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12.  Spirale der Gewalt

 

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    Kaleidoskop des Schreckens  

Einzelfälle, alles Einzelfälle, werden Sie sagen. Stimmt genau: Jeder Mord und jeder Totschlag ist ein Einzel­fall. Die Frage ist nur, wie häufig so etwas vorkommt — und aus welchen Motiven. Nun, die Häufigkeit nimmt dramatisch zu. Das weiß jeder, der regel­mäßig Zeitung liest — und das belegt die Statistik. Doch welches sind die Motive?

  Die Banalität des Bösen  

Unbändige sexuelle Triebe, schwerwiegende Geisteskrankheiten oder massive Affektausbrüche, so glauben wir gerne, seien die häufigsten Ursachen für schwere Gewaltverbrechen. All dies gibt es. Aber das Haupt­problem, mit dem wir heute konfrontiert sind, ist etwas anderes: eine immer tiefer sinkende Hemmschwelle, anderen Böses anzutun; die zunehmende Unfähigkeit zu mensch­lichen Empfindungen; die Verkümmerung dessen, was wir Gewissen nennen.

Auf das organisierte Verbrechen, den Terror und den Krieg wird noch zurückzukommen sein. Hier geht es zunächst nur um die von einzelnen begangenen Gewaltverbrechen. Und da verzeichnen die Kriminalstatistiken nicht nur eine steigende Tendenz, sondern auch einen bemerkens­werten Wandel bezüglich der Motive: Man bricht ein, jemand stört einen dabei, also schießt man ihn tot. Man hat Lust auf eine Frau, also schnappt man sich eine und vergewaltigt sie. Man braucht Geld, also überfällt man eine alte, alleinstehende Frau, schlägt sie erst mal tot und guckt dann, ob man in der Wohnung etwas findet. Man ist pädophil veranlagt, also entführt man zwei Kinder, vergewaltigt sie und bringt sie anschließend um, damit man keine Scherereien hat — und, am besten, man nimmt die Vergewaltigung und den Totschlag auf Video auf. Dann kann man auch gleich noch ein Versand­geschäft aufziehen.

Die meisten Menschen, die andere töten, tun dies nicht aus abgrundtiefem Haß oder in einem verzweifelten Kampf um das eigene Überleben. Gewalt gehört vielmehr bei einem bedrohlich zunehmenden Teil nicht zuletzt auch junger Menschen zum ganz gewöhn­lichen Alltag. Sie kennen nichts anderes und finden nichts dabei. Die tieferen Ursachen — wenn es denn überhaupt welche gibt — sind Gleichgültigkeit, Gefühllosigkeit und, so unglaub­lich es klingen mag: Langeweile.

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   Der Zerfall der Familie  

Normalität ist bekanntlich ein dehnbarer Begriff. Aber Sigmund Freud hat einmal drei einfache Merkmale für psychische Gesund­heit benannt: Liebesfähigkeit, Arbeitsfähigkeit und Genußfähigkeit. Ich bin mit dieser Faustregel sowohl in meinem Beruf als auch im Privatleben immer gut zurechtgekommen. Doch es ist nicht zu übersehen: Unsere Gesellschaft produziert immer mehr Menschen, die nicht mehr über diese Fähigkeiten verfügen. Dies hat mit der sogenannten Sozialisation zu tun — dem Lernprozeß, den ein Mensch im Laufe der Kindheit auf seinem Weg zum Erwachsensein durchläuft.

Gefühle wie Zuneigung, Wertschätzung oder Respekt empfinden kann nur, wer in einem menschlich intakten Umfeld aufge­wachsen ist. Wem als Kind keine Zuwendung, keine Zärtlichkeit und keine Beachtung geschenkt worden sind, wem die Erwachsenen während seiner Kindheit nur Gleichgültigkeit, Egoismus und Rücksichts­losigkeit vorexerziert haben, der hat nicht gelernt, für andere Menschen Gefühle zu empfinden. Er kann hoch­intelligent sein — aber er empfindet nichts. Er hat weder ein gutes noch ein schlechtes Gewissen. Er hat gar kein Gewissen. Die Datei "Moral" fehlt ganz einfach in seinem Verhaltens­programm.

