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3   Die Urhorde 

 

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   Gesellschaft der Mütter 

Ob man es als Mann in einer patriarchalischen Gesellschaft gerne hört oder nicht: Die Entstehung unserer Art, insbesondere unsere Kulturfähigkeit, ist im wesentlichen das Werk der Frauen. Wir haben Grund zu folgenden Annahmen:

Die frühen Hominiden lebten aller Wahrscheinlichkeit nach in matriarchalischen Rudeln oder Sippen. Der Kern des sozialen Gefüges war eine Mutter mit ihrem Kind. Mehrere Mütter mit ihren Kindern haben, je nach Verhält­nissen, kleinere oder etwas größere Gruppen gebildet. Die Frauen waren die aktiven Gruppen­mit­glieder. Sie haben ihre Kinder mit Nahrung versorgt, betreut, beschützt und unterrichtet. Die Frauen innerhalb einer Sippe haben untereinander ein soziales Netzwerk gebildet. Sie haben die Sippe nach außen gemeinsam verteidigt. Sie waren die "wichtigen" Individuen in der Gruppe. Sie gaben den Ton an.

Die Männer haben im wesentlichen sich selbst versorgt und waren im übrigen dazu da, als Samenspender Nach­wuchs zeugen zu helfen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß es damals bereits zur Bildung von stabilen Familien - Vater, Mutter und Kind - gekommen ist. Es gab auch noch keine Jagd, und schon gar nicht eine Rudeljagd, durch welche die Männer sich als besonders nützlich und wertvoll hätten erweisen können. Wahr­schein­lich waren sie teilweise sogar Einzelgänger. Viele von ihnen mußten ohnehin auf der Suche nach Sexualpartnern die Sippe verlassen, in der sie aufgewachsen waren. Die Sippen waren zu klein, um genügend vielfältige Paarungs­möglichkeiten und eine genügende Durchmischung der Gene zu gewährleisten.

Zweierlei hat die Menschheit in ihrer Entwicklung entscheidend vorangebracht — und bei beidem haben die Frauen die ent­scheidende Rolle gespielt. 

Erstens, die "Erfindung" des Sammelns: das Zusammentragen und Mitführen von Eßbarem — die Urform der Vorratshaltung. Dies war eine gewaltige Innovation gegenüber dem bisher üblichen, sofortigen Verzehr gefundener Nahrung vor Ort. Es waren mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit die Frauen, denen diese Errungenschaft zu verdanken ist, denn sie mußten nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Kinder sorgen und Nahrung beschaffen. 

Zweitens: Im Gegensatz zur landläufigen Meinung, daß ausschließlich Größe und Stärke der Männer den Frauen imponierten, haben die Frauen ihre männlichen Sexualpartner auch nach anderen Kriterien ausgewählt. Sie haben sich für Männer entschieden, die bereit waren, Nahrung zu teilen; Männer, welche die Kinder nicht vertrieben, sondern eventuell beschützen halfen; und die der Frau gegenüber auch dann ein gewisses Interesse zeigten, wenn es nicht gerade ums Kopulieren ging. Die Frauen haben durch ihre Partnerwahl dafür gesorgt, daß Männer mit besonders günstigen Anlagen für die Entwicklung sozialer Intelligenz ihre Gene weitergeben konnten. 

Die Frauen hatten damals die höher entwickelte soziale Intelligenz. Und sie haben sie noch heute.

  Jäger und Sammlerinnen 

Erst verhältnismäßig spät, vielleicht vor zwei oder zweieinhalb Millionen Jahren, bahnte sich der gesell­schaft­liche Umbruch an. Es kam zur Bildung von Familien innerhalb der Horden sowie zur Rudeljagd. Sowohl die Bildung stabiler Familien als auch die gemeinsame Jagd waren nur möglich, nachdem die Männer höhere kommunikative und soziale Fähigkeiten entwickelt hatten.

Dieser Umbruch hatte eine Reihe von Konsequenzen. Die Menschen kamen jetzt häufiger, viele sogar regelmäßig zu hoch­wertiger, eiweißreicher Nahrung. Dies hat die weitere Ausgestaltung und Anpassung sowohl des Bewegungs­apparates als auch des Gehirns entscheidend gefördert. Es bildete sich eine Arbeitsteilung unter den Geschlechtern heraus. Jagd und Verteidigung war mehr und mehr Sache der Männer, die Frauen haben Eßbares und Brauchbares gesammelt und die Kinder betreut.

