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Dritter Teil       Der Geist als Widersacher der Seele      7.   8.    9.  

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Die zunehmende Entwicklungsgeschwindigkeit unserer Kultur und Zivilisation hat zur Folge, daß die Diskrepanz zwischen der Gesellschaftsordnung und den natürlichen Neigungen des Menschen immer groteskere Formen annimmt. Die »natürlichen Neigungen« im Sinne Immanuel Kants entsprechen zum großen Teil Verhaltensnormen, die wir für genetisch programmiert halten; wir glauben mit William McDougall, daß gerade sie mit qualitativ unverwechselbaren Emotionen, mit »Seelenregungen«, einhergehen. Die Produkte des kollektiven begrifflichen Denkens, des menschlichen Geistes, erweisen sich als Feinde und Gegner der menschlichen Seele, und ich stehe nicht an,* den Buchtitel Ludwig Klages', der dies als erster erkannt hat, als Titel für diesen Teil meines Buches zu leihen. Nicht nur genetisch programmierte, sondern auch durch kulturelle Tradition festgelegte Normen menschlichen Verhaltens erweisen sich in vielen Fällen als zu »konservativ«, um sich den rasend schnellen Veränderungen des modernen Milieus anpassen zu können. Traditionen, wie die des Patriotismus, gestern noch nicht für ganze Kulturen bedrohlich, können heute schon vernichtende Wirkungen zeitigen.

  • detopia-2024: Aber er macht's doch?


7.   Das Unbehagen in der Kultur

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Die Diskrepanz der Geschwindigkeiten

Die Seele ist um sehr vieles älter als der menschliche Geist. Wann die Seele, das subjektive Erleben, entstanden ist, wissen wir nicht. Jeder Mensch, der höhere Tiere kennt, weiß, daß ihr Erleben, ihre »Emotionen« den unseren brüderlich verwandt sind. Ein Hund hat eine Seele, die der meinen im allgemeinen gleicht, sie an bedingungsloser Liebesfähigkeit wahrscheinlich sogar übertrifft; einen Geist in dem hier definierten Sinne aber hat kein Tier, haben weder die Hunde noch die dem Menschen verwandtschaftlich am nächsten stehenden Anthropoiden.

Der menschliche Geist, der durch begriffliches Denken, syntaktische Sprache und der damit entstehenden Vererbbarkeit des traditionellen Wissens geschaffen wurde, entwickelt sich um ein Vielfaches schneller als die Seele. Infolgedessen verändert der Mensch die eigene Umwelt sehr häufig zu ihren und seinen Ungunsten. Im Augenblick ist er im Begriffe, die Lebensgemeinschaft der Erde, in der und von der er lebt, zu vernichten und damit Selbstmord zu begehen.

Die Geschwindigkeit, mit der der menschliche Geist sich verändert und mit der der Mensch durch seine Technologie die eigene Umwelt zu etwas völlig anderem macht, als sie eben noch war, ist so groß, daß der Gang der stammesgeschichtlichen Entwicklung im Vergleich zu ihr praktisch stillsteht. Die Menschenseele ist seit dem Entstehen menschlicher Kultur im wesentlichen die gleiche geblieben; es ist nicht erstaunlich, daß die Kultur sehr häufig unerfüllbare Ansprüche an sie stellt.

Zwar ist der Mensch, wie Arnold Gehlen gesagt hat, »von Natur aus ein Kulturwesen«, d. h. schon die phylogenetisch entstandenen Programme seines Verhaltens sind auf das Vorhandensein einer Kultur abgestellt. Der Mensch besitzt, wie Noam Chomsky nachgewiesen hat, ein angeborenes Programm des logischen Denkens und der Wortsprache: Das Kind lernt, wie Otto Koehler gesagt hat, nicht sprechen, es lernt nur Vokabeln; dieses Programm hat zur Voraussetzung, daß eine schon existente Kultur ihm diese Vokabeln liefert.

Trotz dieser vorhandenen phylogenetischen Anpassung an das Vorhandensein einer menschlichen Kultur kann die weitere Anpassung des Menschen mit der wachsenden Geschwindigkeit der Veränderungen der Zivilisation und der sozialen Umwelt nicht Schritt halten; diese Diskrepanz wird von Jahr zu Jahr größer.

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Zwar hat die Kultur selbst Normen des menschlichen Verhaltens geschaffen, die in gewissem Sinne als Ersatz für angeborene Verhaltensprogramme eintreten können und einer allzu überstürzten Entwicklung als stabilisierende, konservative Faktoren entgegenstehen. Es gibt durch Traditionen festgelegte Vorschriften des Verhaltens, die den Menschen »zur zweiten Natur« geworden sind.

Praktisch unterliegt alles menschliche Verhalten, das in Gegenwart von Sozietätsmitgliedem »erlaubt« ist, einer ganz erheblichen Ritualisa-tion, nämlich dem sogenannten guten Benehmen. Hans Frey er hat gezeigt, daß die »tenue«, die der Anständigkeit des Verhaltens zugrunde liegt, durchaus keine rein äußerliche, oberflächliche und unwichtige Vorschrift dafür ist, was man tun und was man nicht tun kann, sondern auch bestimmend für echte moralische Entscheidungen ist. Nicht nur unritualisierte Instinktbewegungen, wie Sich-Kratzen, Sich-Räkeln und sonstiges Komfortverhalten, sind vom Anstand, von der »guten Sitte« verboten, sondern auch viel komplexere Verhaltensweisen. Diese Formen von kultureller Ritualisation sind etwas grundsätzlich anderes als die von der Kantischen verantwortlichen Selbstbefragung gesetzten Gebote und Verbote. Auch die Sanktionen, mit denen unsere Empfindung zwei Arten von Verstößen, einerseits gegen die moralanalogen Forderungen des Anstandes und andererseits gegen Verletzung Kantischer Moral, bestraft, sind qualitativ verschieden: Die Strafe für unanständiges Verhalten ist Scham, die Strafe für unmoralisches aber Reue.

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Die kulturelle und zivilisatorische Zwangsjacke, in der die Menschen heute stecken, wird immer enger. Weder unser kreatürliches Verhalten noch die uns traditionell zur zweiten Natur gewordenen guten Manieren passen mehr auf die künstlich geschaffene, fast ausschließlich von der Technokratie bestimmte Umwelt. Ich glaube, daß manche jugendliche Rebellen diese verschiedenen Zwänge miteinander verwechseln, wenn sie als Protest gegen die technokratisch-kapitalistische Erfolgsgesellschaft gegen den Anstand verstoßen. Es scheint manchen Jugendlichen nicht verständlich zu sein, daß die Rebellion gegen die technokratische Erfolgsgesellschaft aussichtsreicher ist, wenn sie nicht gegen Anstand, Würde und ästhetisch-ethische Gebräuche verstößt. Immerhin bedeutet alle Rebellion der heutigen Jugend das wenn auch teilweise un-reflektierte Ahnen einer Wahrheit: Der menschliche Geist ist auf dem Wege der Technokratie zum Widersacher des Lebens überhaupt und damit auch der menschlichen Seele geworden.

Neigung und Moral

In der Bibel steht, der Mensch sei böse von Jugend auf. Wie schon gesagt, empfinden wir verschiedene Arten des Mißbehagens, wenn wir gegen Gesetze der Moral und wenn wir gegen Gesetze des durch kulturelle Ritualisation festgelegten Verhaltens verstoßen.

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 Wenn wir uns im Sinne der »feinen Manieren« schlecht benommen haben, empfinden wir höchstens Scham, die sehr intensiv sein kann. In unserer Zivilisation erweckt der Verstoß gegen rituelle Sitte beim unbeteiligten Beobachter eher Gelächter und Mitleid, keine Empörung.

Verstöße gegen die Moral, wie die Zehn Gebote sie lehrt, rufen andere Empfindungen hervor. Der Täter empfindet nicht Scham, sondern Reue, der unbeteiligte Mensch aber Empörung. Ein normaler Mensch befolgt diese Gebote aus natürlicher Neigung, wenn sein Verhalten persönliche Freunde betrifft. Einen Freund belügt und bestiehlt man nicht, man begehrt auch nicht seine Frau, und am allerwenigsten bringt man ihn um. Die Zehn Gebote verlieren ihre fundamentale Wirksamkeit erst durch die zunehmende Anonymität der menschlichen Gesellschaft.

Merkwürdigerweise spricht Immanuel Kant der natürlichen Neigung jeden Wert ab. Für Handlungen aus natürlicher Neigung kann man keinen moralischen Verdienst beanspruchen, selbst wenn die Handlung durchaus altruistisch und sozial lobenswert ist. Die merkwürdige Blutlosigkeit dieser Meinung eines unserer größten Denker hat den Spott eines großen Dichters herausgefordert. Friedrich Schiller parodiert sie in der Xenie:

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»Gerne dien' ich dem Freund, doch leider tu ich's aus Neigung, darum wurmt es mich oft, daß ich nicht tugendhaft bin.

... drum lerne den Freund zu verachten, um dann mit Abscheu zu tun, was die Pflicht dir gebeut.«

Moralisch verdienstvoll sind für Kant nur Verhaltensweisen, die von der Voraussicht ihrer Folgen geformt sind. Die kategorische Frage Kants lautet sinngemäß: Kann ich die Maxime der eben geplanten Handlung zum Naturgesetz erheben, oder würde in diesem Fall Vernunftwidriges herauskommen? In die Sprache biologischer Soziologie übersetzt, heißt diese Frage: Ist die geplante Handlung teleonom, d. h. art- und sozie-tätserhaltend oder nicht?

Die kategorische Frage ist also nicht geeignet, genetisch programmierte angeborene Motivationen von vernunftmäßigen zu unterscheiden. Wenn ich einen lieben Freund aus rein triebmäßiger Motivation vor einer Gefahr bewahre und nachträglich die kategorische Frage stelle, ob ich diese Maxime zum Naturgesetz erheben könne, so lautet die Antwort ganz selbstverständlich »Ja«, weil sie ein Naturgesetz ist.

Die genetisch programmierten Neigungen des Menschen reichen aber nicht aus, um den sozialen Anforderungen der modernen, aus Millionen von Individuen bestehenden Sozietät gerecht zu werden. In einer Gruppe befreundeter Menschen wird so ziemlich jeder die Zehn Gebote befolgen. Er wird auch ohne weiteres erheb-

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liche Gefahren auf sich nehmen, um einen Freund unter Einsatz seines eigenen Lebens aus einer Gefahr zu retten. Ein amerikanischer Soziologe hat errechnet, daß die optimale Zahl für eine durch enge Freundschaft verbundene Gruppe elf betrage. Man kann nicht umhin zu assoziieren, daß elf bei so vielen Spielen die Zahl des Teams ist und daß von den zwölf Jüngern Jesu nur elf treu gewesen sind.