Die eine Ursache für diese Entwicklung ist der Zerfall stabiler Familienstrukturen. Die für uns verwöhnte Wohl­stands­bürger unvorstell­baren Zustände in den Armenvierteln der Großstädte lassen die Entwicklung gesunder und stabiler Familien häufig gar nicht zu. Es gibt zwar immer Ausnahmen. Aber in der Mehrheit wachsen hier junge Menschen heran, denen das Leben vom ersten Tag an miserabel mitgespielt hat. Doch Wohlstand allein schützt auch nicht vor seelischer Verwahrlosung. Die den ganzen Tag sich selbst über­lassenen "Schlüsselkinder" berufstätiger Eltern sind zum Symbol für eine Jugend geworden, die in unserer Leistungs­gesellschaft keinen Platz mehr hat.

Die zweite Ursache ist der Zerfall der Werte im sozialen Umfeld. In einer Welt, in der sich durchsetzt, wer eine Waffe besitzt; in der ein Menschen­leben keinen Pfifferling wert ist; in der Millionen verhungern und Verbrecher am meisten Geld verdienen — in einer solchen Welt haben viele nur die Wahl, vor die Hunde zu gehen oder sich auf Kosten anderer finanziellen Erfolg und soziale Achtung zu verschaffen.

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   Das Monster von nebenan  

Die Menschen, die in den Schlagzeilen als "Monster" bezeichnet werden, Menschen, die unsägliches Leid über andere gebracht haben und die sich vor Gericht oft gar nicht erst Mühe geben, Reue zu heucheln — sie sind nur selten die Opfer unbeherrschbarer Emotionen. Im Gegenteil. Eiseskälte durchweht die Leere ihres Innenlebens. Sie sind nie geliebt worden, sie kennen keine Wärme, sie haben nie jemandem viel bedeutet. Sie liefern, ohne mit der Wimper zu zucken, ihren besten Kumpel ans Messer, wenn dies für sie mit einem Vorteil verbunden ist.

Der zivilisatorische und kulturelle Überbau in der Persönlichkeitsstruktur des Durchschnittsbürgers ist wesentlich fragiler, als wir wahrhaben wollen. Die meisten Menschen haben einen kleinen Dr. Jekyll und einen kleinen Mr. Hyde in sich. Bei erschreckend vielen entscheiden lediglich die äußeren Umstände darüber, welcher der beiden die Oberhand behält. Dies ist die bittere Erkenntnis: Unendlich viele "Monster" schlummern rund um uns herum. Man sieht es ihnen nicht an. Es sind ganz gewöhnliche Bürger und Normal­verbraucher. Aber wehe, wenn sie losgelassen — wie seinerzeit im Dritten Reich. Oder in Kambodscha. Oder in Bosnien. Oder in Zaire. Oder in Afghanistan. Oder in Tschetschenien. Und es werden allenthalben immer mehr.

1996 wurden in Deutschland bosnische Frauen betreut, die während des Bürgerkrieges mehrfach vergewaltigt und deren Männer und Söhne ermordet worden waren. Alle waren schwer traumatisiert. Viele aber haben irreparablen seelischen Schaden davon­getragen — und zwar diejenigen, die von Bekannten vergewaltigt und ihrer Angehörigen beraubt worden sind. Verge­waltigung und Verlust von Familien­mitgliedern sind an und für sich schon schwer genug zu ertragen. Was diese Frauen endgültig gebrochen hat, ist das Unfaßbare: Das Monster war der Nachbar von nebenan, mit dem man jahre-, wenn nicht jahr­zehntelang normale, ja freund­schaftliche Beziehungen gepflegt hatte.

 

   Die Brutalisierung der Kinder  

Zwei Zehnjährige nehmen in einer Liverpooler Einkaufspassage den für ein paar Sekunden unbeauf­sichtigten zweijährigen James Bulger bei der Hand. Sie gehen mit ihm spazieren. Sie gehen ziemlich weit durch die Stadt, der Kleine beginnt zu schreien. Mehrere Passanten erinnern sich später, die drei gesehen zu haben. Weiter draußen, wo es niemand sehen kann, erschlagen die beiden James Bulger mit Steinen und mit einer Metallstange. In Chicago werfen zwei Brüder — der eine elf, der andere zehn Jahre alt — einen fünfjährigen Jungen aus dem Fenster eines Hochhauses. Er hatte sich geweigert, für die beiden Süßig­keiten zu stehlen. 

wikipedia  Der_seltsame_Fall_des_Dr._Jekyll_und_Mr._Hyde 1886         124/125

Diese Kinder verkörpern nach Ansicht amerikanischer Kriminologen einen neuen Straftäter­typus, den sogenannten "Superpredator" — eine neue Generation völlig skrupel­loser und extrem gewalt­tätiger Räuber und Mörder im Kindesalter.