Durch die Übernahme derart wichtiger und im übrigen gefährlicher Aufgaben im Dienste der Allgemeinheit, haben die Männer einen immer höheren sozialen Status erworben. Neben dem Sichern des Revieres und der Verteidigung der Gruppe nach außen war das wertvollste zweifellos die Beschaffung von Fleisch. Fleisch war, wie der Forscher Richard Leakey es einmal ausdrückte, die "harte Währung" der damaligen Zeit. Wer die hochwertige Hauptnahrung beschaffte, erwarb sich hohes soziales Ansehen. Es sind wahrscheinlich solche Faktoren, die im Laufe der Zeit zu patriarchalischen Strukturen menschlicher Gesellschaften geführt haben. 

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   Die Horde und der Stamm 

Ob beim Tier oder beim Menschen: Das Zusammenleben in einer Gruppe stellt hohe Anforderungen an die Kommu­nikations­fähigkeit der Mitglieder. Der zentrale Erfolgsfaktor heißt Vertrauen

Jedes Gruppen­mitglied kennt jedes andere persönlich. Tiere, die in Rudeln leben, geben sich zwar keine Namen, aber sie erkennen und behandeln sich wechselseitig als Individuen. Alle wissen genau, wer zur Gruppe gehört und wer nicht. Fremde werden von weitem erkannt — am Aussehen, am Geruch, an den Bewegungen. Der Zusammenhalt innerhalb der Gruppe und die Stärke der Gemeinschaft nach außen beruht auf einem tiefen Gefühl der Zusammengehörigkeit und des Vertrauens. Man weiß, daß man sich aufeinander verlassen kann. 

Persönliches Vertrauen aber muß gepflegt werden. Es entsteht durch regelmäßige, intensive Kommunikation. Dialog ist die Grundlage erfolgreichen Zusammenlebens — im Tierreich genau so wie bei uns Menschen.

Die Notwendigkeit stabiler, intensiv gepflegter persönlicher Beziehungen ist aber gleichzeitig ein limitierender Faktor. Sie setzt bezüglich der Größe erfolgreicher Gruppen verhältnismäßig enge Grenzen. Sobald eine Gruppe eine gewisse Größe erreicht, wird es für ihre Mitglieder immer schwieriger, zu allen anderen vertrauensvolle Beziehungen zu unterhalten. Wenn eine Elefantenherde immer größer wird, kommt es irgendwann zu Reibereien, Rangeleien und Streitereien. Die Gruppe wird in ihrer Funktions­fähigkeit beeinträchtigt, mit der Zeit gelähmt. Sie bricht auseinander — in zwei oder drei Teile, die ihrerseits nun wieder klein genug sind, um eine funktionsfähige Gemeinschaft zu bilden. 

So ist es nicht nur bei den Elefanten, den Wölfen und anderen in Rudeln lebenden Tieren. So war es auch bei den Hominiden.

Die menschlichen Urvölker haben immer in Rudeln, Horden oder Sippen gelebt, in verhältnismäßig kleinen, über­schau­baren Überlebens­gemein­schaften. Diese funktionierten wie eine Großfamilie. Die Urhorde bestand in der Regel aus 15 bis 25 Individuen. Manchmal war eine Horde auch etwas größer — 30, 40 oder 50 Individuen. Aber das war bereits die Ausnahme.

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In einer so kleinen Gemeinschaft läßt sich aber das demographische Gleichgewicht kaum dauerhaft aufrecht­erhalten. Mal sterben zu viele, die Gruppe fällt unter die kritische Größe. Mal läßt ein Geburtenüberschuß die Gruppe zu groß werden. Mal werden zufälligerweise fast nur Jungen oder lauter Mädchen geboren, und schon klappt es nicht mehr mit der Fortpflanzung. Unsere Vorfahren haben deshalb bereits früh gelernt, mit anderen Sippen ein lockeres, aber friedliches Netzwerk zu bilden. Mehrere Sippen mit gleicher oder ähnlicher Sprache und Kultur bildeten einen Stamm. Sexualpartner konnten dann außerhalb der eigenen Sippe gesucht und gefunden werden.