Der Mensch ist nicht böse von Jugend auf, er ist gut genug für die Elf-Mann-Sozietät, aber nicht »gut genug«, um sich für ein anonymes, persönlich nicht bekanntes Mitglied der Massensozietät so einzusetzen, wie für das persönlich bekannte und eng befreundete Individuum. Die im Laufe der Kulturentwicklung entstandenen sozialen Gebote wie Verbote zwingen uns, den angeborenen Programmen unseres Verhaltens ständig Gewalt anzutun; im Verkehr mit anderen Sozietäts-mitgliedern stecken wir dauernd in der Zwangsjacke kultureller Verhaltensnormen.

Je höher die Kultur sich entwickelt, desto größer wird die Spanne zwischen menschlicher Neigung und kulturellen Forderungen. Kein einziger in unserer Kultur lebender Mensch ist frei von inneren Spannungen. Es gibt in den heutigen Industriestaaten bereits eine gefährlich hohe Zahl von Menschen, die dieser Spannung einfach nicht mehr gewachsen sind und entweder asozial oder neurotisch werden. Man kann den psychisch Gestörten danach definieren, daß er entweder selbst leidet oder die Sozietät leiden macht.

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Frei von Leiden ist keiner. Der Gesunde scheidet sich vom Kranken nur in analoger Weise, wie sich ein Mensch mit kompensiertem Herzfehler von einem anderen Kranken unterscheidet, bei dem die Kompensation zusammengebrochen ist. Daraus ergibt sich die Lösung eines Scheinproblems, das durch den oben erwähnten Widerspruch zwischen Immanuel Kant und Friedrich Schiller aufgeworfen wird. Keiner von uns ist »gut genug«, jeder von uns würde mit den Anforderungen der Kultursozietät in Konflikt geraten, wollte er blindlings seinen Instinkten folgen. Die Ausstattung mit sozialen Instinkten, insbesondere mit sozialen Hemmungen, ist aber von Mensch zu Mensch ungemein verschieden. Um beim Beispiel des kompensierten Herzfehlers zu bleiben: Der eine hat mehr zu kompensieren, der andere weniger. Wenn ich menschliche Individuen als gut oder weniger gut beurteile, so schätze ich ganz selbstverständlich denjenigen am höchsten, der mir aus Freundschaft und reiner Neigung Gutes tut, und nicht denjenigen, der sich unter äußerster Selbstbeherrschung objektiv gleich verhält. Beurteile ich dagegen die Handlungen eines Individuums, zum Beispiel meine eigenen, so erscheinen mir diejenigen lobenswert, die ich aus Kantischer Moral und gegen meine gefühlsmäßige Neigung durchsetze.

In dem Gesagten liegt der Wahrheitsgehalt aller Predigten der Askese, aber auch die Gefahr des Behaviorismus und des Reiz-Reaktions-Modells, die sich Tiere wie Menschen als rein reak-

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tive Apparate vorstellen, welche nur auf Reize wie auf einen Knopfdruck antworten und keine Spontaneität besitzen. In Wirklichkeit beruhen die allermeisten instinktiven Programme des Menschen und der Tiere auf spontaner Reizerzeugung. Sie drängen mit Macht hervor und werden gerade beim Fehlen der adäquaten Reizsituation gefährlich. Es ist das große Verdienst Sigmund Freuds, eben dies gesehen zu haben. In einer Zeit, in der die Sherringtonsche Reflexlehre als der Weisheit letzter Schluß betrachtet wurde und in der Behaviorismus und Reiz-Reaktions-Psychologie die größte Anerkennung fanden, erkannte Freud die grundlegende Tatsache der Spontaneität des Trieblebens. In einem grandiosen Simplismus faßte er unter dem Begriff des Eros sämtliche Lebens- und arterhaltenden Instinkte zusammen.

Die Kulturentwicklung scheint sich merkwürdig wenig um das Wohlbefinden des Individuums zu kümmern. Menschenrechte, d. h. Bedürfnisse, die aus der angeborenen Veranlagung des Einzelmenschen entspringen und befriedigt werden müssen, scheinen auf die Entwicklungsrichtungen von Kulturen wenig Einfluß zu haben. Die Macht, die von Tradition und traditioneller Ritenbildung ausgeübt wird, scheint keine Grenzen zu kennen. Man ist entsetzt, wenn man hört, was sich die zweifellos hohe Kultur der Inkas an Grausamkeiten und Unterdrückung leisten konnte, ohne einen Aufstand der Massen heraufzubeschwören.

Wenn wir in Betracht ziehen, welche Verzichte auf grundlegende Menschenrechte die Menschen der heutigen Industriegesellschaften freiwillig auf sich nehmen, müssen wir uns fragen, ob wir der Inkakultur wesentliches voraushaben: Der Streß, dem die Angehörigen aller Schichten unserer Gesellschaft ausgesetzt sind, nimmt ständig zu. Der Begriff Streß (heute ist das Wort eines des alltäglichen Sprachgebrauchs) bezeichnet jegliche Belastung, der der Organismus ausgesetzt ist. Eine Belastung besteht nicht nur, wenn ein Mensch durch alle die erwähnten Zwänge überfordert ist, sondern auch dann, wenn ihm nicht genügend Herausforderung und Vielfalt geboten wird.

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8.  Fehlleistungen ursprünglich sinnvoller Verhaltensweisen

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Die Definition von normal und pathologisch

Letzten Endes sind wohl alle kulturzerstörenden Vorgänge, die im folgenden besprochen werden müssen, durch die Verschiedenheit der Geschwindigkeiten kultureller und genetischer Evolution verursacht. Die Begriffspaare des Gesunden und des Kranken, des »Normalen« und des »Pathologischen« lassen sich nur in teleonomi-scher Betrachtung definieren, d. h. nur in bezug auf die vergrößerten oder verkleinerten Überlebenschancen, die einem Organismus aus der zu beurteilenden Eigenschaft in einer bestimmten Umwelt erwachsen. Ein klassisches Beispiel für diese relative Beurteilung ist die der sogenannten Sichelzellen-Anämie, einer erblichen Mißbildung der roten Blutkörperchen die den Sauerstoffwechsel erheblich stört, gleichzeitig aber das rote Blutkörperchen immun gegen die Angriffe der Plasmodien macht, die Malaria erregen. In Gambia waren bis zum vorigen Jahrhundert fast nur diejenigen »gesund«, die an Sichelzellen-Anämie »litten«, denn Menschen mit normalen Blutkörperchen erlagen meist schon als Kinder der endemischen schweren Form von Malaria.

Was normal und was pathologisch ist, das läßt sich also nicht in allen Fällen durch saubere Definitionen trennen. Dennoch will ich im folgenden die zwei Arten von Fehlleistungen voneinander getrennt besprechen: einerseits diejenigen, welche durch Verhaltensprogramme bewirkt werden, die ursprünglich für die menschliche Gesellschaft teleonom sind und nur unter den gegenwärtigen Umweltbedingungen der Menschheit verderblich werden, und andererseits solche, die eindeutig den Charakter des Krankhaften tragen und, genau wie Neurosen dies definitionsgemäß tun, »überwertig« werden, d. h. die Person des Erkrankten bis zur Unterdrückung aller anderen Motivationen beherrschen. Wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Spezies kraft ihrer Fähigkeit zur Vererbung erworbener Eigenschaften zunächst biologisch ungemein erfolgreich war. Wie keine andere Vertebratenform ist sie zum »Leitfossil« ihrer Gegenwart geworden. Erst dieser ungeheure Erfolg hat die Gefahren heraufbeschworen, die uns heute bedrohen.

Nicht wenige von den im vorliegenden Kapitel zu besprechenden Verhaltensnormen waren bis vor kurzer Zeit eindeutig nützlich für die Menschheit und gelten daher auch heute noch nicht ganz zu Unrecht als Tugenden. Sie neigen aber unter den gegenwärtigen Umständen zu einer Überfunktion, die gefährliche Folgen nach

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sich zieht. (Ich erinnere an die schon erwähnte Forschungsstrategie Ronald Hargreaves, der es sich zur Gewohnheit machte, jede Verhaltensstörung des Menschen mit der Fragestellung zu untersuchen, ob sie vielleicht nur auf der Überoder Unterfunktion einer an sich gesunden und teleonomischen Verhaltensweise beruht.]

Ordnungsliebe und Überorganisation    ^^^^  

Ordnungsliebe ist ursprünglich ohne Zweifel eine Programmierung des Verhaltens und zählt zu den menschlichen Tugenden. Sie ist eng verflochten mit der Wertempfindung, die wir für Harmonien, für die gesunde ausgewogene Wechselwirkung zwischen den Gliedern eines organischen Systems empfinden. Aldous Huxley sagt, es sei ein primärer und fundamentaler Antrieb des menschlichen Geistes, eine Art von intellektuellem Instinkt, in Verwirrung Ordnung stiften zu wollen, Harmonie aus Dissonanzen zu schaffen, Einheit aus Vielheit. (»The wish to impose Order upon confusion, to bring harmony out of dis-sonance and unity out of multiplicity, is a kind of intellectual instinct, a primary and fundamental urge of the mind.«) Im Bereich der Naturforschung ist der Wille zur Ordnung unentbehrlich, bringt aber auch gewisse Gefahren mit sich. Das Bestreben, ein einheitliches Weltbild zu entwerfen, hat viele Wissenschaftler zu gewaltsamen Konstruktionen »erklärungsmonopolistischer«

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Systeme verleitet. Ebenso wichtig ist begreiflicherweise die negative Wertempfindung, die das Zerbrechen organischer Ganzheiten, die Unordnung und das Chaos in uns hervorrufen.