"Immer kleinere Kinder entwickeln eine immer größere kriminelle Energie", stellt ein deutscher Polizei­beauftragter für Jugendliche fest. Von den im Jahre 1995 in Deutschland ermittelten Räubern waren 2500 strafunmündige Kinder. Die Gewalt unter Kindern und Jugendlichen hat viele Gesichter. Gewalt­anwendung bei Eigentums­delikten ist das eine; Haß und körperliche Gewalt gegen Andersartige und Randgruppen das zweite; ganz simpel Spaß an der Freud das dritte: Gewalt um der Gewalt willen — der spezielle Kick zu Tode gelang­weilter und sich selbst überlassener Jugendlicher als Form lebendiger Freizeitgestaltung. 

Und dies ist das Beängstigende: Gewalttätige Jugendliche stehen in der Hierarchie immer häufiger ganz oben. Gewalt wird zum Bestandteil der Jugendkultur.

In vielen Schulen haben sich bereits mafiaartige Strukturen herausgebildet: Gangs bewaffneter Schüler, welche von ihren Mitschülern Schutzgelder erpressen und ständig auf der Suche sind nach einem Anlaß, um irgend jemanden zusammen­zuschlagen. Der Anstieg des Aggressionspegels unter Kindern und Jugendlichen wird von Fachleuten als alarmierend bezeichnet. Der harte Kern — völlig enthemmt und allen bekannten Formen der Therapie unzugänglich wurde 1996 auf fünf Prozent pro Jahrgang beziffert. Er ist eingebettet in ein Heer von Mitläufern. Fast die Hälfte aller Jungen und ein Drittel der Mädchen halten Gewalt für "normal". Und wir befinden uns hier immer noch in Zentraleuropa — nicht in Caracas, nicht in Medellin und auch nicht in Miami, wo mittlerweile mit Maschinenpistolen bewaffnete Banden von zehnjährigen Killern am hellichten Tag auf der Autobahn Touristen überfallen und massakrieren.

Nicht alle jugendlichen Straffälligen gehören zu dieser Kategorie. Aber im Jahre 1994 wurden in den USA mehr als 150.000 Kinder und Jugendliche wegen schwerer Gewaltverbrechen wie Mord, Vergewaltigung, Raub und Überfall verhaftet. Und seit 1994 ist es nur schlimmer geworden. Die Zahl der von Jugendlichen verübten Morde hat sich in zehn Jahren verdreifacht. Führende Kriminologen halten die aktuelle Situation jedoch erst für die Ruhe vor dem Sturm. Sie entwerfen für die kommende Dekade apokalyptische Szenarien. Zur Zeit leben in den USA 39 Millionen Kinder unter zehn Jahren.

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Die sozialen Bedingungen, unter denen die Mehrheit von ihnen aufwächst, lassen für die Zukunft nur das Schlimmste befürchten: Armut, gestörte Familien­verhältnisse, Kindes­mißhand­lungen, Verfall der Schulen in den Ghetto­bezirken, mangelnde Bereitschaft der Regierung, Sozialprogramme zu finanzieren. Die Versuche, durch strengere Strafverfolgung "Law and Order" aufrechtzuerhalten, erweisen sich schon heute zunehmend als wirkungslos.

   Das Vorbild der Eltern  

Was wird den Kindern und Jugendlichen heute von den Erwachsenen geboten? Ein 16jähriger Deutscher hat im Durchschnitt neben 10.500 Schulstunden 8.500 TV-Stunden konsumiert und dabei einige tausend Tötungen von Menschen mitangesehen. Das Fernsehen bietet pro Woche rund 500 Morde an. Zweierlei ist hierbei bunt vermischt: die detaillierte wirklichkeitsnahe Darstellung aller nur erdenklichen Gewalttaten in Filmen und TV-Serien — und die Berichterstattung über tatsächliche Kriege und Verbrechen im realen Leben. Wer fleißig zappt, kann das eine gar nicht mehr vom andern unterscheiden. Fiktion und Realität verschmelzen zu einem Einheitsbrei ganz normaler und alltäglicher Brutalität. 

Jugendliche, die über Internet in den Cyberspace eintreten, können rund um die Uhr die haar­sträubendsten Brutalitäten in sich hineinsaugen. Und sehr viele können leider nicht nur — sie tun es auch.