Aber die Anzahl der Horden oder Sippen, die friedlich miteinander kooperieren konnten, war begrenzt. Die Außen­beziehungen zu den einzelnen Nachbargruppen mußten gepflegt werden, damit das Vertrauen aufrecht­erhalten werden konnte. Man konnte aber nicht mit hundert anderen Gruppen intensive Beziehungen pflegen. Damit war die Größe der Stämme ebenfalls klar begrenzt. Ein großer Stamm umfaßte 20 oder äußerstenfalls 25 Sippen. 

Und nur wer zum Stamm gehörte, war ein "Freund" — ja mehr noch: Nur wer zum Stamm gehörte, wurde als "Mensch" wahrgenommen.

Wir sind von der Evolution dafür ausgestattet worden, in kleinen, überschaubaren Gemeinschaften zu leben und mit einer äußerst begrenzten Anzahl anderer Gruppen freund-nachbarliche Beziehungen zu pflegen — und auch dies nur, solange diese Nachbarn die gleiche Sprache sprechen und gleich oder ähnlich leben wie wir selbst. Auch das menschliche Gehirn — ein absolutes High-Tech-Produkt der Evolution — kann nur ein begrenztes Maß von Komplexität bewältigen.

  Kampf ums Überleben 

Der Mensch hat im Laufe der Evolution nicht nur gelernt, mit Artgenossen gefühlvolle Beziehungen aufzu­bauen, stabile Partner­schaften einzugehen und engste Gemeinschaften zu bilden. Er hat nicht nur die Fähigkeit zur Liebe, Zärtlichkeit, Fürsorge und Zusammenarbeit erworben. Er war gleichzeitig der brutalste Totschläger, den man sich vorstellen kann. Das Leben der Menschen war immer auch durch Haß und Aggression geprägt. Der Mensch hat sich seit seinen frühesten Anfängen durch eine besondere Brutalität sowohl gegen Tiere als auch gegen fremde Artgenossen ausgezeichnet. Und seit der Mensch Formen intelligenter Organisation gefunden hat, hat er auch Mord und Totschlag effizient organisiert. 

Wenn es in der Geschichte des Menschen Beispiele friedlichen Lebens gegeben hat, dann waren es vorübergehende Aus­nahme­erscheinungen; andere Hinweise beruhen auf Geschichtsfälschungen.

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Ob es uns paßt oder nicht: Wir sind nicht nur das sozialste, sondern auch das tückischste, rücksichts­loseste und brutalste Lebewesen auf diesem Planeten. Gewalt in allen nur denkbaren Formen — Kopfjagd, Kannibal­ismus, Folter, Blutrache, Vergewaltigung, Menschenraub und Massenmord — zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Menschheits­geschichte, von den frühesten Anfängen bis heute. Wenn Sie Mühe haben sollten, dies zu glauben, empfehle ich Ihnen ein besonders blutrünstiges Geschichtsbuch zum sorgfältigen und vorurteilslosen Studium — nämlich die Bibel, vorab das Alte Testament

Die Wirklichkeit war allerdings noch viel schlimmer, als die Bibel sie beschreibt. Die ursprünglichen Bibeltexte sind innerhalb der christlichen Kultur mehrmals redigiert und geschönt worden. Die Bibel, die Sie heute kaufen und lesen können, ist bereits ein jugendfrei zensiertes Werk. Aber soviel zeigt sie doch: Mord und Totschlag, Krieg und Unterwerfung gehören genauso zum spezifisch Menschlichen wie die Herstellung eines Werkzeugs oder das Malen eines Bildes. Der lateinische Spruch "homo homini lupus" hat es auf den Punkt gebracht — in freier Übersetzung: Der Mensch ist des Menschen ärgster Feind.

Die farbenprächtigen Fische, welche die Korallenriffe bevölkern, sind bekannt für ihre Revierverteidigung. Jeder beansprucht einen oder einige wenige Quadrat­meter Lebensraum, die er besetzt und gegen jeden Eindringling, insbesondere gegen Art­genossen, verteidigt. Der Sinn dieses Verhaltens: Die Fische verteilen sich einigermaßen gleichmäßig über das Riff. Nur so ist gewährleistet, daß möglichst viele Platz haben und Futter finden. Nur so kann die Art überleben.