Zu einer Gefahr wurde der Wille zur Ordnung in der Geschichte der Menschheit erst sehr spät. Im Zustande der ältesten Jäger- und Sammlergruppe ist die Organisation der menschlichen Gesellschaft nicht viel komplizierter als etwa die eines Wolfsrudels, einer Schimpansenhorde oder einer Volksschulklasse. Bei diesen Gruppen besteht zwar eine klare Rangordnung zwischen den Individuen - sie kann sogar gelegentlich zur Tyrannei des Stärksten oder, schlimmer, zur Bildung einer »Clique« von Ranghohen und damit zu einer grausamen Unterdrückung der Schwächeren führen-, doch ist diese Tyrannei weder genetisch programmiert noch traditionell institutionalisiert. Man weiß nicht sicher, in welcher Form eine Institution von Gesellschaftsklassen zuerst entstand, doch liegt es nahe, diese Schichtung mit der Entstehung des individuellen Besitzes in Zusammenhang zu bringen. Wenn nicht schon früher bei nomadischen Völkern, so ist in unserer Kultur eine institutionalisierte Rangordnung mit dem ortsbeständigen Ackerbau entstanden. Die Bauernwirtschaft war sicher anfänglich ein Familienbetrieb: Vater, Mutter, Söhne und Töchter verschiedenen Alters, jeder von ihnen mit gewissen traditionell festgelegten Befugnissen und Pflichten ausgestattet. Auf das Land, in das man viel Arbeit investiert hatte, er-

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hob man selbstverständlich Besitzansprüche, und daraus folgte ein traditionell definiertes Erbrecht. Der älteste Sohn erbte, die besitzlosen jüngeren nahmen entweder bei ihm oder bei anderen Bauern Arbeit, und so entstand die Institution des Knechtes, des Arbeitnehmers. Mit der Bodenständigkeit des Ackerbaus entstand, wie H. Freyer überzeugend dargetan hat, die Feindschaft gegen die Nomaden, denn begreiflicherweise sah es der Bauer nicht gern, wenn ein Nomade seine Herden in das mühsam bestellte Ak-kerland trieb. Vielleicht ist der biblische Brudermord eine symbolische Darstellung dieser Feindschaft. Ich habe mich als Kind immer darüber gewundert, wie es kam, daß Kain, der Ackerbauer, den Abel totschlug, obwohl dieser als Schäfer das Schlachten größerer Lebewesen doch besser gekonnt hätte als der Pfleger von Feldfrüchten.

Die Entstehung von Kasten oder Klassen der menschlichen Gesellschaft hängt zweifellos mit der Institutionalisierung des Privatbesitzes zusammen, ob dieser nun in Vieh oder in Land besteht. Wie dem auch gewesen sein mag, es war der Ackerbau, der zwei gefährliche Folgen hatte: Erstens wurden die Ackerbauern in Verteidigung der Felder ganz sicher weit aggressiver als die Jäger- und Sammlerhorden, bei denen territoriale Aggression keine so lebenswichtige Rolle spielte. Ob die territoriale Aggressivität nun durch kulturelle Tradition intensiviert wurde oder ob sich in den großen Zeiträumen, um die es sich hier immerhin handelt, eine genetische Veränderung

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menschlicher Aggressivität vor sich gegangen ist, wissen wir nicht. Eine zweite gefährliche Folge des Ackerbaus war die explosive Zunahme der Bevölkerung, die durch ihn ermöglicht wurde.

Man darf sich aber die ersten Stufen der hierarchischen Organisation einer Menschengruppe nicht allzu hart und grausam vorstellen. Wenn wir Homer trauen dürfen, dessen realistische Darstellungen zwischenmenschlichen Verhaltens mich höchst glaubwürdig dünken, so waren die Beziehungen zwischen dem Herrn und dem Gefolgsmann, selbst die zwischen dem Besitzer und dem Sklaven höchst »familiär«. Man denke an die Freundschaft, die zwischen Odysseus und dem schon von seinem Vater angekauften Sklaven, dem Schweinehirten Eumaios, bestand. Die Könige, deren es auf der kleinen Insel Ithaka mehrere gab, waren offenbar nicht viel mehr als Großbauern; immerhin waren sie befugt, ihre Untergebenen in den Krieg zu führen. Kriegführen führt dazu, daß Gefangene gemacht werden, und diese werden, da sie nicht zur Familie des Siegers gehören, zu Sklaven im eigentlichen Sinne des Wortes.

Mit der Zunahme der Bevölkerung wurden aus den Bauernhöfen Königreiche; die familiären Beziehungen, ja, überhaupt das persöhnliche Ein-ander-Kennen, verlor an Bedeutung, und dieses Kennenlernen ist, wie wir wissen, der wichtigste Gegenspieler der Aggressivität. Eben deshalb ist die Entpersönlichung der zwischenmenschlichen Beziehung, wie sie sich in unserer Gesellschaft

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vollzieht, so gefährlich. Mit dem Bevölkerungswachstum verschob sich auch das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Herrschern und Beherrschten. Diese Verschiebung ist, wie wir sehen werden, eine gesetzmäßige Folge der Größe von Sozietäten und nicht für die feudale Gesellschaftsordnung allein kennzeichnend. Doch wirkt es in dieser besonders empörend, wenn die wenigen Herrschenden hochmütig in Luxus und Überfluß schwelgen, die gewaltige Überzahl der Beherrschten aber im Elend dahinvegetiert. So führte die Tyrannei der Feudalherren u. a. zur Französischen Revolution. Die schönen Worte Li-berte, Egalite, Fraternite schienen zunächst eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte einzuleiten - wenn auch die Erfindung der Guillotine ein wenig daran zweifeln ließ.

Ziel der Demokratie muß es sein, einen Kompromiß zu schaffen zwischen der durch die Riesenzahl von Menschen unbedingt nötig werdenden Ordnung und der Erhaltung jener Handlungsfreiheit des Individuums, die zu den Menschenrechten gehört. Dieses hohe Ziel durch Gesetzgebung zu erreichen, ist viel schwieriger, als sich die meisten ehrlichen Demokraten eingestehen. Selbst wenn die Auswirkung der Demokratie nicht durch die hintergründige Macht der Großindustrie unterlaufen würde, bestünden immer noch nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten, den Willen der Wähler in gerechter Weise auf das Handeln der Gewählten zu übertragen. Große Bevölkerungszahlen bringen es mit sich,

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daß es zu viele Wähler und zu wenige Gewählte gibt. Selbst bei einem moralisch einwandfreien, wahrhaft demokratischen Verfahren vereint sich zuviel Macht in den Händen einiger weniger Menschen. Sehr wenige Menschen - und seien sie noch so gescheit und moralisch einwandfrei -sind imstande, in Machtpositionen ihre volle Menschlichkeit zu bewahren. Der Cäsarenwahn ist eine sehr reale Erkrankung.

In der Industriegesellschaft ist nicht zu verhindern, daß Besitz-Zuwachs auch einen Gewinn an Macht bedeutet. In unserer Welt der Massensozietät ist es unausbleiblich, daß kleinere wirtschaftliche Unternehmen mit ihrem beschränkten Kapital im Wettbewerb mit größeren den kürzeren ziehen. Es ist klar, daß mit dem Fortschreiten der Technologie die Großproduzenten schließlich alles beherrschen. Es ist ein Irrtum zu glauben, die Welt werde von Politikern regiert. Hinter diesen steht als der wirkliche Tyrann die Großindustrie. Wenn der Rüstungswettlauf auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs trotz aller Gipfeltreffen und Abrüstungsgepräche weitergeht, so geschieht das nicht, weil Russen und Amerikaner voreinander Angst haben, sondern weil die Industrie daran verdient.

Mit dem Fortschreiten der Technologie ging eine entsprechende Entwicklung der Organisation der menschlichen Gesellschaft einher. Komplizierte soziale Organisationen mußten geschaffen werden, die der komplizierten Maschinerie entsprachen. Sie waren nötig, damit der Produk-

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tionsapparat glatt und reibungslos laufen konnte. Um sich dieser Organisation einzufügen, müssen die Individuen ent-individualisiert werden. Um genau festgelegte Funktionen erfüllen zu können, müssen sie gleichsam Automaten werden. Millionen von durchaus »normalen« Menschen leben reibungslos in einer Gesellschaft, gegen die sie, wenn sie auf ihren Menschenrechten wirklich bestehen würden, revoltieren müßten. Sie halten die Illusion ihrer Individualität aufrecht, in Wirklichkeit aber haben sie jetzt schon einem großen Teil ihrer Freiheit entsagt. Ihre Zustimmung zur gegenwärtigen Gesellschaftsordnung kann unmerklich zu einem weitgehenden Verlust der Individualität führen.

Je größer die Zahl der Menschen wird, die in Ordnung gehalten werden müssen, um so rigider wird die dazu nötige Überorganisation und um so schädlicher ihre entmenschende Wirkung. Das Wachstum der Industrie zieht immer größere Teile der immer größer werdenden Zahl der Menschen in den immer größer werdenden Städten zusammen, und das ist nicht gesund. Wie man weiß, korrelieren Geisteskrankheiten, Rauschgiftsucht und Verbrechen mit der Ballung von Menschen in großen Städten. Paradoxerweise liegt ein Hoffnungsschimmer in der Tatsache, daß die Menschen genetisch noch nicht genügend entmenscht sind, um sich der gleichmachenden Überorganisation zu fügen, ohne dabei Schaden zu nehmen. Erich Fromm sagt: »Trotz ihres materiellen, intellektuellen und politischen

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Fortschrittes ist unsere zeitgenössische westliche Gesellschaftsordnung weniger und weniger geeignet, geistige Gesundheit zu erhalten, sie untergräbt die innere Sicherheit, Zufriedenheit, Vernunft und die Liebesfähigkeit des Individuums. Sie macht aus ihm einen Automaten, der für sein menschliches Versagen mit zunehmender Geisteskrankheit büßen muß, mit einer Verzweiflung, die sich hinter einem krampfhaften Antrieb zur Arbeit und zum sogenannten Vergnügen verbirgt« (Übersetzung). Fromm sieht in den neurotischen Symptomen, die bei Stadtmenschen auftreten, einen Grund zur Hoffnung, zeigen sie doch, daß der Mensch gegen seine Entmenschung ankämpft. Viele Menschen scheinen nur deshalb »normal« zu sein, weil die Stimme des Menschlichen in ihnen verstummt ist.

Um die Überorganisation der gegenwärtig lebenden Menschenmassen zu lockern, bedarf es einer grundlegenden Umstrukturierung der menschlichen Gesellschaft - mit anderen Worten: einer Abwertung vieler das heutige Weltgeschehen bestimmender Wertvorstellungen. Dies bringt selbstverständlich große Gefahren mit sich. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir Unordnung und Krieg selbst erlebt haben und jetzt noch in vielen Teilen der Welt sehen, scheint die Angst vor dem Chaos bedingungslose Unterwerfung unter die bestehende Organisation zu diktieren. Die Ordnungsliebe kann Menschen zu Tyrannen machen, und so mancher Despot hat nur deshalb die Macht ergreifen können, weil bei einer Mehrzahl der Menschen die Hoffnung bestand, daß er »ungeordnete Verhältnisse« ordnen würde.

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Die Freude am Wachstum

Der Mensch hat Freude am Wachstum. Der Bauer freut sich, wenn sein Getreide gut wächst, wenn er ein neues Feld erwerben oder sein Haus vergrößern kann, wenn seine Herde einen erfreulichen Zuwachs aufweist. Ich erinnere mich noch deutlich, daß wir uns als Kinder über das Größerwerden unseres Heimatdorfes gefreut haben, daß wir jedes neu gebaute Haus besucht und wie wir einen solchen Neubau als Gewinn empfunden haben. Das hat sich gründlich geändert. Die Einsicht, daß ein übergroßes Haus, ein übergroßes Unternehmen nicht schöner und besser sind als eines von mäßiger Größe, beginnt sich durchzusetzen. Wenn man dies ausspricht, bekommt man von Geschäftsleuten häufig zu hören, daß Wachstum, und zwar exponentielles Wachstum, eine durchaus natürliche und daher auch für menschliche Unternehmungen legitime Erscheinung sei. In der Tat wächst auch ein Tannenbäumchen »exponentiell«, es wächst ja nach allen Seiten gleichzeitig, also räumlich, und damit in grober Annäherung kubisch. Ich spreche in meinem Vergleich von biologischem und wirtschaftlichem Wachstum nur von pflanzlichen Individuen und sehe von deren Fortpflanzung durch Samen völlig ab; tatsächlich gibt es in der lebenden Natur kein Beispiel für rein lineares Wachstum.