Das Fernsehen zeigt weiteres. Etwa, daß auf dieser Welt die einen schöne Autos, Villen und Yachten haben — und die anderen verhungern; daß auf der ganzen Welt jeden Tag Menschen von anderen Menschen fachmännisch organisiert mit modernsten Spezialgeräten in Massen vernichtet werden; aber auch, wie gesund und glücklich man wird, wenn man Zigaretten raucht und Schnaps trinkt. In den Familien wird geglotzt anstatt geredet — und wer kommuniziert, tut dies vorzugsweise mit dem elektron­ischen Kollegen, dem Computer.

Unvorstellbare Summen werden von der Wirtschaft für Fernsehwerbung ausgegeben. Die Einschaltquoten sind zum Fetisch des Jahrhunderts geworden. Der Werbeerfolg wird von spezialisierten Instituten für teures Geld laufend bis auf die dritte Stelle hinter dem Komma genau gemessen. Und dann werden — ohne daß irgend jemand rot anlaufen würde — tiefschürfende, wissenschaftlich verbrämte Diskussionen darüber gefühlt, ob Gewalt im Fernsehen auf Kinder einen Einfluß haben könnte oder nicht. Wir merken gar nicht, wie kaputt wir sind.

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An einer belebten Straße in Hamburg dringen aus einem Hauseingang ununterbrochen laut klatschende Geräusche und qualvolle Schreie eines Kindes. Während einer Stunde gehen 989 Passanten vorbei — 982 völlig ungerührt. Drei Personen klopfen und klingeln ratlos und gehen dann weiter. Vier laufen aufgeregt zur nahe gelegenen, gut sichtbaren Polizeiwache. Diese vier Menschen sind die einzigen, die erfahren haben, was in dem Haus los war. Die Geräusche kamen von einem Tonband. Das Ganze war ein Experiment. Es zeigt, was für Erwachsene die Welt bevölkern, in die unsere Kinder hinein­geboren werden.

Nur langsam dringt ins kollektive Bewußtsein, was bisher von einer verlogenen Gesellschaft erfolgreich totgeschwiegen wurde: Die alltägliche Gewalt innerhalb der vier Wände der honorigen Durchschnittsfamilie. Die Zahlen über vergewaltigte und verprügelte Frauen, mißhandelte und mißbrauchte Kinder, gequälte und vernachlässigte Alte sind erschreckend. So erschreckend, daß wir uns weigern, sie zur Kenntnis zu nehmen. Aber sie sind veröffentlicht. Man kann sie nicht mehr wegdiskutieren. Man kann sie nur totschweigen.

Wir brauchen keine soziologischen Studien über die Hintergründe der Jugendkriminalität. Wir haben keine Krise der Jugend. Wir sind die Krise.

    Die Popularisierung des Zerstörungspotentials  

"Zagreb. — Drei Mittelschüler aus der kroatischen Hafenstadt Zadar sind über das Internet in einen Computer des US-Ver­teidigungs­ministeriums eingedrungen und haben dort den Code für die Unterlagen eines Atom­waffen­stützpunktes geknackt." Dies ist nicht etwa ein Auszug aus dem Drehbuch eines Science-Fiction-Thrillers, sondern eine Anfang 1997 verbreitete Mitteilung der Nachrichtenagentur SDA. Die erste Freude über die Meisterleistung dreier junger Menschen wird beim Weiterlesen gleich wieder getrübt: Dem Trio winkt nicht etwa ein Preis der Stiftung "Jugend forscht", sondern ein lebenslanges Internet-Verbot wegen Daten­mißbrauchs. Der hochbezahlte Künstler im Pentagon dagegen, der letztlich dafür verantwortlich ist, hat wahrscheinlich zum Jahresende seine gewohnte Tantieme kassiert.

Wissen Sie, wie man Giftgas herstellt? Oder hochbrisanten Sprengstoff? Oder eine Atombombe? Möchten Sie es wissen? Kein Problem. Dies ist per Mausklick im Internet alles zu erfahren. Für den Bau eines Nuklear­spreng­satzes brauchen Sie zwar spalt­bares Material. Aber dieses ist auf dem Schwarzmarkt zu haben. Sie brauchen dazu lediglich Geld. Sollten Sie nicht genug davon vorrätig haben, bleiben Sie ganz einfach bei Giftgas und konventionellem Sprengstoff.

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Die Zutaten sind problemlos in der Apotheke sowie im Chemikalienhandel zu haben. Sie werden in der Land­wirtschaft, im Gewerbe und in der Industrie gebraucht. Bei einigen Substanzen muß der Verwendungs­zweck schriftlich deklariert werden. Schreiben Sie einfach: Düngen von Geranien oder Mottenschutz im Kleider­schrank.

