Start      Weiter

11.   Die gegenwärtige Lage der Jugend     Lorenz-1983

 Der kritische Punkt (229)   Nationaler Haß (231)       Die sensitive Phase der Gruppenwahl (233)   Die Sinnentleerung (233)

 

229-240

Mehrere von den im dritten Teil, vor allem im 8. Kapitel besprochenen Vorgängen, durch die die menschliche Geistesentwicklung die Menschenseele bedrängt, sind ganz besonders dazu angetan, die Lage der Jugend zu erschweren. Schwierigkeiten im Übernehmen der elterlichen Tradition, die Zunahme der gesellschaftlichen Zwänge und des Stresses, die beengende Überorganisation und die durch Arbeitsteilung bedingte Spezialisierung - alle wirken zusammen, um jungen Menschen die Freude am Leben zu mindern.

  Der kritische Punkt      ^^^^  

Wie im ersten Teil (besonders im 3. Kapitel] erörtert wurde, sind in der Programmierung der menschlichen sozialen Ontogenese gewisse Mechanismen »vorgesehen«, die unter den bisherigen Bedingungen der Kultur­entwicklung den lebensnotwendigen Mittelweg zwischen dem Festhalten an erworbenen Strukturen und ihrem Abbau und ihrer Umkonstruktion gefunden haben.

Der Weise Ben Akiba soll gesagt haben: »Alles ist schon dagewesen.« Wenn ich meine Warnpredigt über den Traditionsverlust der heutigen Jugend halte, wird mir sehr oft erwidert, die Alten seien mit den Jungen niemals einverstanden gewesen, und es sei bisher keine Kultur am Konflikt der aufeinanderfolgenden Generationen zugrunde gegangen. Ich habe schon gesagt, daß das Weltgeschehen sich niemals wiederholt. Das Prinzip »Nichts ist schon dagewesen« bezieht sich auf die gegenwärtige Lage der Menschheit genauso wie auf alle Stufen im stammesgeschichtlichen und im historischen Geschehen.

Die Stufe, die eine Generation von der vorangehenden trennt, wird der Geschwindigkeit der kulturellen Entwicklung entsprechend immer größer. Um eine Tradition richtig von einer Generation auf die nächste überliefern zu können, ist es nötig, daß die jüngere imstande ist, sich mit der älteren zu identifizieren. Diese Identifizierung hängt erstens von der Stärke persönlicher Bindungen ab, die zwischen Menschen der jüngeren und der älteren Generation bestehen, zweitens vom Ausmaß der Veränderung, der die betreffende Kultur im Laufe einer Generation unterliegt. Der Kontakt, die Liebe zwischen den Generationen, nimmt ab, und wir sehen leider »gute« Gründe für diesen bedauerlichen Vorgang.

230/231

Die verschiedenen Kulturen haben ihre Eigenständigkeit zum großen Teil verloren. In Kleidung, Manieren und sonstigen Gepflogenheiten sind sich die Völker aller Erdteile immer ähnlicher geworden. Gleichzeitig aber ist der kulturelle Abstand zwischen den Generationen in sämtlichen Kulturen der Erde gewaltig angewachsen. Wir haben heute einen kritischen Punkt erreicht: Die Jugendlichen der verschiedensten Völker sind einander ähnlicher als irgendwelche von ihnen ihren Eltern. Die jungen Menschen aller Zeiten haben immer schon in der besprochenen Weise (3. Kapitel) gegen die ältere Generation revoltiert, heute aber hat man den Eindruck, daß der sehr gefährliche kritische Punkt erreicht ist, an dem die jüngere Generation der älteren wie einer feindlichen ethnischen Gruppe gegenübersteht.

Nationaler Haß    ^^^^  

Erik Eriksons Begriff der kulturellen Pseudo-Ar-tenbildung wurde bereits erwähnt. Es wurde auch schon gesagt, daß der Zusammenhalt der Gruppe u. a. durch die gemeinsame Hochschätzung gruppenspezifischer Verhaltensnormen bewirkt wird. Das wäre schön und gut, wenn es nicht mit dem Preis der Verachtung, ja, des Hasses gegen eine vergleichbare, rivalisierende Gruppe bezahlt werden müßte. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß heutzutage weltweit ein emotionales Verhältnis zwischen den Generationen im Entstehen ist, das durchaus demjenigen gleichzusetzen ist, das zwischen

231


zwei benachbarten Stämmen von Papuas oder von südamerikanischen Indianern besteht. Indianer und Papuas schmücken sich mit stammesspezifischen Bemalungen und Anhängseln, die heutige Jugend tut Analoges, und zwar in erstaunlich uniformer Weise. Mit anderen Worten, die Kinder behandeln ihre Eltern, als ob sie eine fremde ethnische Gruppe wären.