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Das Wachstum einer Pflanze und dasjenige eines industriellen oder kommerziellen Unternehmens haben so manches gemeinsam. Beide wachsen, wie schon gesagt, quasi-exponentiell, und beide finden es sehr schwer, das Wachstum auch nur für kurze Zeit einzustellen. Daß Pflanzen imstande sind, längere Ruhepausen einzulegen, wie etwa unsere Laubbäume im Winter und viele Wüstenpflanzen zur Trockenzeit, ist das Ergebnis einer besonderen Anpassung. Der Stoffwechsel kann auf ein Minimum herabgesetzt werden, der Organismus kann längere Zeit ohne Energiezufuhr »auf Sparflamme« existieren. Dem Unternehmen geht es ähnlich, nur schlechter, denn das investierte Kapital verlangt mitleidlos nach Rendite.

Wichtiger noch als die Ähnlichkeiten sind die Unterschiede zwischen den hier verglichenen lebenden Systemen. Wie schon das Sprichwort sagt, ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Stammesgeschichtlich festgelegte Grenzen natürlichen Alterns sind nicht vonnöten; rein physikalische Umstände, wie die wachsende Schwierigkeit des Flüssigkeitstransports, der Winddruck u. a. m., begrenzen das Größenwachstum. Ein menschliches Unternehmen dagegen ist potentiell unsterblich; seinem Wachstum ist nicht nur keine Grenze gesetzt, es ist sogar um so weniger störungsanfällig,

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je größer es geworden ist. Weltumspannende Konzerne gehen selten in Konkurs. Karl Marx hat völlig richtig vorausgesagt, daß infolge der größeren Lebenszähigkeit der großen Unternehmen ihr Weiterwachsen allmählich alle kleineren an die Wand drücken und in den Bankrott treiben wird. Vor allem der kleinste Unternehmer, der freie Handwerker, schien zum Aussterben verdammt zu sein. Daß diese Entwicklung in letzter Zeit ins Gegenteil umzuschlagen scheint, gibt Anlaß zum Optimismus.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen dem Wachstum einer Pflanze und dem eines Unternehmens liegt darin, daß die Pflanze im Laufe ihres individuellen Lebens ihre Methoden des »Verdienstes« nicht zu verändern vermag. Wenn die zu ihrem Wachstum nötigen Stoffe allmählich weniger werden, kann sie nur langsamer wachsen, und wenn sie ihre Nahrungsquellen völlig erschöpft hat, muß sie sterben. Das industrielle Unternehmen aber verbessert seine Methoden ständig. Mit dem Seltenerwerden der Wale wurde die Technik das Walfangs immer raffinierter. Daß dies in sehr absehbarer Zeit zum völligen Versiegen der Einnahmequelle führen muß, scheint den Unternehmen gleichgültig zu sein. Die großen Konzerne werden ganz sicher nicht daran zugrunde gehen, daß das Öl allmählich ausgeht; ihre Fähigkeit der Selbstregulierung ist zu groß. Schon heute beherrschen die Riesenunternehmen, die »Muttis«, einen sehr großen Teil der wirtschaftlichen Welt.

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Die Lobby von Großkapitalisten zwingt die Menschen, sich der Ty-rannis von »Experten« zu beugen, die durch Spezialisierung auf bestimmte Arbeitsgebiete beschränkt sind und sich ihrerseits gehorsam den Befehlen der Geldexperten fügen.

Aldous Huxley hat in seinen Büchern »Brave New World« und »Brave New World Revisited« das düstere Bild einer Zukunft entworfen, in der die Spezies Homo sapiens zwar überlebt und zu einem gegen alle Gefahren gesicherten, stabilen System geworden ist, in dem aber Menschsein und Menschlichkeit verschwunden sind.

Noch besteht Hoffnung, das Schicksal der Menschheit in eine andere Richtung zu lenken. Wenn das geschehen soll, müssen menschliche Moral und menschliche Wertempfindungen den Sieg über schier unwiderstehliche, phylogenetisch programmierte Verhaltenstendenzen des Menschen davontragen. Die Freude am Wachstum des Besitzes ist nicht die einzige Motivation, die uns Menschen ins Verderben treibt. Andere mächtige, instinktive Programme - die Machtgier, das Status-Streben - treiben alle in die gleiche Richtung. Die Erkenntnis, daß ein Unternehmen von mäßiger Größe wünschenswert ist, daß Dezentralisierung der Produktionsmittel unbedingt nötig ist, daß das ständig sich verschnel-lernde Wirtschaftswachstum zum Stillstand gebracht werden muß, hat es verzweifelt schwer, sich gegen das jetzt weltbeherrschende technokratische System durchzusetzen.

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In einem speziellen Fall hat sich der Zwang zum Wachstum größerer Unternehmen und zur Ausrottung kleinerer besonders übel ausgewirkt; er betrifft die Medien, besonders die Zeitungen. Jefferson, der große Optimist, begrüßte das Aufblühen der Zeitungen und meinte, wenn alle Menschen lesen könnten und wenn es den Zeitungen erlaubt sei, alles zu schreiben, so würde das allen Bürgern gemeinsame Wissen eine Übereinstimmung der Meinungen unaufhaltsam erzwingen. Jefferson hat noch erlebt, daß die Freiheit der Presse zur Verbreitung von Lügen ausgenützt werden kann. Da Zeitungsunternehmen, ganz wie Industriekonzerne, zum Wachsen und zum Zusammenschluß neigen, geht in der westlichen Zeitungswelt ein dauernder Abbau unabhängiger Meinungen vor sich, bis schließlich ganz wenige Medien gehorsam die Meinungen der größten Industriekonzerne verbreiten. Auch hier hat das quantitative Wachstum der schöpferischen Evolution ein Ende gesetzt.

Die Funktionslust    ^^^^  

Eine weitere programmierte Verhaltensnorm, die in ihrer ursprünglichen Form segensreich für die Menschheit ist, aber unter den Bedingungen einer überorganisierten Massensozietät zum Fluch werden kann, ist die von Karl Bühler so benannte Funktionslust.

Lebewesen, die zu sehr komplexen gekonnten Bewegungen befähigt sind, d. h. zum Erlernen

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von Systemen zweckmäßiger Willkürbewegungen, führen solche Bewegungen gerne aus. Die ursprünglich zweckgerichtete Bewegungsfolge wird zum Selbstzweck, wie u. a. H. Harlow nachgewiesen hat: Er bot Rhesusaffen einen Köder in einer Kiste an, den sie erst durch Öffnen eines Schlosses erlangen konnten. Nachdem sie die schwierige Operation des Öffnens von Schlössern erlernt hatten, fanden sie daran so großes Vergnügen, daß man das Schloß seinerseits als Köder für andere zu erlernende Verhaltensweisen benützen konnte.

Jede gut gekonnte Bewegung macht für sich selbst Spaß, auch wenn sie unter sehr ungünstigen Verhältnissen und widerwillig erworben wurde. Sehr viele gekonnte Bewegungen werden ja vom Menschen um ihrer selbst willen, sogar um den Preis großer Geldsummen ausgeführt, man denke an Skilaufen, Eislaufen und sonstigen Sport. Ganz allgemein kann man sagen, daß die Bewegung um so mehr Funktionslust bietet, je schwieriger sie zu erlernen war.

Die Funktionslust ist also ein Segen für den arbeitenden Menschen. Jeder Mensch, der etwas kann, genießt die gekonnte Bewegung. Ein Tischler, der über Holz redet, sagt etwa: »Das hat sich wie Butter gehobelt«, und er gerät geradezu in Begeisterung, nicht anders als ein Skifahrer, der von idealem Pulverschnee erzählt. Ohne diese Freude am Können wäre natürlich die Alltagsarbeit des Menschen um vieles grauer und weniger erträglich.

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Die Funktionslust kann sich auch auf die Bedienung komplizierter Maschinen oder auch auf rein geistige Operationen erstrecken oder sich mit solchen Operationen verbinden. Leute, die gut rechnen können, haben Freude am Rechnen. Diese Freude am Rechnen kann auch die Freude an der Rechenmaschine, am Umgang mit dem Computer, sein. Hier kommen noch andere Faktoren dazu: man kann sagen, daß heute der Computer und die Benützung eines Computers zum wissenschaftlichen Statussymbol geworden sind. Ich habe oft erlebt, wie junge Wissenschaftler, die mit Computern Bekanntschaft machten, auf diese Maschinen ähnlich reagierten wie kleine Buben auf ihre erste elektrische Eisenbahn. Es ist ganz sicher richtig und gesund, wenn sich ein moderner, auf Quantifizierung angewiesener Naturforscher bestmögliche Vertrautheit mit der Rechenmaschine verschafft, die er dann zum guten Zweck benützt. Leider aber kann die Lust an der Computerbedienung sich ebenso selbständig machen, wie es andere Tätigkeiten unter dem Einfluß der Funktionslust tun. Dann ist der Gebrauch des Computers nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern geht mit in die Zwecksetzung ein. Mit anderen Worten: der junge Wissenschaftler wird Aufgaben bevorzugen, zu deren Lösung man den Computer ausgiebig benützen muß.

Die große Gefahr, die die Funktionslust im technokratischen Zeitalter heraufbeschwört, ist, daß sich die lustbetonte Tätigkeit zum Selbstzweck aufschwingt. Was eben von der Computerbedienung gesagt wurde, gilt auch für den gesamten Produktionsapparat.