Millionen von Maschinengewehren, Maschinenpistolen und Faustfeuerwaffen, aber auch Minen, Hand­granaten und Raketenwerfer vagabundieren durch die Welt. Man könnte ganze Armeen damit ausrüsten. Sie stammen aus geplünderten Polizei- und Armee­beständen osteuropäischer Staaten. Korrupte Beamte und weltweit agierende Waffen­schieberbanden haben damit Milliarden gescheffelt. Ein Teil dieser Waffen ist in den legalen Handel geflossen. UZI-Maschinen­pistolen, die berüchtigten "Straßenfeger" aus israelischer Produktion, sowie Kalaschnikows verschiedenster Provenienz sind in jedem Waffengeschäft zu haben. Der größte Teil, vor allem das schwere Gerät, ist verschwunden. Es wartet irgendwo auf seinen Einsatz.

In den Wirren des zusammenbrechenden Ostblocks sind aber auch noch ein paar andere Dinge herrenlos geworden — Plutonium etwa, nukleares Spaltmaterial, das man braucht, um Atombomben zu bauen. Das eine oder andere Mal konnte eine Lieferung sichergestellt werden. Aber wer weiß schon, wo überall etwas von dem Zeug herumgelegen hat und wo es hingekommen ist. Das gleiche gilt für ganze Arsenale von Nuklear­spreng­köpfen. Es fehlt nicht an Staaten, die sich brennend dafür interessieren — und die auch über genügend Geld verfügen, um es zu erwerben. Ein Trost bleibt: Für die gröbsten Kaliber benötigt man zusätzlich eine inter­kontinentale Trägerrakete — und diese läßt sich nicht so leicht verstecken.

Vor zehn Jahren mußte einer noch über gewisse Grundkenntnisse in Chemie und Physik verfügen, um einen Atomsprengsatz, eine Briefbombe oder eine Giftgasgranate herstellen zu können. Heute flattern die Bastel­anleitungen wie Kochrezepte durch den Cyberspace. Man muß nur noch lesen und schreiben können, wenn man einen Massenmord begehen will. Der Bösewicht aus dem James-Bond-Film hat ausgedient. Die Realität hat ihn überholt.

    Massenmord als Kommunikationsform 

Timothy McVeigh ist ein breitschultriger, sportlich durchtrainierter, ansonsten aber eher unauffälliger junger Amerikaner. Er schlägt sich mit manchmal etwas zweifelharten Geschäften mehr schlecht als recht durchs Leben. Sein Hauptinteresse gilt Waffen. Und er hegt einen abgrundtiefen Haß auf den Staat und die Regierung, die die Freiheit des einzelnen immer mehr einschränken.  

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Im September 1994, nur Tage nach Inkrafttreten eines von Präsident Clinton verabschiedeten Gesetzes zur Ein­schränkung des Waffenbesitzes, kauft er erstmals 40 Säcke Düngemittel Ammoniumnitrat zu je 50 Pfund. Am 19. April 1995 explodiert in Oklahoma City vor einem neunstöckigen Behördengebäude in einem Transporter eine zwei Tonnen schwere, aus Ammoniumnitrat, Diesel und Rennwagenkraftstoff gebaute Bombe — morgens um 9 Uhr. 168 Menschen sind tot, 500 zum Teil schwer verletzt. Das Gebäude ist abbruch­reif. 

Nach Aussagen von Polizeipsychologen ist Timothy Veigh ein typischer Vertreter einer Gruppe von Serienmördern und Terroristen mit folgendem Täterprofil: "Antisoziale, asexuelle, zurück­gezogene Einzelgänger aus Problemfamilien, die schon früh im Leben die Erfahrung gemacht haben, Versager zu sein." Die Tat ist ihr Weg aus der Anonymität und aus der Bedeutungs­losigkeit; ihr Weg des Protestes gegen die ganze Gesellschaft; ihre Form der Kommunikation.

Wer einen Terroranschlag verübt, will Aufmerksamkeit erregen. Massenmord ist dazu bestens geeignet. Entscheidend ist einzig und allein die erzeugte Signalwirkung. Daß dabei Menschen umkommen, ist lediglich Mittel zum Zweck. Terror ist, wie der Krieg, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Und dies ist die Konsequenz: Es sind immer häufiger völlig Unbeteiligte, die in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie haben niemandem etwas getan. Ihr Tod ist reiner Zufall.

