen dunklen Stimme.

Als ich ihn aus sentimentalen Gründen bat, mir ein Autogramm in mein Buch über Angst und atomare Aufrüstung zu schreiben [2], das ich 1982 im Vorfeld der Nato-Nachrüstung verfasst hatte, meinte er schmunzelnd: "Normalerweise sind es doch die Autoren, die Autogramme geben!"

Und er malte, aufgrund seiner schlechten Augen, vorsichtig jeden Buchstaben. Als ich später mir alles genauer anschaute, staunte ich nicht schlecht: Als Datum hatte er mir den 3. Juli 1916 notiert.

Der Retter der Welt hatte sich um ganze hundert Jahre geirrt! Der Kontrast war hinreißend: Hier irrte er sich um hundert Jahre – aber in der Nacht, als es Spitz auf Knauf stand, in der es um Sein oder Nichtsein für den gesamten Planeten ging, da hatte er schlafwandlerisch alles richtig gemacht!

Der Abschied war freundschaftlich und herzlich.

Späte Anerkennung
In den letzten zehn Jahren seines Lebens kam es dann doch noch zu einer gewissen späten Anerkennung. Er erhielt Einladungen nach New York, Westeuropa und besonders oft nach Deutschland. Und einige Preise waren nicht nur mit Ehre verbunden, sondern zum Glück auch mit – Geld!

 

 

Und doch blieb er, so scheint es mir, zugleich der einsame Mann in der verstaubten, unbenutzten Küche seiner Plattenbauwohnung, endlose 50 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum, vom Kreml entfernt.

 

Anlässlich einer Preisverleihung 2012 in Baden-Baden kam es am Ende eines Interviews, das die Tageszeitung Welt mit ihm führte, zu folgendem bemerkenswerten Dialog [3]:

 

Herr Petrow, sind Sie ein Held?
Stanislaw Petrow: Nein, ich bin kein Held. Ich habe einfach nur meinen Job richtig gemacht.
Aber Sie haben die Welt vor einem dritten Weltkrieg bewahrt.
Stanislaw Petrow: Das war nichts Besonderes.

 

 

Man halte für einen Moment lang inne und mache sich klar, was dieser nüchterne Satz Petrows bedeutet: Er ist nichts weniger als das Understatement der Weltgeschichte.

Vor fünf Jahren, am 19. Mai 2017 starb Stanislaw Petrow im Alter von 77 Jahren in Frjasino.

Wie mir sein Sohn Dmitri Anfang September 2017 mitteilte, wurde er im engsten Familienkreis beigesetzt.

Es dauerte fast vier Monate, bis diese Nachricht die Welt endlich erreicht hatte.

 

 

 

 

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Stanislaw Petrow *1939