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Das Ritual der Antifaschisten    Von JOACHIM GAUCK

Erfahrungen im Umgang mit den Gegnern des Schwarzbuchs des Kommunismus

 

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Für die deutsche Ausgabe des Schwarzbuches des Kommunismus hatte der Verlag einen Beitrag von mir erbeten. Nach einigem Zögern entschloß ich mich, dieser Bitte zu folgen. Allerdings wollte ich einen eigenen Schwer­punkt setzen. Ich stellte ihn unter die Überschrift Vom schwierigen Umgang mit der Wahrnehm­ung. So geriet ich in Debatten und Kontroversen um das Buch und in sehr unterschiedliche Podiums­diskuss­ionen in Hamburg, Berlin und Dresden.

Hatte ein Teil der Rezensionen schon eine erstaunliche menschliche Kälte gegenüber den Opfern kommun­ist­ischer Herrschaft gezeigt, möglicherweise erwachsen aus dem »Elend linker Immunisierungs­versuche« (so Christian Semler in der taz), so war noch häufiger von Fehlern und Ungenauigkeiten der Autoren zu lesen.

Auch hörte ich in mehreren Podiums­diskussionen von Professoren den Hinweis, der in der Besprechung des Buches von Manfred Hildermeier (ZEIT, Nr. 24/98) lautete: »Dem Kenner sagt das meiste wenig Neues Aber erstens sind nur wenige Zeitgenossen Kenner, und zweitens müssen die Kenntnisse der Kundigen und Kenner einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden.

Einige Politologen und Zeitgeschichtler haben mit Recht auf die Spezifik des intellektuellen Frankreich hinge­wiesen, wo der Diskurs phasenweise von Kommunisten beherrscht worden sei. Dies sei hierzulande jedoch völlig anders gewesen, mithin bedürften wir der antikommunistischen Erleuchtung nicht. Ich kann dem nur sehr wenig folgen. Denn gegenüber dem »real existierenden Sozialismus« haben nicht nur die Kommunisten ihre Kenntnismängel und Haltungsdefizite zu bereuen, sondern weite Teile der linksliberalen gebildeten Stände haben sich den milden Blick erlaubt, der ein entscheidendes Engagement gegen das Unrecht oftmals verhinderte

Ich habe an dieser Stelle bislang auf die erkenntnisbegrenzende Wirkung des Lagerdenkens hingewiesen, von dessen Hartnäckigkeit im liberalen Westen ich überrascht war. Aber inzwischen vermute ich, daß es daneben tiefere und wirksamere Ursachen für unsere Wahrnehmungs­defizite gibt. Wenn ich die Heftigkeit der Ablehnung, die emotionale Kälte einiger Kritiker oder das »ganze Arsenal von Argumenten« zur Verwischung der Spezifik der kommunistischen Verbrechen einiger Altlinker (so Richard Herzinger in der ZEIT Nr. 27/98) vor Augen halte, frage ich nach den tieferen Gründen für die Abwehr.

Vordergründig wird ja die Gleichsetzung von Nazi- und kommunistischer Diktatur abgelehnt. Diese Gleich­setzung wird zwar im Schwarzbuch nicht vollzogen. Aber jeder Kommunismuskritiker kennt den Gestus der heftigen Abwehr schon aus anderen politischen Debatten (es gibt die bösartige wie die wohl­meinende Variante).

Manchmal beschleicht mich der Verdacht, es ginge dabei um mehr. Etwa um die Rettung eines Weltbildes. Dies fällt mir ein, wenn ich zum Beispiel sehe, daß in Italien Noberto Bobbio, wahrlich eine linke philo­soph­ische Autorität, das Schwarzbuch positiv rezipiert, die Hauptthesen übernimmt und die Unrecht­staaten des Kommunismus und Faschismus-Nationalsozialismus nebeneinanderstellt. Für ihn gibt es keine mildernden Umstände für die kommunistischen Greuel, die uns hierzulande doch so oft angeboten werden — der Komm­un­ismus habe aber doch die bessere Idee gehabt. Ein Mord »ist ein Mord, Terror bleibt Terror, und damit basta«.