In einer belebten Pariser Straße geht vor einem Restaurant eine Bombe hoch, viele Passanten bleiben tot oder schwerverletzt liegen; in Deutschland zünden rechtsextreme Jugendliche spät nachts ein Asylantenheim an, alle Bewohner kommen in den Flammen ums Leben; in Ägypten dringen Terroristen in die Tempel von Luxor ein und massakrieren 68 Touristen, welche die historische Stätte besichtigen wollten; in der U-Bahn von Tokio verüben Mitglieder einer Sekte einen Giftgasanschlag, zwölf Menschen sind tot, 5000 verletzt, viele tragen bleibende Schäden davon, nur durch Zufall kann eine noch viel größere Katastrophe verhindert werden; in Algerien erstechen und erschlagen militante Islamisten in mehreren Dörfern innerhalb von 10 Tagen 400 Männer, Frauen und Kinder. Die Grenzen zwischen simplem Mord und Genozid an der eigenen Bevölkerung haben begonnen, sich zu verwischen.

 wikipe  Timothy McVeigh (*1968)      wikipedia  Anders Breivik (*1979) 

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   Der Staat als Terrorist  

Alles nur verschrobene Individuen, irregeleitete Sektenmitglieder, fanatisierte politische Extremisten? Weit gefehlt. Der Terror­ismus wird von einzelnen Staaten bewußt gefördert und gezielt finanziert. Im Rahmen der Hilfe zur Selbsthilfe werden Ausbild­ungs­camps, Operations­basen, Waffen und militärische Berater zur Verfügung gestellt. Und manchmal wird der Staat selbst zum Meuchel­mörder.

Salman Rushdie ist ein britisch-indischer Schriftsteller. Ende der 80er Jahre veröffentlicht er ein kleines Büchlein mit dem Titel <Die satanischen Verse>, welches den Zorn des iranischen Staatsoberhauptes, Ayatollah Khomeini, erregt. Nicht etwa, daß darin der Iran angegriffen würde. Es geht um religiöse Fragen — um Fragen der Interpretation des Korans. Salman Rushdie wird offiziell aufgefordert, seine Schrift öffentlich zu widerrufen. Als er dies nicht tut, erteilt Khomeini kurzerhand den Befehl zur Ermordung des unflätigen Schreiberlings. Ein Kopfgeld wird ausgesetzt. Salman Rushdie muß untertauchen.

Zur Zeit, da dieses Buch geschrieben wird, lebt Rushdie noch, Khomeini nicht mehr. Die Prämie auf den Kopf von Rushdie ist 1997 von den im Iran herrsch­enden Mullahs um 500.000 Dollar auf 2,5 Millionen US-Dollar erhöht worden. Doch inzwischen hat ein anderer Skandal Schlagzeilen gemacht. 1994 waren in einem deutschen Restaurant namens Mykonos vier iranische Oppositions­politiker von einem Killerkommando massakriert worden. Die Unter­suchung hatte Jahre gedauert. Doch im Frühjahr 1997 wird das sogenannte "Mykonos"-Urteil verkündet: Es hatte sich um einen staatlich angeordneten Auftragsmord des iranischen Regimes gehandelt.

Der Iran ist hier nur als Beispiel zitiert. Allein die Beschreibung aller Gewalttaten, welche die amerikanische CIA, das russische KGB und der israelische Mossad auf fremden Territorien organisiert haben, würde Bände füllen. In vielen Staaten gehören Folter und Mord zum alltäglichen Instrumentarium der Unter­drückung und der Machtausübung. Was wir als "Menschenrechte" bezeichnen, wird weltweit mit Füßen getreten. Doch das kümmert nur exotische Organisationen wie etwa Amnesty International. Unsere Politik wird davon in keiner Weise tangiert. Eine vorübergehende Abkühlung der diplomatischen Beziehungen ist das Gröbste, wozu man sich da entschließen mag. Denn wir machen mit diesen Ländern gute Geschäfte. Und das soll auch so bleiben. Bei den Taten des iranischen Mullah-Regimes, so das deutsche Bundeskriminalamt, "handelt es sich um Organisierte Kriminalität höchster Ausprägung". Den Außenminister hat dies nicht angefochten: "Ein so großes und wichtiges Land kann nicht isoliert in die Ecke gestellt werden."

   wikipedia  Salman_Rushdie  (*1947)   130


   Das neue Gesicht des Krieges  

Es ist seinerzeit alles ganz präzise vorausgesagt worden: Die Zukunft gehört nicht den großen, Kontinente in Schutt und Asche legenden Kriegen, sondern dem lokalen Konflikt. Die Zukunft gehört dem Bürgerkrieg. Religiöse, ethnische, wirtschaftliche oder auch kriminelle Konflikte werden zu immer zahlreicheren, aber regional begrenzten Kriegen führen. 