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Die Freude am Wettbewerb    ^^^^  

Es ist sicherlich eine genetisch programmierte Verhaltensnorm des Menschen, daß einer den anderen in irgendeiner Tätigkeit, die er gut kann, zu übertreffen strebt. Schon bei höheren Tieren gibt es analoge Verhaltensweisen. Meistens handelt es sich um Formen des rituellen Kämp-fens, wie etwa beim sogenannten Maulzerren vieler Buntbarsche [Cichlidae], von denen einige Formen, wie Hemichromis bimaculatus, auch einen Schnelligkeitswettbewerb kennen, den Alfred Seitz »Parallelgalopp« genannt hat. Ebenso wie bei diesen Buntbarschen ist auch das schon von William Beebe beschriebene Wettschwimmen von Zanclus canescens ein ritualisiertes Verhalten, das zweifellos aus Kampfbewegungen entstanden ist. Jeder kennt das Um-die-Wette-Laufen junger Hunde und besonders der Jungen fluchtfähiger Huftiere, bei denen Verfolgungsspiele die häufigste Form von Spielen sind. H. Hediger hat darauf hingewiesen, daß bei herbivoren »Fluchttieren« jeweils der Verfolgte, bei Raubtieren der Verfolger eifriger »bei der Sache« ist. Beim Menschen entsteht aus sehr verschiedenen Spielen ein Wettbewerb, der immer mehr den Charakter eines Kampfes annimmt. Es ist zu be-

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dauern, daß sehr viele Formen des Sports durch diesen Vorgang ihres fröhlichen spielerischen Charakters mehr und mehr entkleidet wurden und damit nicht nur ihre streßlindernde Funktion verloren haben, sondern selbst zu einem bösen Streß geworden sind. Kein Tierfreund würde einem Tier die quälenden Anstrengungen zumuten, die eislaufbegabten Kindern zugemutet werden. Als Arzt möchte man sofort einschreiten, wenn man die völlige Erschöpfung in Mimik und Körperhaltung der jungen Eisläufer wahrnimmt, die eben im Wettkampf ihre Kür hinter sich gebracht haben.

Es gibt kaum ein Gebiet des menschlichen Lebens, auf das das Wettbewerbsstreben keinen Einfluß nähme. Was beim vormenschlichen Lebewesen und auch auf niedrigem kulturellen Niveau der Menschheit ein durchaus nützlicher und anregender Faktor war, wird mit dem Anwachsen der Kulturhöhe und der Populationszahlen zur Gefahr. Wenn zwei geschlossene Gruppen von Menschen in Wettbewerb treten, kommt unter Umständen die kollektive Aggressivität der noch zu besprechenden Begeisterung hinzu und trägt zum Eskalieren der Auseinandersetzung bei. Letzten Endes kann die unaufhaltsame Neigung zum Wettbewerb zum kollektiven Selbstmord der Menschheit führen.

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Arbeitsteilung und Spezialisierung    ^^^^  

Die Entstehung von begrifflichem Denken und Wortsprache bedeutet eine neue Leistung, die in analoger Weise Informationen gewinnt und speichert, wie es bis dahin die uralten Lebensfunktionen von Erbänderung und Selektion getan hatten. Da Wissen Wissen zeugt, verschnellert sich die kulturelle Entwicklung. Die Zunahme des kollektiven Wissens der Menschheit übertrifft also in rapide zunehmendem Maße die Wissenskapazität eines einzelnen Menschengehirns. Dies bedeutet, daß eine Teilung des Wissens zwischen Einzelmenschen nicht ausbleiben kann. Arbeitsteilung ist ein durchaus normaler organischer Vorgang. Schon bei den Urtierchen (Protozoa) sind Kern und Plasma geschieden und erfüllen verschiedene Funktionen. Für alle vielzelligen Tiere gilt dasselbe Prinzip, und je verschiedener die Teile werden, desto abhängiger werden sie naturgemäß voneinander und von der Ganzheit des Organismus. Einen Regenwurm kann man in mehrere Teile schneiden, und jeder Teil ist lebensfähig; schon ein Tausendfüßler überlebt nicht, wenn man ihn in zwei Teile schneidet.

Noch zur Zeit Leonardo da Vincis konnte ein Einzelner so ziemlich alles wissen, was in seiner Umwelt wissenswert war. Heute ist das anders. Der Einzelne vermag nur einen winzigen und von Jahr zu Jahr kleiner werdenden Teil des Menschheitswissens zu meistern. Außerdem zwingt die Überorganisation städtischer Zivilisa-

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tion mit ihrem verderblichen Wettbewerb zu einer Hast, die dem Menschen kaum Zeit zur Bewältigung dessen läßt, was er können und wissen muß, um in seinem Beruf konkurrenzfähig zu sein. Schon in früher Jugend muß er sich für ein bestimmtes Fachgebiet entschließen, und was er da zu lernen hat, füllt seine Zeit so aus, daß er keine Zeit und auch keine Kraft mehr hat, sich mit anderen Wissensgebieten zu beschäftigen; am wenigsten aber hat er Zeit zum Nachdenken, zur Reflexion. Das Reflektieren aber ist eine für das Menschentum konstitutive Tätigkeit, und die Muße, die man dafür braucht, ist ein Menschen-recht.

Der Zwang zur Spezialisierung schränkt den Menschen nicht nur ein, er macht die Welt auch entsetzlich langweilig. Es ist meine feste Überzeugung, daß die »Sinn-Entleerung« der Welt, über die Viktor Frankl so Treffendes gesagt hat, zum erheblichen Teil Folge des Spezialistentums ist. Wenn man nämlich die Übersicht über die Welt als Ganzes verliert, kann man auch nicht mehr wahrnehmen, wie schön und wie interessant sie ist.

Bei den Eskimos ist jeder einzelne Mann imstande, alle Funktionen zu erfüllen, die in seinem Stamme notwendig sind. Er kann fischen, Seehunde Speeren, ein Iglu oder einen Schlitten bauen usw. In unserer westlichen Kultur ist die Arbeitsteilung schon in den ältesten Mythen erwähnt. Apollo hat seine Harfe nicht selbst gemacht, Hermes tat es, der dazu der Schildkröte

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den Panzer und einer Ziege die Hörner stahl. Sowohl in der griechischen wie in der nordischen Sage gibt es einen Götterschmied, der hinkt. Was liegt näher als die Vermutung, daß ein starker Mann, der durch einen Unfall gehbehindert ist und nicht mehr auf Jagd- und Kriegszüge mitgehen kann, sich auf die Herstellung von Waffen und anderen Gegenständen verlegt und dies bald so gut kann, daß sich sein Spezialistentum sowohl für ihn selbst wie für seine Sozietät »lohnt«?

Wahrscheinlich hat es diese Form des »Fabrikanten« schon sehr früh gegeben. Schon zur Zeit des ersten Metallgebrauchs war wahrscheinlich nicht jedes Stammesmitglied in der Lage, ein Schwert oder eine Speerspitze zu gießen und zu schmieden. Heute ist kaum jemand mehr imstande, einen Gegenstand des täglichen Gebrauches selbst herzustellen. Ich könnte weder den Filzstift, den ich in der Hand habe, noch die Brille, die mir auf der Nase sitzt, selbst herstellen; die Metallscharniere, die Linsen und die Plastikteile meiner Brille z. B. sind sicher von drei spezialisierten Menschen (oder Fabrikationsmaschinen) gemacht worden.

Obwohl ich diese Bestandteile meines Brillengestells nicht herzustellen vermag, durchschaue ich doch noch einigermaßen ihre physikalischen Funktionen und bin imstande, sie im Notfall durch primitive Reparaturen mittels Draht und Isolierband wiederherzustellen.

Je komplexer menschliche Gebrauchsgegenstände werden, desto weniger Einsicht hat der

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Konsument in ihre Funktion. Die Elektronik meines Farbfernsehers verstehe ich nicht einmal annäherungsweise. Dieses letzte Beispiel illustriert, daß ein völliger Mangel an Einsicht den Konsumenten nicht hindert, das mit höchster Intelligenz und Erfindungsgabe eines Spezialisten erdachte Instrument zu gebrauchen. Je spezieller diese Intelligenz, desto weniger kann Einsicht in die Arbeitsweise dieses Werkzeugs verlangt werden; dieses muß, um den äußerst treffenden österreichischen Ausdruck zu gebrauchen, völlig »deppensicher« sein.

Arbeitsteilung und Spezialistentum sind an sich nichts Pathologisches. Was aber in der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft anders ist als im stammesgeschichtlichen Werden eines Organismus und bedrohlich, ist die übermäßige Konkurrenz zwischen den Teilen der ganzen menschlichen Gesellschaft. Es gibt keine Konkurrenz zwischen Organen eines Organismus, aber eine Autofabrik befindet sich im Wettbewerb mit anderen, obwohl die Autos beider Firmen dieselbe Funktion als Fortbewegungsorgan oder -prothese des Menschen haben. Was sich hier auf technologischem Gebiete abspielt, hat leider zwingende Parallelen auf dem Gebiete allgemein menschlicher geistiger Leistungen. Nicht anders als der technische Konstrukteur ist auch der Wissenschaftler zu extremem Spezialistentum gezwungen, wenn er überhaupt konkurrenzfähig bleiben will. Er hat einfach keine Zeit mehr, um sich mit anderen Spezialgebieten zu

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beschäftigen, die nicht sein Fach sind. Ja, es wird ihm sogar übelgenommen, wenn er das tut; man wirft ihm unwissenschaftlichen Dilletantismus vor, und man hält ihm das alte Sprichwort entgegen, das schon Hans Sachs widerlegt hat: »Schuster, bleib' bei deinem Leisten.«

Der Umstand, daß kein Spezialist genügende Kenntnis dessen besitzt, was sein Nachbar tut, hat unausweichlich zur Folge, daß jeder das eigene Spezialgebiet für das wichtigste von allen hält, was wiederum zu einer gefährlichen Verschiebung des Wirklichkeitsbewußtseins führt. »Wirklich« ist für jeden Menschen das, womit er in täglicher Wechselwirkung steht, womit er sich in seiner Tagesarbeit auseinandersetzen muß. Die allermeisten Menschen aber haben dabei nur mit Nicht-Lebendigem und meist mit vom Menschen selbst hergestellten Dingen zu tun und bekommen dadurch eine übertriebene Vorstellung davon, was für Menschen machbar ist. Sie haben den nötigen Respekt vor allem verloren, was der Mensch nicht zu machen vermag; sie haben verlernt, mit lebenden Dingen umzugehen, mit der Gemeinschaft der Lebewesen, in der und von der wir Menschen leben.

Der erzwungene Verzicht auf Einsicht    ^^^^  

Die Überschätzung des eigenen engen Wissensgebietes verhindert nicht, daß ein Spezialist einem anderen unbeschränkte Autorität zuer-

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kennt. Er ist dazu gezwungen, weil er unmöglich eine eigene Meinung über fremde Fachgebiete haben kann. Wie schon erwähnt, gebrauchen wir alle dauernd Werkzeuge, deren Funktionsweise wir nicht durchschauen und die wir nicht selber herzustellen vermögen.

Dieser Verzicht auf Einsicht ist unvermeidlich. Der Konsument, der ein ihm unverständliches Gerät gebraucht, muß. sich genau an die Gebrauchsanweisungen halten, die der Produzent seinem Erzeugnis mitgibt. Je komplizierter ein Erzeugnis ist, desto weniger Einsicht in seine Funktionsweise kann sein Produzent beim Benutzer voraussetzen; Automatisierung muß sie ersetzen, die Signale, die der Verbraucher empfängt, werden immer einfacher. Wo Automobile vor kurzer Zeit noch Öldruckmesser in Form von Manometern hatten, haben heute viele Typen nur noch ein rotes Licht, das den Fahrer warnt, wenn etwas mit der Ölzirkulation nicht in Ordnung ist.