Das bewußte Sich-Absetzen gegen eine andere Gruppe ist, neben anderen Faktoren, auch von Aggressivität motiviert, was mir durch eine Selbstbeobachtung klargemacht wurde. Im Institut für Vergleichende Verhaltensphysiologie in Seewiesen fand allwöchentlich ein Kolloquium statt, das sich durch einen wahrhaft großartigen Mangel an Formalität auszeichnete. Sehr viele lang behaarte, bärtige, bloßfüßige und blue-jeans-bekleidete junge Leute waren in unserem Kreise. Eines Tages ertappte ich mich dabei, daß ich mir zum Kolloquium einen Anzug, Hemd und Krawatte angezogen hatte. Plötzlich wurde mir klar, daß ich damit meinerseits Kriegsbemalung angelegt hatte und zog mich tatsächlich beschämt noch einmal um und legte meine gewöhnliche Kleidung an. Auch A. Festetics weist auf den aggressiven Charakter gruppenspezifischer Bekleidung hin*. Wie er berichtet, erhalten sich ungarische wie slowakische Nationaltrachten am reinsten dort, wo eine Enklave eines oder des anderen Volkes isoliert ist.

* Kulturethologische und ökologische Aspekte pannonischer Volkstrachten. In Vorbereitung.

232


Die sensitive Phase der Gruppenwahl    ^^^^  

Wie schon im 3. und im 6. Kapitel gesagt wurde, ist ein junger Mensch jeglicher Propaganda besonders zugänglich, wenn er sich gerade im Stadium der Ablösung von den Traditionen des Elternhauses befindet. Zu dieser Zeit besitzt der junge Mensch nicht nur die Fähigkeit, sich einer neuen Gruppe anzuschließen, er hat sogar ein ungeheuer starkes Bedürfnis, dies zu tun. Wenn anschlußbedürftige junge Leute keine geeignete Gruppe finden, so schaffen sie sich eine eigene Gruppe oder sogar zwei, mit dem unreflektierten Ziel, militant für die eigene Gruppe und gegen die andere oder gegebenenfalls gegen die ganze Welt anzutreten. Das berühmt gewordene Musical »Westside Story« gibt ein völlig richtiges Bild dieses Vorganges.

Selbstverständlich sind die Jugendlichen in diesem kritischen Alter ungemein anfällig für Propaganda aller Art, sie sind Freiwild für den Demagogen.

Die Sinnentleerung

Der selbständig denkende junge Mensch, der völlig richtig eingesehen hat, daß das kompetitive Erfolgsstreben der Elterngenerationen und ihr einseitiger Glaube an Wirtschaftswachstum und Konjunktur in Sackgassen führen, kann allzu leicht an der Welt als solcher verzweifeln.

233


Vor allem, wenn ein junger Mensch in der Stadt in einer materialistischen und nur finanziell und industriell interessierten Umgebung aufwächst, ist es nicht zu verwundern, wenn er in seinem erfolgreichen und wohlsituierten Vater kein nachahmenswertes Beispiel sieht, besonders wenn er bemerkt, daß diese Erfolgsmenschen, hart an der Grenze des Herzinfarkts, unter Streß stehen und keineswegs wirklich glücklich sind. Wie richtig diese Meinung ist, ist durch zahlreiche Ergebnisse der Streßforschung erwiesen.

Ebensowenig ist es zu verwundern, wenn die Jugendlichen auch nicht viel von der Demokratie halten, zu der sich die Elterngeneration - wenigstens mit einem Lippenbekenntnis - bekennt. Wo soll der junge Mensch Ideale hernehmen? Es ist noch ein Glück, wenn er sich nicht an falsche Ideale hängt, wie an Pseudoreligionen, oder gar in die Rauschgiftsucht flieht. Auch nicht viel besser ist es, wenn er, wie einst die römische plebs, nach panem et circenses, nach Brot und Spielen, schreit, was Aldous Huxley in die Sprache unseres Jahrhunderts übersetzt hat: »Gib mir Fernsehen und Hamburgers und laß mich um Gottes Willen in Frieden mit deinem Gerede von Verantwortlichkeit und Freiheit.« Die Sucht nach Unterhaltung ist der bedenkliche Gegensatz zur Freude am kreativen Spiel. Die völlig passive Seelenhaltung, die dieser Tatenlosigkeit Vorschub leistet, ist nicht nur für einen ermüdeten Menschen kennzeichnend, sondern ebenso für einen satten, um nicht zu sagen, überfütterten.