Die deutsche Debatte weist eine derartige Klarheit höchst selten auf. Zu tief sitzt die Angst, ein intellektuelles und moralisches Tabu zu verletzen. In der Nach-68-Ära hat der westliche Teil der Nation die großen Weigerungen erkannt und verworfen, die die Nachkriegs-deutschen prägten. Nach '68 wollte man nicht mehr unfähig sein zu trauern, nicht mehr deutsche Schuld durch die Betonung deutschen Leides bannen, wollte man Verantwortliche benennen und bestrafen. Und: Je jünger man wurde, desto heftiger fiel die Verwerfung der Schuld der Väter aus.


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War in früheren Jahrzehnten die Heftigkeit patriotischer Gesinnung ein Ausweis staatsbürgerlicher Qualität, so wuchs nach 68 die Bereitschaft, das deutsche zivilisatorische Versagen und die Blutschuld ins Zentrum der Bewußtheit zu rücken. Was als aufklärerisches Tun begann und zu einer nachholenden geistigen Befreiung der Deutschen führte, was so die zivilen Grundlagen dieser Gesellschaft sicherte, verfestigte sich in bestimmten Kreisen zu einem rituellen Antifaschismus, der weniger daran interessiert war, an die Leiden der Opfer zu erinnern, als den innenpolitischen Gegner zu diskreditieren.

Später kritisierte Arnulf Baring eine »Dauer­zerknirschung« der Deutschen, zuvor war Hermann Lübbe ein »Sündenstolz« der Deutschen aufgefallen. Enthält vielleicht die immerwährende Zerknirschung ein magisches Element, das die Schuld des immer wiederkehrenden Wegsehens »bannen« soll? Erst wurden die Nazis nicht in ihrem Wesen wahrgenommen, nach dem Krieg zunächst deren Opfer nicht, statt dessen die Mängel der Sieger und die Greuel des Kommunismus. Später übersahen andere Wesentliches am Kommunismus, und man verlor folgerichtig das Interesse an den Opfern der herrschenden Kommunisten.

Als »Sozialismus« wurde er für manche gar zu einer gesellschaftlichen Alternative des »Kapitalismus«, wie man die parlamentarische Demokratie nun oft nannte. Aus dem Erschrecken darüber, daß in diesem Land »ganz normale Männer« zu Mördern und ganz normale Kinder, Frauen und Männer zu Opfern geworden waren, wurde ein fixiertes Wissen um die Einmaligkeit der Deutschen. Eine negative Einmaligkeit zwar. Aber die Psychologen werden schon erklären können, daß das Besondere und Einmalige, auch wenn es negativ ist, eine magische Anziehung hat. Es gibt möglicherweise einen Gewinn aus böser Einmaligkeit. Sind wir die Mördernation par excellence, sind der Judenmord und die deutschen Kriegsgreuel einmaligund um Einmaligkeit und Unvergleichbarkeit wird ja fortwährend gerungen —, dann existiert so etwas wie ein weltgeschichtlicher Tiefpunkt, ein fester Punkt.

Leicht allerdings kann derjenige, der sich so ex negativo definiert, sich und seiner Umwelt nur raten, nehmt mich, uns Deutsche, nicht in die Verantwortung. Politische Enthaltsamkeit ist für den Erben des Weltungeheuers die höchste Tugend. Bereitschaft zum Engagement sollte von mir nicht gefordert werden, nicht einmal für das Humanum. So erklärt sich zum Beispiel die Forderung dieser Kreise nach Enthaltsamkeit im Falle Bosnien und anderer Krisenherde, an denen wir um der Menschenrechte der Gepeinigten und Ermordeten willen eingreifen müßten.


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Neben diesem Gewinn, der erlaubte Distanz genannt werden kann, mag für andere ein Gewinn darin bestehen, Geschichte wieder berechenbarer zu verstehen. Will in postmoderner Zeit niemand mehr Auskunft geben über Ursprung und Ziel der Geschichte, so wird dann ein negativer Fixpunkt im Durch­einander der Individual- und Völker­geschichte zum Beginn eines neuen Koordinaten­systems der Geschichte. Wer den absoluten Tiefpunkt der Geschichte kennt, dem wird vielleicht irgendwann auch wieder das gesetzmäßige Ziel der Geschichte erscheinen.