Die Spezialisten aller Gebiete müssen es sich zur Gewohnheit machen, die Meinung anderer Spezialisten ungefragt hinzunehmen und sich auf sie zu verlassen. Dies öffnet die Türe für ein neues Spezialgebiet, ein neues Gewerbe: die Werbung.

  Die Werbung      ^^^^  

Auch sie ist an sich nichts Böses oder Unbiologisches. Auch das Rotkehlchen, das in einem Baumwipfel sitzt, laut singt und dabei seine schöne rote Brust in der Sonne zeigt, wirbt für sich. Jeder balzende Vogel oder Fisch tut dasselbe. Alles sogenannte Imponiergehaben, wie z. B. die herrliche »Piaffe« des Hengstes, ist gleichzeitig Einschüchterung des konkurrierenden Männchens und Werbung um ein Weibchen. Wie wir im Kapitel über die Lüge und ihre bösen Folgen genauer besprechen werden, sind die Informationen, die werbende Tiere aussenden, durchaus verläßlich: Das Rotkehlchen mit der schönsten roten Brust und dem lautesten Gesang ist tatsächlich auch in jeder anderen Hinsicht das beste.

Auch der Mensch darf werben und muß es sogar. Der Wissenschaftler ist verpflichtet, in Rede und Schrift seine eigenen Erkenntnisse weiterzugeben und nach Möglichkeit zu verbreiten. Man erwartet, daß er wahrheitsgemäß informiert und durch vernunftgemäße Argumente überzeugt. Das ist in jeder Hinsicht erlaubt. Wenn eine Auto-firma mitteilt, daß ihr neues Modell Vierradantrieb hat, ist dagegen nichts einzuwenden; dies gilt für alle Werbung, die Tatsachen über die Produkte mitteilt, für die geworben wird. Die Werbung arbeitet heute jedoch überwiegend mit einer ganz bestimmten Technik, die die Gefühle des Konsumenten anspricht und nicht den ge-

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ringsten Versuch unternimmt, ihm verstandesmäßige Einsicht in die Struktur und Leistung des angepriesenen Produktes zu vermitteln.

Auch in einem demokratischen politischen System sollte die Allgemeinheit über das Für und Wider jeder Frage absolut ehrlich informiert werden. Diese Forderung kann jedoch nur erfüllt werden, wenn die Allgemeinheit diese Information auch versteht. Für dieses Verständnis sind die soeben besprochene Spezialisierung und die damit verbundene Beschränkung auf einzelne Wissensgebiete ein schwer überwindbares Hindernis. Der heutige Zivilisations­mensch fühlt sich nur auf seinem eigenen Spezialgebiet kompetent und begrüßt es geradezu, wenn er der Verantwortung für Probleme enthoben wird, die nicht sein Fachgebiet, sondern die Allgemeinheit betreffen. Er ist leider in machen Fällen bereit, sogar politische Meinungen als Fertigfabrikate zu kaufen, und verschiedene Meinungsproduzenten liefern ihm demgemäß diese Ware, für die sie in genau derselben Weise Propaganda machen wie die Produzenten von Konsumgütern.

Die Werbefachleute haben mit naturwissenschaftlicher Methode herausgefunden, daß es verfehlt ist, mit Vernunftgründen an das zu umwerbende Publikum heranzutreten. Es empfiehlt sich vielmehr, die tiefen, gefühls­mäßigen, ja, sogar die unterbewußten Schichten der menschlichen Seele anzusprechen. Es ist keineswegs wirksam, wissenschaftlich dozierend belehren zu wollen. Der Werbefachmann hat Erfolg, wenn er

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Instinkte und Emotionen zu manipulieren versteht. Wer große Menschenmassen gewinnen will, benutzt den Schlüssel zu ihren »Herzen«, zu ihrem Unterbewußtsein. Dort sitzen die genetisch programmierten Verhaltens­normen, wie Furcht, Sexualität, Rangordnungsbedürfnis usw., die mit Hilfe mitleidloser Attrappenversuche manipuliert werden. So ziemlich alle instinktiven Gefühle und Emotionen können durch propagandistische Maßnahmen angesprochen werden; dabei ist es sehr wesentlich, daß der Angesprochene, wie Aldous Huxley sehr richtig sagt, sich nicht der Tatsache bewußt wird, daß er nur ein Symbol seines Wunsches vor sich hat und nicht dessen Erfüllung. Die Reklame für einen Badeanzug oder für eine Hautcreme scheint zu versprechen, daß die glückliche Käuferin genauso aussehen werde wie das werbende Fotomodell. Die Produzenten kosmetischer Artikel verkaufen, wie laut Huxley einer von ihnen selbst gesagt haben soll, »nicht Lanolin, sondern Hoffnung«. Lanolin ist billig; für die Hoffnung aber lassen sich die Produzenten den vielfachen Preis bezahlen.

Die gefährliche Wirkung dieser Art von Werbung liegt darin, daß sie die Menschen allmählich daran gewöhnt, Vernunft und Wahrheit gering zu achten.

Angesichts der im nächsten Abschnitt zu besprechenden Tatsache, daß auch die politische Propaganda alle Mittel einsetzt, fragt Aldous Huxley mit Recht, ob überhaupt Aussicht bestehe, die verantwortliche Vernunft der Men-

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sehen auf den Plan zu rufen, ob der Versuch, eine vernunftgesteuerte Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu erreichen, nicht sinnlos sei. Im Augenblick scheint es, als ob die menschliche Vernunft an der Übermacht einer Werbetechnik scheitern müßte, die nicht immer in moralischer Weise gehandhabt wird. Daß sie die Politik wie die Marktwirtschaft gleicherweise beherrscht, ist ein besonderer Grund zur Besorgnis.

Selbstverständlich ist diese Manipulation der Information im höchsten Maße schädlich. Bei der innerartlichen Kommunikation von Tieren hat sich lügnerische Propaganda nachweislich nicht bewährt, wie A. Zahavi überzeugend dargetan hat. Es steht zu erwarten, daß sich auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation die Ehrlichkeit ganz allmählich als vorteilhafter erweisen wird. Ich habe sehr lange gelebt und bin dennoch Optimist. Ich glaube in den Medien einen gewissen Trend zu größerer Ehrlichkeit zu spüren.

Kollektiv-aggressive Begeisterung und politische Propaganda    ^^^^  

»Die kommerzielle Werbung«, sagt Aldous Hux-ley, »hat es etwas leichter als die politische Werbung, die ein autoritärer Staat, ein Diktator nötig hat, weil von Anfang an jeder Mensch eine gewisse Vorliebe für Bier, Zigaretten, Kühlschränke und sonstige Produkte hat, während niemand

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sein Leben von Anfang an mit einer Vorliebe für Tyrannei und einen Tyrannen beginnt. Die kommerzielle Propaganda hat es nur insofern etwas schwerer, als gewisse Spielregeln befolgt werden müssen. Ein Propagandist für eine Molkerei, für Milchprodukte, Käse und Butter, würde vielleicht sehr gerne die Produzenten von Pflanzenfetten, von Margarine und Kunstöl total verteufeln und als Repräsentanten einer feindlichen tyrannischen Macht hinstellen und ihre Fabriken verbrennen. Das ist aber verboten, und der Kampf wird mit anderen Mitteln geführt.«

Der politischen Werbung kommt jedoch eine ursprünglich arterhaltende Verhaltensnorm des Menschen zugute, die in der Massensozietät der modernen Zivilisation besonders gefährlich werden kann: das Gefühl der kollektiv-aggressiven Begeisterung. Ursprünglich diente sie der Verteidigung der eigenen Gruppe, der Familie. Fast jeder Mann kennt das subjektive Erleben, das mit der hier in Rede stehenden Verhaltensweise einhergeht: Ein Schauer läuft einem über den Rük-ken und, wie man bei genauer Beobachtung feststellen kann, auch über die Außenseite der Arme. Man kann gar nicht umhin, diese Erregungsqualität als einen hohen Wert und das Prik-keln auf der Haut als »heiligen Schauer« zu empfinden. Schon das deutsche Wort Begeisterung drückt aus, daß der Mensch dabei von etwas Hohem, spezifisch Menschlichem, eben vom menschlichen Geist besessen sei. Das griechische Wort Enthusiasmus besagt noch mehr, nämlich daß ein Gott vom Menschen Besitz ergriffen habe.

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An der göttlichen Natur dieses »heiligen Schauers« beginnt man zu zweifeln, wenn man die ganz sicher homologe Verhaltensweise unseres nächsten zoologischen Verwandten, des Schimpansen, kennt. In meinem Buch »Das sogenannte Böse« habe ich das objektiv beobachtbare Verhalten, das mit dem Erlebnis der Begeisterung einhergeht, folgendermaßen beschrieben: »Der Tonus der gesamten quergestreiften Muskulatur erhöht sich, die Körperhaltung strafft sich, die Arme werden etwas seitlich angehoben und ein wenig nach innen rotiert, so daß die Ellenbogen etwas nach außen zeigen. Der Kopf wird stolz angehoben, das Kinn vorgestreckt, und die Gesichtsmuskulatur bewirkt eine ganz bestimmte Mimik, die wir alle aus dem Film als >Heldenge-sicht< kennen. Auf dem Rücken und entlang der Außenseite der Arme sträuben sich die Körperhaare; eben dies ist die objektive Seite des sprichwörtlich gewordenen >heiligen Schauers<.«

Dieses Sträuben des Haarpelzes ließ in verhältnismäßig naher Vergangenheit den drohenden Mann noch ein wenig furchterregender erscheinen. Immerhin muß die Bewegungsnorm aus Zeiten stammen, in denen der Mensch noch nicht so aufrecht stand wie heute. Das Sträuben der Nacken- und Rückenhaare ist dem feindlichen Gegenüber in dieser Stellung nicht mehr sichtbar; in der normalen Haltung des Schimpansen vergrößert es die Konturen in eindrucksvol-

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ler Weise. An der Homologie der Verhaltensmuster von Mensch und Schimpanse ist nicht zu zweifeln.

Wie andere instinktmäßig programmierte Verhaltensweisen werden auch die der kollektiv-aggressiven Begeisterung durch eine Kombination ziemlich scharf definierbarer Reizsituationen ausgelöst. Wie beim Schimpansen sind die Objekte, für deren Verteidigung wir uns begeistert einsetzen, sozialer Natur.