Es ist nicht von heute auf morgen so gekommen — aber heute ist es soweit. In der ersten Hälfte der 90er Jahre kam es weltweit insgesamt zu 82 größeren blutigen Konflikten — gerade drei davon zwischen verfeindeten Staaten. Und was wir in der zweiten Hälfte der 90er Jahre bisher gesehen haben — etwa in Bosnien, Tschetschenien, Albanien, Ruanda oder Zaire — ergibt kein anderes Bild.

Jeder mit Waffen ausgetragene Konflikt hat seine Geschichte. Sie reicht manchmal weit in die Vergangenheit zurück. Niemand mag mit einem Bürgerkrieg gerechnet haben — aber wenn er ausbricht, findet man immer Wurzeln: unüberbrückbare kulturelle oder religiöse Gegensätze, soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeiten, ungleich verteilte Ressourcen, rivalisierende Macht­ansprüche. Doch warum kommt es — nach Jahren und Jahrzehnten — gerade jetzt zur blutigen Auseinandersetzung? Warum haben sich die regional begrenzten Konflikte derart vervielfältigt?

Die latenten Spannungen und Interessengegensätze sind das eine — die Möglichkeit, sie mit Waffen auszu­tragen, das andere. Die Rahmen­bedingungen haben sich grundlegend verändert. Wir leben im Zeitalter des Zerfalls staatlicher Ordnungen. Hoffnungslos überforderte parlamentarische Demokratien, die systemat­ische Ausbeutung und Plünderung ganzer Völker durch Diktatoren und ihre Clans, unfähige Regierungen, zerstrittene politische Parteien, korrupte Behörden — all dies führt zu politischer Instabilität, zu Revolutionen und zu Umstürzen. Doch in neun von zehn Fällen wechseln nur die Machthaber — die Zustände bleiben. "Plus ca change, plus c'est la meme chose", lautet eine alte französische Lebensweisheit — zu deutsch: Je mehr sich ändert, desto mehr bleibt alles beim alten.

Jeder, der über genügend Geld verfügt, kann alles kaufen, was gebraucht wird, um Krieg zu führen — und jeder, der Krieg führt, findet einen oder mehrere, die ihn finanziell unterstützen. Dazu kommt: Immer mehr Menschen haben nichts mehr zu verlieren — und immer mehr Menschen haben immer geringere Hemm­schwellen, gewalttätig zu werden. Gestaute Aggressionen warten förmlich darauf, abgerufen zu werden. Viele suchen nachgerade eine Gelegenheit, Gewalt anzuwenden. Sie wollen ganz einfach kämpfen — gegen wen, ist letztlich von untergeordneter Bedeutung.

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90 % der Korsen möchten unter gar keinen Umständen, daß ihre Insel von Frankreich getrennt wird — nicht zuletzt, weil sie wissen, wieviel Geld der französische Staat jedes Jahr für sie ausgibt. Die Heimat Napoleon Bonapartes ist eines der ärmsten Departements Frankreichs. Mit der Verselbständigung würde das gesamte Sozialnetz schlagartig wegfallen. Doch das kümmert die Separatisten einen Dreck. Seit zehn Jahren führen sie einen Guerillakrieg gegen Frankreich. Sie zünden die Häuser von Kontinentalfranzosen und Ausländern an, sie sprengen offizielle Gebäude in die Luft, sie erschießen aus dem Hinterhalt Polizisten und Soldaten. Sie machen gar mit der Mafia gemeinsame Sache. Und fühlen sich auch noch als die Freiheitshelden von Korsika. Ähnliche Phänomene sind im Baskenland, in Irland und in vielen anderen Gegenden dieser Welt zu beobachten.

Wir müssen Abschied nehmen von der Vorstellung, jeder Krieg sei die Folge existentieller Konflikte. Immer häufiger ist es genau umgekehrt: Ganz normale Meinungs­verschiedenheiten werden zum historischen Konflikt hochstilisiert und als Feigenblatt heran­gezogen, um einen Krieg, auf dem eine kleine Gruppe ihr Süppchen kocht, nach außen zu legitimieren. Die Not, die Unzufriedenheit und das Aggressionspotential haben weltweit zugenommen. Vor allem aber: Die gesellschaftlichen Ordnungen — die sozialen Werte und die staatliche Autorität — kollabieren. Es ist ein Kinder­spiel geworden, einen kleinen Krieg anzuzetteln.