Das religiöse Bewußtsein hat sein sicheres Wissen um das Summum bonum, Gott, verloren. Die Reich-Gottes-Verheißung irrt durch die Lande — heimatlos. Das sozialistische Bewußtsein hat seine lange behauptete Zielsicherheit eingebüßt. Aber Christen, Sozialisten und anderen Suchenden wird der Verlust des hohen Zieles der Geschichte erträglicher, wenn es den einen tiefen Abgrund wirklich gibt. Deutungshunger und Sinnsehn­sucht sind vermutlich den Heutigen mindestens so zu eigen, wie den Generationen, die in vormodernen Zeiten lebten.

So verbirgt sich im Kampf um die Absolutheit des Tiefpunktes der Geschichte wohl auch ein religiöses Element. Oder vorsichtiger ausgedrückt: eine Sehnsucht der Postreligiösen, die der Dimension der Erlösungs­sehnsucht der Religiösen entspricht. So jedenfalls würde die Grundsätzlichkeit und Heftigkeit der Geschichts- und Geschichts­politik­debatten verständlicher. Ein Teil der Debatten und Strategien deutet mehr auf den Bereich Glaubenskampf oder -krieg hin, verläßt zeitweilig das Terrain der Rationalität. Deshalb werden uns manche Attitüden und Kontroversen von heute morgen wieder begegnen.

Sollte es so sein, kann ich mir auch die oft so große Wirkungslosigkeit der Boten erklären. Jener, die das Innerste gesehen hatten, das, ob zu Zeiten von Mord und Terror oder zu Zeiten der »modernen Diktatur«, immer ein Angriff auf das Humanum war. Sie hatten bekannte und unbekannte Namen, aber immer eigene Wahrnehmungen, die sie von ihren Herren trennten.

Sie hießen Silone oder Regler oder Koestler, Sperber, Grossmann oder Solschenizyn oder Bukowski und sagten ihren Zeitgenossen, wie es eigentlich ist. Nur trafen sie überall auf Kundige, die es besser wußten. Sicher ging es nicht allen so wie Jan Karski aus Polen, der in anderem historischem Kontext 1942 den Alliierten Beweise über Hitlers Taten und Pläne bezüglich der Juden brachte. Man konnte ihm einfach nicht glauben.

Überhaupt benutzen die Boten nicht immer die richtigen Wörter, neigen dazu, ihr Wissen absolut zu setzen. Einmal ist der Bote zu akademisch, ein andermal zu simpel. Dann ist er oft persönlich zu sehr verwickelt oder zu weit von der Sache entfernt. Das Pech der Boten ist, daß ihre Botschaften oft nicht zu den Systemen der Kundigen passen. Das aber macht die Boten so wichtig, daß sie Zeugen sind. Ihr Zeugnis wehrt der Weltsicht der Ängstlichen wie der Kundigen. Wo die einen resigniert haben, haben die anderen definiert, und in beiden Fällen wären die Nachrichten der Boten Anlaß, Wissen und Haltungen zu ändern. Und eben dieser schweren Aufgabe möchten wir in der Regel so lange wie möglich ausweichen.

Manfred Hildermeier fragt am Ende seiner Besprechung, wem »die verquere Logik« dienen könne, daß kommunistische Verbrechen »Auschwitz in den Schatten stellten«. Aber die Botschaft aus dem Inneren der totalitären beziehungsweise diktatorischen kommunistischen Regime lautet nicht: Unsere Schreckens­nachrichten stellen den vorigen Schrecken in den Schatten. Sie stellen neben das vorige Erschrecken ein neues. Ralph Giordano sagte es, in seinem Ostpreußenbuch 1994, so: »Schluß damit, die Ermordeten der beiden größten historischen Gewaltsysteme zu Rivalen zu degradieren — sie waren es weder zu Lebzeiten noch im Tode

Die Botschaft lautet: Es gibt keine Sicherheit. Nach und neben dem größten Zivilisations­bruch für uns Deutsche werden Russen und Kambodschaner ihren Tiefpunkt der Geschichte möglicherweise anders definieren. Dies Zeugnis ist ernst zu nehmen, nicht zu relativieren. Es geht also nicht um einen neuen Schatten für altes Unrecht, sondern um neues Licht für anderes Unrecht.

Quelle: Die Zeit, 30. Juli 1998

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