Der Mensch spricht mit geradezu reflexhafter Voraussagbarkeit auf Situationen an, die eine kämpferische Verteidigung irgendeiner sozialen Einheit verlangen. Diese Einheit kann ganz konkret die Familie, die Nation, die Alma Mater oder der Fußballklub sein oder auch ein Abstraktum, wie etwa das Arbeitsethos der Naturforschung, die Unbestechlichkeit künstlerischen Schaffens oder die »alte Burschenherrlichkeit«. Ganz wie dies auch bei anderen Emotionen der Fall ist, wird die Reaktion der Begeisterung nicht durch die Einsicht gehemmt, daß ihr Objekt so rückhaltlosen Einsatz wert ist.

Zu der Reizsituation, die kollektiv-aggressive Begeisterung auslöst, kann als ein wirksamer Schlüsselreiz das Vorhandensein einer Bedrohung der zu verteidigenden Werte gehören. Dem Demagogen ist sehr wohl bekannt, daß ein solches Feindbild auch dann seinen Zweck erfüllt, wenn es frei erfunden ist. Es kann ebensowohl als etwas Konkretes wie auch als etwas völlig Abstraktes dargestellt werden; »die« Ungläubigen,

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Boches, Huns, Tyrannen usw. sind ebensogut verwendbar wie »der« Weltkapitalismus, Kommunismus, Imperialismus und viele andere -is-men.

Die besondere Gefährlichkeit des psycho-phy-siologischen Zustandes solcher Begeisterung liegt darin, daß in diesem Zustand dem Menschen alle Werte als nichtig erscheinen, mit Ausnahme des einen, für den er sich im Augenblick begeistert. Während man das subjektive Erlebnis der Begeisterung als »erhebende« Gefühlsqualität empfindet, fühlt man sich aus den Bindungen an alle Werte der alltäglichen Welt befreit; man ist bereit, alles liegen und stehen zu lassen, um dem Ruf einer »heiligen Pflicht« zu gehorchen.

Heinrich Heine läßt seine Helden - für mein Empfinden ohne Ironie - sagen: »Was schert mich Weib, was schert mich Kind, ich trage weit bessres Verlangen, laß sie betteln gehen, wenn sie hungrig sind. Der Kaiser, der Kaiser gefangen!« Wenn der Wert der eigenen Familie in diesem Zustand kollektiver Begeisterung vernachlässigt wird, ist es nicht verwunderlich, daß auch andere soziale Verhaltensnormen in den Hintergrund treten. Vor allem verlieren leider alle instinktiven Hemmungen, Mitmenschen zu schädigen und zu töten, viel von ihrer Macht. Eine merkwürdige Verschiebung der Wertvorstellungen läßt vernunftmäßige Erwägungen dann oft geradezu als erniedrigend und entehrend erscheinen; Kritik und Argumente, die gegen das Verhalten sprechen, das mitreißende Begeiste-

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rung diktiert, werden haltlos. Ein ukrainisches Sprichwort sagt: »Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete.«

Man kann dieses Sprichwort ins Hirnphysiologische übersetzen: Wenn das Zwischenhirn spricht, bringt es den Neocortex zum Schweigen. Die Demagogen wissen das seit langem und rechnen bei ihren Propaganda­maßnahmen leider zu Recht mit völligem Schweigen jeglicher Großhirntätigkeit bei den zu beeinflussenden Massen. In »Mein Kampf« spricht sich Hitler erstaunlich offenherzig über seine Methoden aus. Er kennt alle Strategien auf Werbung zielender moderner Massenpsychologie, er kalkuliert die kumulierende Wirkung der Mit-Mitgerissenen ganz richtig ein und würdigt die suggestive Wirkung des Zusammen-Marschierens und -Singens. In meinem Buch »Das sogenannte Böse« habe ich geschrieben: »Mitsingen heißt dem Teufel den kleinen Finger reichen.«

Als ich jenes Buch schrieb, meinte ich, der Krieg, das Aggressiv-Werden einer ganzen ethnischen Gruppe gegen eine andere, sei institutionell und damit kulturabhängig. Als ein Meinungsgegner aufgrund eines Mißverständ­nisses seine Schrift betitelte »War is not in our genes« [Der Krieg ist nicht in unseren Genen programmiert), war meine Antwort: »Das habe ich doch nie behauptet.« Leider haben inzwischen Beobachtungen, die Jane Lawick-Goodall an freilebenden Schimpansen gemacht hat, bei diesen das Vorkommen echter kriegerischer Unternehmun-

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gen nachgewiesen. Dabei zeigen die »Kriegshetzer« (»war mongers«) Ausdrucksbewegungen, die genau den oben geschilderten menschlichen entsprechen: Sie steigern sich gegenseitig in »Begeisterung«, d. h. kollektive Aggressivität, hinein und greifen dann geschlossen eine benachbarte Schimpansenhorde an, und zwar zuerst deren stärkstes Männchen. In kurzer Zeit hatten sie im beobachteten Fall alle Individuen des feindlichen Stammes umgebracht. Da man diesen Menschenaffen kaum kulturelle Institutionen zuschreiben möchte, muß man schließen, daß die Aktionsund Reaktionsnormen des kollektiven Angriffes eben doch genetisch programmiert sind.

Um so notwendiger ist es, die Menschheit, vor allem die jungen und begeisterungsbereiten Menschen, gegen die Gefahren zu wappnen, die ihnen aus den eigenen Reaktionsnormen und aus dem berechnenden Gebrauch erwachsen, den die Demagogie von diesen macht. Daß die angeborene, allgemein menschliche Fähigkeit, sich für bestimmte Werte zu begeistern, in höchstem Maße gefährlich werden kann, besagt jedoch nicht, daß sie entbehrlich sei. Wie im Abschnitt über Wertempfindungen auseinandergesetzt wurde, würde der gesamte Apparat der menschlichen Ratio und der menschlichen Vernunft jeglichen dynamischen Antriebs entbehren, wenn nicht instinktmäßig programmierte Verhaltensnormen als Motor der ganzen Maschinerie wirkten. Verhaltensprogramme sind nur in seltensten Grenzfällen völlig »geschlossen«;

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ebenso selten sind, im Sinne von Ernst Mayr, »offene Programme«, nämlich solche, die fast ausschließlich durch erlerntes Verhalten bestimmt werden. Während subjektives Erlebnis, Ausdrucksbewegungen und Dämpfung oder gar Abschaltung aller anderen Wertempfindungen kennzeichnend für jede Art von Begeisterung sind, ist ihr Objekt weitgehend durch Erworbenes bestimmt. Sofern die schon erwähnten Schlüsselreizsituationen geboten sind, kann die kollektiv-aggressive Begeisterung ein abstraktes Ideal oder ein ganz konkretes, z. B. einen Fußballklub, zum Gegenstand haben.

Wir kennen einen anderen Vorgang der Objektwahl, durch den ein sehr komplexes, sonst weitgehend in sich geschlossenes Verhaltensprogramm auf ein Objekt fixiert wird, die sogenannte Prägung. In den meisten Fällen liegt ihre Funktion in der Fixierung sozialer Verhaltensweisen auf ihr richtiges Objekt, d. h. auf den Artgenossen. Ein Kennzeichen dieser Art von Objektprägung ist ihre Unwiderruflichkeit. Gerade diese Eigenschaft lenkte die Aufmerksamkeit des Forschers auf die Eigenart des Vorganges: Von Menschen künstlich großgezogene Tiere verschiedener Arten erwiesen sich als untauglich zur Zucht, weil alle ihre sexuellen Verhaltensweisen irreversibel auf den Menschen fixiert waren. Der Objektfixierung der Begeisterung haften gewisse prägungsähnliche Züge an. Wie wir bereits besprochen haben, gibt es beim Menschen eine Phase der individuellen Entwicklung, in der der

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Heranwachsende besonders geneigt ist, neue Werte zu den seinen zu machen und die der elterlichen Tradition fallenzulassen. Dieser Vorgang einer Bindung hat gewisse Ähnlichkeiten mit der Prägung. Doch ist die sensitive Phase, die hier zu vermuten ist, weniger scharf begrenzt, und die Wahl des Objektes ist nicht unwiderruflich. Glücklich der, der in der sensitiven Phase der Jugend Ideale findet, die zu vertreten des vollen Einsatzes eines humanen Menschen wert sind.

Indoktrinierung    ^^^^  

Die Demagogen aller Zeiten waren und sind sich der Tatsache bewußt, daß der Mensch jenen Idealen am treuesten dient, die er in seiner Jugend zu den seinen gemacht hat. Sie wußten und wissen die oben erwähnten Schlüsselreize künstlich herzustellen und einzusetzen.

Man muß mit einem wirklich einer Doktrin ergebenen jungen Menschen diskutiert haben, um sich ein richtiges Bild davon zu machen, mit welcher totalen Unbekümmertheit der früh Begeisterte für alle Gegenargumente taub ist und alle anderen Werte verneint. »Was schert mich Weib, was schert mich Kind ...« ist ein schwacher Ausdruck für die Gesamtheit aller Dinge, die den Begeisterten nicht mehr scheren. Am merkwürdigsten ist dabei die Tatsache, daß eine solche restlose Hingabe an eine Doktrin dem Indoktrinier-

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ten das vollkommene und offenbar restlos beglückende Gefühl persönlicher Freiheit verleiht. Der Gefangene identifiziert sich eben vollständig mit den Idealen, die der Doktrinär ihm eingab; er fühlt die Zwangsjacke nicht, in der er steckt. Der völlig Indoktrinierte merkt nichts davon, daß er eines konstitutiven Merkmals wahren Menschentums verlustig gegangen ist, nämlich der Freiheit des Denkens. Die Miene der absoluten Überzeugung, die er dabei aufsetzt, ist geeignet, im Gesprächspartner eher Ärger auszulösen als das Mitleid, das der Indoktrinierte tatsächlich verdient.

Das entsprechende Syndrom von Ausdrucksbewegungen habe ich zum erstenmal in Amerika bewußt beobachtet: an einem Studienkollegen, der ein sogenannter »revivalist« war, d. h. Anhänger einer Strömung, die das Christentum aktiv und dynamisch zu beleben trachtet. Ich habe damals schon genug von Evolutionslehre gewußt, um mit diesem jungen Menschen über Glaubenssätze der Genesis zu diskutieren. Dabei habe ich erstmalig die Starrheit der Indoktrination kennengelernt. Auf manchen modernen sowjetischen und sogar chinesischen Plakaten ist der Ausdruck indoktrinierter Begeisterung ganz eindeutig dargestellt.