234


Das Leben unserer frühen Vorfahren bestand aus einer Aufeinanderfolge von Erlebnissen, die abwechselnd leidvoll oder zumindest mühsam, dann aber wieder von Freude und Genuß begleitet waren. Man muß einmal wirklichen Hunger gelitten haben, um richtig einschätzen zu können, welche Freude dem Hungernden der Erwerb einer größeren Menge guter Nahrung macht. Der Mechanismus der Lust-Unlust-Ökonomie hat ursprünglich, beim wildlebenden Tier, die Funktion, die »Kosten« einer bestimmten Verhaltensweise gegen den durch sie erreichten Gewinn abzuwägen. Um einen lockenden Fraß zu erwerben, tut ein Raubtier so manches, was ihm Unlust bereitet und was, ohne nachträgliche Belohnung, abdressierend wirken würde. Das Tier rennt durch Dornbüsche, springt ins kalte Wasser und setzt sich Gefahren aus, die es sonst nachweislich fürchtet. Das Maß der unlustbetonten Reizsituation muß aber in einem angemessenen Verhältnis zum Gewinn stehen. Ein Wolf darf nicht ohne Rücksicht auf Witterungseinflüsse in kalter Sturmnacht des polaren Winters auf die Jagd gehen: Er kann es sich nicht leisten, eine Mahlzeit mit einer erfrorenen Zehe zu bezahlen. Nur unter extremen Umständen, etwa wenn ein Tier dem Verhungern nahe ist, kann es ökonomisch ratsam werden, ein solches Risiko einzugehen, da das Überleben vom Gewinnen einer Mahlzeit abhängt. In meinem Buch »Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit« habe ich die Leistungen dieses lebenswichtigen Mechanismus, der das Verhalten an die jeweilige »Marktlage« anpaßt, genauer dargestellt.

235


Diesem Apparat des Lust-Unlust-Prinzips haften zwei fundamentale Eigenschaften an, die wir von nahezu allen komplizierten neurosensori-schen Mechanismen kennen: erstens der weitverbreitete Vorgang der Gewöhnung und zweitens die Trägheit. Die Gewöhnung bringt es mit sich, daß die häufig eintretenden Reizsituationen an Wirkung verlieren; die Reaktionsträgheit dagegen hat zur Folge, daß es zu Schwingungen im System kommt. Nach plötzlichem Aufhören von Reizen, die starke Unlust erregen, kehrt das System nicht in einer gedämpften Kurve in den Zustand der Indifferenz zurück, sondern schießt über diesen »Sollwert« hinaus und registriert das Aufhören der Unlust als erhebliche Lust. Jeder von uns hat erlebt, wie herrlich es ist, wenn Zahnweh aufhört oder auch nur nachläßt.

Unter ursprünglichen Bedingungen führte der Mensch ein hartes Leben. Als Jäger und Fleischfresser war er sicher nahezu dauernd hungrig, und es war kein Laster, sondern eine Tugend, sich bis zum Platzen vollzufressen, wenn man einmal ein Großtier erlegt hatte. Mit anderen Verhaltensnormen, die heute als Untugenden, ja, als Todsünden bewertet werden, steht es ähnlich. Das Leben des Menschen war so gefährlich, daß Feigheit eine Tugend war, das Sparen mit Muskelarbeit, also Faulheit, ebenso. Schon in grauer Vorzeit, als es den Menschen nur ein wenig besser ging, haben Weise richtig erkannt, daß

236


es keineswegs gut ist, wenn der Mensch allzu erfolgreich in seinem Streben ist, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden. Die Entwicklung der modernen Technologie, und vor allem der Pharmakologie, hilft den Menschen in nie dagewesener Weise, sozusagen auf Schleichwegen der Unlust zu entgehen. Im Abschnitt über Dressurmethoden des technokratischen Systems habe ich auseinandergesetzt, wie leicht wir durch Verweichlichung zum Sklaven des modernen »Komforts« werden.

Offenbar wird der junge Mensch in der Pubertät besonders von Langeweile geplagt. Helmut Qualtinger hat in seinem großartigen Couplet »Die Halbstarken-Rhapsodie« treffende Worte für die Verzweiflung der gelangweilten Jugend gefunden: »Was kann denn i dafür, daß i a so vül Zeit hab, was kann denn i dafür, daß i mit nix a Freid hab« usw. Der Refrain des tragischen Gedichtes ist: »denn dann is uns faaaad«. Es ist eine dem Psychiater wohlbekannte Tatsache, daß Langeweile allein als Selbstmordmotiv ausreicht. In manchen Fällen führt eine schwere Dauerbeschädigung durch einen Suizidversuch paradoxerweise zu einer Revitalisierung des Gefühlslebens. Ein erfahrener Blindenlehrer aus Wien erzählte mir, daß er mehrere junge Menschen kenne, die sich in selbstmörderischer Absicht in die Schläfe geschossen hatten und durch die Verletzung der Sehnervenkreuzung blind geworden waren. Keiner von ihnen unternahm einen zweiten Selbstmordversuch; sie lebten nicht nur wei-