    Gelernt ist gelernt  

"Ist dies hier ein Stammeskrieg?" — "Nein." — In Sierra Leone, einem vom Bürgerkrieg ausgezehrten Land, in einem Gebiet, in dem laufend Zivilisten massakriert werden, befragt ein Fernsehreporter einen Offizier der kämpfenden Truppe: "Ist es ein Krieg zwischen ethnischen Gruppen?" — "Nein." — "Ist es ein Religions­krieg?" — "Nein." — "Eine postkoloniale Auseinandersetzung, ein Befreiungskrieg?" — "Nein." — "Ist es ein Wirt­schafts­krieg?" — "Nein." — "Was ist es dann?" — "Das weiß hier niemand. Das werden Ihnen auch die Rebellen nicht sagen können. Der Krieg hat sich verselbständigt." — Die marodierenden Horden haben sich an ihre Waffen, an das Vergewaltigen und an das Töten gewöhnt. Ihr Feind ist, wer ihnen Wider­stand entgegen­setzt — und erst recht, wer ihnen ihre Waffen wegnehmen will. Krieg ist noch nicht einmal ihr Geschäft. Er ist ihre Lebensart geworden.

In Kolumbien werden mit Kokain pro Jahr 100 Milliarden Dollar erwirtschaftet. Doch der Drogenhandel ist ein blutiges Geschäft. Allein in Medellin werden im Durchschnitt pro Tag 20 Menschen ermordet. Es gibt in dieser Stadt 5000 Sicarios, Jugendliche, die sich für Auftragsmorde anheuern lassen. Die Preisspanne reicht von 200 bis 400 Dollar pro Kontrakt. Man kann mit diesen Kindern und Jünglingen ganz offen über ihr Geschäft reden. Sie geben völlig unbefangen Auskunft über die Tarife sowie über die Arbeitsmethoden. Sie kennen weder ihre Auftraggeber noch ihre Opfer. Sie erhalten einen Auftrag, führen ihn aus und kassieren. Keiner rechnet damit, lange zu leben. "Ich wüßte nicht, von was ich hier sonst leben sollte", sagt einer, "ich werde ohnehin nicht alt werden. Aber solange ich noch da bin, will ich etwas vom Leben haben."

Ähnlich äußert sich ein Mitglied der russischen Mafia in Moskau — ein gut angezogener, jüngerer Mann unterer Kaderstufe, der schon eine ganze Menge Leute ins Jenseits befördert hat: "Das ist nun mal mein Beruf. Ich habe nichts anderes gelernt. Und ich lebe gut. Ich würde mich eher umbringen, als so zu leben wie all diese Sklaven, die tagein, tagaus von morgens bis abends in einer Fabrik oder in einem Büro irgendeine völlig idiotische Arbeit ausführen und dabei auch noch halb verhungern."

Auch dies gehört zur Banalität des Bösen: Wer nichts anderes als Gewalt gelernt hat, kann und will nichts anderes mehr tun. Viele Vietnam-Veteranen sind Söldner geworden, nicht wenige haben in der organisierten Kriminalität Karriere gemacht. Die Spezialisten und Kader des ostdeutschen Staats­sicher­heits­dienstes, des KGB und anderer früherer Geheimdienstorganisationen — wo sind sie alle geblieben?

Die einen haben sich zur Ruhe gesetzt und leben von den Millionen, die sie ihrem Volk gestohlen und rechtzeitig ins Ausland geschafft hatten. Die anderen haben die Stelle gewechselt. Sie haben in der Russenmafia und in anderen weltweit agierenden Verbrecher­kartellen eine neue berufliche Heimat gefunden. Der Know-how-Zufluß hat dort zu einer Professionalität geführt, die alles bisher Gesehene in den Schatten stellt. Ihr ist keine Polizei, kein FBI und keine Interpol mehr gewachsen. 

Begriffe wie <Strukturelle Gewalt> oder <No-Future-Generation> sind in unserer saturierten Gesellschaft jahrzehntelang als leere Parolen linker Ideologen abqualifiziert worden. Man hat sich gar nicht erst die Mühe gemacht, einen ernsthaften Gedanken daran zu verschwenden. Jetzt wird uns die Quittung präsentiert.

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Christoph Lauterburg  1998