Aufs nächste vertraut mit dem Ausdruckssyn-drom indoktrinierter Begeisterung wurde ich während meiner Kriegsgefangenschaft in der UdSSR von 1944 bis 1948. Dort machte ich auch eine Erfahrung, die mir von meiner Bekanntschaft mit dem jungen Revivalisten in New York im Jahre 1922 in lebhafter Erinnerung war: Der von einer Doktrin wirklich Begeisterte hält es für seine Pflicht, Proselyten zu machen. Viele jüngere Militärs und Ärzte, mit denen ich während meiner ärztlichen Tätigkeit in der Sowjetunion näher bekannt wurde, unternahmen an mir Bekehrungsversuche. Wenn einer dieser Leute begann, freundlicher zu werden und dem Gefangenen gegenüber seine steife Zurückhaltung abzulegen, konnte ich geradezu voraussagen, wann der Bekehrungsversuch kommen würde. Dabei war mit großer Regelmäßigkeit der missionsbeflissene Sowjetbürger ein uranständiger und netter Mensch, in vielen Fällen »hatte ich nicht das Herz«, ihm einzugestehen, wie unannehmbar seine Doktrin mir war.

Eines aber ist mir bei diesen Missionsversuchen von sowjetischer Seite her klar geworden, was mir bei den Bekehrungsversuchen der Revivalisten entgangen war. Es ist das die Tatsache, daß die sozial am besten veranlagten, gutherzigsten und anständigsten Menschen gegen die Anschläge des indoktrinierenden Demagogen besonders wehrlos sind. Vor allem hindert sie eine wirkliche Tugend, nämlich ihre Treue, daran, sich von der Doktrin zu lösen, selbst dann, wenn sie ihre Wertlosigkeit voll durchschaut haben. Wenn man die Tragik dieser Treue eingesehen hat, fühlt man die Verantwortlichkeit, die Jugend vor den Leimruten der Indoktrination jeder Art zu bewahren.

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9.  Irrgänge des menschlichen Geistes

Überwertige Ideen und Neurosen

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Im vorangehenden Kapitel war von Verhaltensnormen die Rede - seien sie nun genetisch oder traditionell festgelegt -, die an sich durchaus sinnvoll und gesund sind und nur dadurch zu Fehlleistungen führen, daß die wachsende Masse der Menschen, die Menge des Besitzes und die gewaltigen zur Verfügung stehenden Energien Umgebungsbedingungen schaffen, auf welche besagte Normen nicht mehr passen. Es ist etwas wesensmäßig völlig anderes, wenn das Verhalten des Menschen selbst »verrückt« wird. Die in der heutigen Zivilisation so ungemein häufigen Neurosen, die falsche Bewertung von Wirklichkeit und Wichtigkeit vieler Dinge bringen es mit sich, daß der Mensch, sowohl kollektiv als auch individuell, anstrebt, was ihm schadet. Scharfe Grenzen zwischen den beiden Erscheinungen gibt es natürlich nicht.

Die Neurose kann recht gut als ein Vorgang definiert werden, der bestimmte Ideen überwertig werden läßt, bis sie allmählich die ganze Persönlichkeit eines Menschen beherrschen und schließlich alle anderen Motivationen zum Schweigen bringen. Es wäre ein Mißverständnis zu glauben, daß ich alle zu besprechenden Störungen aufgrund verdrängter Konflikte erklären möchte. Wir haben den menschlichen Geist als eine kollektive Erscheinung definiert, als jenes gemeinsame Wissen, Können und Wollen, das dem Menschen durch sein begriffliches Denken und seine syntaktische Sprache verliehen ist. Unter »Geisteskrankheiten« verstehe ich hier folgerichtig nur Erkrankungen des kollektiven Geistes der Menschheit; ich nenne sie epidemische Neurosen.

Leider ist nahezu allen in der heutigen westlichen Zivilisation grassierenden Neurosen der oben gegebenen Definition gemeinsam, daß sie gerade jene Eigenschaften und Leistungen unterdrücken, die wir als konstitutiv für wahres Menschentum erachten. Ein typisches Beispiel für eine Neurose, von der die Persönlichkeit des Menschen allmählich »aufgefressen« wird, so daß er für nichts anderes mehr Interesse hat, ist die Geldgier. Eine Verhaltensnorm des Besitzenwollens ist natürlich auch normalerweise vorhanden; ob sie auf einem genetischen Programm beruht, ist zweifelhaft. In unserer Kultur bestehen sicher einige positive Rückwirkungen zwischen den Motivationen des Wettbewerbes und des Be-sitzenwollens; außerdem scheint bereits erworbener Besitz eine positive Rückwirkung auf den

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Drang zum Erwerben weiterer Reichtümer auszuüben. Die pathologische Natur der in Rede stehenden Erscheinung drückt sich in der Macht aus, die sie über den Erkrankten ausübt. Er arbeitet härter als der Sklave des grausamsten Herren.

Der Trieb, den Mitmenschen zu überflügeln, führt ebenfalls zu überwertigen Ideen, unter deren Zwang viele heutige Zivilisationsmenschen stehen. Das Bestreben, um jeden Preis »Karriere« zu machen, ist kennzeichnend für unsere »Erfolgsgesellschaft« .

Am schlimmsten wirkt sich der Wettlauf der Menschen auf finanziellem Gebiete aus; »time is money« ist eine wahre, aber höchst bedauerliche Feststellung.

Eine dritte Motivation, die mit dem süchtig gewordenen Trieb, Geld zu erwerben und das Wettrennen zu gewinnen, zusammenspielt, ist das angeborene Rangordnungsstreben des Menschen, von dem schon im Abschnitt über Wettbewerb die Rede war. Alle drei zusammen bilden einen Teufelskreis, in dem die Menschheit immer schneller und schneller herumwirbelt und aus dem nur schwer ein Ausweg zu finden ist.

Theoretische und praktische Auswirkungen des Szientismus    ^^^^  

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Im zweiten Teil des Buches wurde davon gesprochen, daß der Szientismus oder ontologische Reduktionismus allem subjektiven Erleben den Charakter des Realen abspricht; hier, im Abschnitt über Erkrankungen des kollektiven menschlichen Geistes, ist wesentlich, daß er den Wertunterschied zwischen einfacheren und komplexeren lebenden Systemen, wie Teilhard de Chardin richtig gesehen hat, völlig verschwinden läßt. Den Schaden, der damit angerichtet wird, möchte ich durch ein einfaches Beispiel illustrieren. Die Aussage, daß Lebensvorgänge chemisch-physikalisches Geschehen seien, ist vollkommen richtig. Was könnten sie denn anderes sein, zumindest für den Wissenschaftler, der sich radikal weigert, an Wunder zu glauben? Dagegen ist die Aussage »Lebensvorgänge sind eigentlich nichts anderes als chemisch-physikalische Vorgänge« eindeutig falsch. Gerade hinsichtlich dessen, was für die Lebensvorgänge wesentlich und ihnen allein zu eigen ist, unterscheiden sie sich von anderen chemisch-physikalischen Vorgängen. Noch deutlicher wird die irreführende Wirkung des ontologischen Reduktionismus, wenn ich zwei andere Aussagen miteinander in einen Vergleich setze, der einen noch größeren Wertunterschied überspannt: »Der Mensch ist ein Säugetier aus der Ordnung der Primaten« ist ebenso offensichtlich richtig wie die Aussage, der Mensch sei »eigentlich nichts anderes als ein solches«, offensichtlich falsch ist. Julian Huxley hat für solche Fehler die wunderbare Bezeichnung »nothing-else-buttery« geprägt.

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Der Wissenschaftler darf sich nicht dem Wahn hingeben, er sei unabhängig von der öffentlichen Meinung der Gegenwart. Der gefährliche Zeitgeist, der heute die Welt beherrscht, ist aus einer Verschiebung des Wirklichkeits­bewußtseins geboren, von dem die Mehrzahl der westlichen Zivilisierten ergriffen sind. Thomas Luckmann und Peter Berger haben in ihrem Buch über die soziale Konstruktion der Wirklichkeit gezeigt, daß ein Mensch nur das für wichtig und vor allem für wirklich halten kann, was in der Sozietät, in der er aufwächst, für wichtig und wirklich gilt und womit er außerdem täglich selbst in Wechselwirkung steht. Die meisten zivilisierten Menschen sind heute Stadtbewohner oder verrichten zumindest ihre Arbeit in der Stadt. Sie haben in ihrem täglichen Leben fast nur mit nichtlebendigen, vor allem mit menschengemachten Dingen zu tun und gelernt, mit ihnen umzugehen.

Sie haben aber verlernt, mit Lebendigem umzugehen; sie behandeln es, wo immer sie mit ihm in Berührung kommen, mit schier unglaublicher Kurzsichtigkeit und vernichten das, wovon wir leben. Weil alles, womit sie täglich umgehen und was sie für wirklich halten, vom Menschen gemacht ist, halten sie alles für machbar, daß Lebendiges, das einmal vernichtet ist, nicht wieder lebendig gemacht werden kann, wird ihnen vielleicht nie bewußt oder verdrängt. Die falsche Vorstellung, daß schlechterdings alles machbar sei, wird durch die ungeheure Macht bestärkt, die der Menschheit aus den Erkenntnissen der exakten Natur­wissen­schaften erwachsen ist. Diese Wissenschaften wiederum sind auf analytischer Mathematik begründet und können jedem, der ihnen keinen Glauben schenkt, die Beweise ihrer Richtigkeit vorrechnen.

Diese erkenntnistheoretischen Irrgänge haben nun in praktischer Hinsicht unheilvolle Folgen, die ihrerseits eine »positive« Rückwirkung auf den epidemischen Irrsinn ausüben. Die Wirklichkeitsverschiebung, die der moderne Stadtmensch dadurch erleidet, daß er nur mit nicht lebendigen, menschengemachten Dingen zu tun hat, befällt leider in ihrer akutesten Form Menschen in Machtstellungen, die eigentlich die Verantwortung für Wohl und Wehe der Menschheit tragen sollten. Was für sie wirklich ist, worauf sie wirken und was Gegenwirkungen auf sie ausübt und woran sie dauernd denken müssen, sind Einfluß und Geld. Das Geld läßt sich ungemein leicht quantifizieren, mit Geld kann man rechnen, Währungen lassen sich manipulieren. Was Wunder, daß die Ökologen für »nostalgische Träumer« gehalten werden, wenn sie mahnen, daß bares Geld und Gold nur Symbole sind und daß man Lebensnotwendigkeiten, wie reine Luft und unvergiftetes Wasser, sehr bald für alles Geld der Welt nicht mehr werde kaufen können.

Mehr als andere epidemische Neurosen der heutigen Zeit hat die Wirklichkeitsverschiebung, von der die heutige Weltwirtschaft ergriffen ist, Einfluß auf das wissenschaftliche Denken genommen. Jeder Wissenschaftler, und sei es der größte, ist Kind seiner Zeit und muß es sein, sonst würde er gar nicht verstanden. Allerdings wird es eine außerordentlich schwierige Aufgabe für die Naturwissenschaft sein, sich der Macht der ontologischen Reduktionisten zu widersetzen.

199-200

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Lorenz-1983