237/238


ter, sondern wurden erstaunlicherweise zu ausgeglichenen, ja, glücklichen Menschen. Ähnliche Entwicklungen kennt man von Menschen, die einen Selbstmordversuch als Querschnittsgelähmte überlebten. Schwer überwindbare Hindernisse sind offenbar nötig, um diesen aus Langeweile an der Welt verzweifelnden jungen Menschen das Leben wieder sinnvoll erscheinen zu lassen. Der Pädagoge Kurt Hahn hat eine Methode erfunden, den an der Welt verzweifelnden Jugendlichen drastisch vorzuführen, wie wertvoll das Leben sei: Er gliederte sie in Rettungsmannschaften ein, in denen sie unter persönlichem Einsatz und beträchtlicher eigener Gefährdung Gelegenheit bekamen, andere Menschen zu retten. Der Psychiater Helmut Schulze hat unabhängig davon eine Methode ausgearbeitet, die dem Patienten den Wert des Lebens dadurch vor Augen führte, daß er ihn in sogenannte »Grenzsituationen« bringt, in denen er Grund hat, um sein Leben zu bangen. Der augenblickliche Erfolg dieser Methoden ist beachtlich. Wie weit sie auf die Dauer das Gefühl der Sinnentleerung der Welt bekämpfen können, sei dahingestellt.

Vielleicht entsteht dieses verzweifelte Gefühl der Sinnlosigkeit bei vielen jungen Menschen daraus, daß sie nie zu sehen bekommen, wie schön die organische Schöpfung ist. Das Empfinden für Schönheit und Harmonien bedarf der Schulung. Möglicherweise gehört es zu jenen Verhaltensnormen, die, wie im 10. Kapitel ausgeführt, bei ihrem Heranreifen sofort geübt werden müssen, wenn sie nicht einer unwiderruflichen Inaktivitätsatrophie anheimfallen sollen.

Ein junger Mensch, der im Ballungszentrum einer modernen Großstadt aufwächst, hat wenig Gelegenheit, die Schönheit und Harmonie der organischen Schöpfung kennenzulernen. Außerdem langweilt er sich, sieht an seinen Eltern sehr genau, wie man es nicht machen soll, und ist noch dazu vielleicht durch Hospitalisierung oder sonstige Beziehungsstörungen in seiner Fähigkeit zur Menschenliebe beeinträchtigt. Was Wunder, wenn er zum Zyniker wird und den Sinn des Lebens leugnet? Es ist nicht nur verzeihlich, sondern eine logische Konsequenz, wenn der von der Sinnlosigkeit der heutigen Welt überzeugte junge Mensch aus seiner Gesellschaft »aussteigt«. Der Aussteiger weiß etwas ganz richtig, was die Verantwortlichen und Mächtigen in dieser Welt nicht wissen oder wenigstens nicht glauben wollen: Er sieht, daß das wirtschaftliche und politische Verhalten der Machthabenden ins Verderben führt. Man kann ihm die Abkehr von der Gesellschaft nicht übelnehmen, wenn er glaubt, die heutige Gesellschaftsordnung sei die einzig mögliche - wenn dem so wäre, wäre die Welt tatsächlich sinnlos. Ich glaube aber, daß die Aussteiger diesen Irrtum einsehen werden, und ich bin überzeugt, daß sich das dem Menschen innewohnende Bedürfnis nach eigener Verantwortlichkeit und Freiheit plötzlich Bahn brechen kann und sie veranlaßt, ernsthaft nach neuen Gesellschaftsformen zu suchen.

Das Gegenteil eines Irrtums ist oft nicht die Wahrheit, sondern ein entgegengesetzter Irrtum. Wenn die Vertreter des »establishment« im onto-logischen Reduktionismus und in technokratischen Denkgewohnheiten befangen sind, so bedeutet es den entgegengesetzten Irrtum, wenn heute viele Jugendliche den Intellekt verachten und sich von der Wirklichkeit ab- und mystischem Sektiererglauben zuwenden. Das Maß der Massenindoktrinierung hat die Grenzen der Toleranz vernünftigen Denkens erreicht. Es ist durchaus denkbar, daß scheinbar geringfügige Einsichten den Umschwung der öffentlichen Meinung in Gang setzen. Optimistischerweise glaube ich, daß dieser Vorgang schon begonnen hat.

239-240

#

 

 

www.detopia.de      ^^^^