Eine Sippe unserer Vorfahren benötigte größere Reviere, um genügend Nahrung zu finden — je nach Pflanzen­bestand sowie Art und Dichte der Fauna 20, 50 oder 100, in Dürregebieten bis zu 1000 Quadrat­kilometer. Revierüberschreitungen fremder Stämme und Gruppen waren gang und gäbe. Nicht überall war genug Nahrung vorhanden. Tierherden waren weitergezogen. Das Wasser war versiegt. Man mußte weiter­ziehen. Doch jeder fremde Eindringling wurde sofort verjagt — und wenn er sich nicht verjagen ließ, kam es zum Kampf. Dabei ging es für beide Seiten um Sein oder Nichtsein. Rücksichtnahme oder Mitleid gegenüber Fremden war ein Über­lebens­nachteil. Töten oder getötet werden, hieß die Devise. Wer raffinierter, hinterlistiger, aggressiver und brutaler kämpfte, hatte ein Revier und überlebte.

Die Köpfe von Feinden waren begehrte Trophäen. Feinde wurden verzehrt, sei es, um sie endgültig und zweifelsfrei zum Verschwinden zu bringen, sei es, um sich ihren Mut und ihre Kraft einzuverleiben. Ihre Populationen wurden oft ausgelöscht — mit Kind und Kegel totgeschlagen. 

Mit der Zeit sind die Methoden, sich auf Kosten anderer Menschengruppen Vorteile zu verschaffen, immer raffinierter geworden. Man hat gelernt, andere nicht einfach zu töten, sondern sie zu unterwerfen und auszubeuten. Kriege wurden geführt, nicht nur um Territorien zu besetzen, sondern um Sklaven zu gewinnen — Frauen als Sexualobjekte, Männer als Arbeitstiere.

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  Gewalt — ein Element der Gesellschaftsbildung 

Eines ist über die Jahrhunderttausende geblieben: Die Gefühllosigkeit und Brutalität gegenüber fremden Menschen, die Abstoßung des Andersartigen, die Hinterlist und die Tücke bei der Unterwerfung, Unter­drückung und Auslöschung anderer. Der Krieg in all seinen Formen und mit all seinen entsetzlichen Begleit­erscheinungen ist nicht irgendeine seltene, abartige Entgleisung menschlichen Verhaltens. Er ist vielmehr Teil unserer Entwicklungs­geschichte. Liebe nach innen und Haß nach außen haben uns über Jahrmillionen zu dem gemacht, was wir sind.

Es ist heute Mode, so zu tun, als wäre Gewalt von jeher reine Männersache gewesen — und als würden wir, wenn es nach den Frauen gegangen wäre, auf diesem Planeten alle miteinander in der friedlichsten aller Welten leben. Dies ist natürlich eine grandiose Augenwischerei. Die Rollenteilung zwischen den Geschlecht­ern, die sich bei unseren Vorfahren herausgebildet hat, bedeutet noch lange nicht, daß die Frauen Gewalt grundsätzlich abgelehnt hätten. Die Frauen haben zu allen Zeiten Gewalt gegen Fremde und Andersartige nicht etwa widerwillig hingenommen, sondern beifällig unterstützt. Die Frauen waren zu allen Zeiten die Erzieherinnen des männlichen Nachwuchses zu Helden, Beschützern und Eroberern. In der freien Natur, in der Gewalt allgegen­wärtig ist, hätten die Frauen auch gar nicht überlebt, wenn die Horde nicht von gewalt­bereiten Männern verteidigt und beschützt worden wäre.

Gewalttätige Rituale — Menschenopfer, Kannibalismus, Folterungen sowie Pogrome gegen Minderheiten — waren zu allen Zeiten wichtige Elemente der Gesellschafts­bildung. Die Abfuhr von Aggression nach außen war unumgänglich, um den Zusammenhalt nach innen zu gewährleisten. Wo vorhanden, wurden zu diesem Zwecke Feinde gesucht, verfolgt und getötet. Wenn keine äußeren Feinde verfügbar waren, richtete sich die Gewalt immer wieder auch nach innen. In menschlichen Kulturen, die isoliert lebten, waren rituelle Menschenopfer aus den eigenen Reihen das notwendige Ventil. 

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Und bis heute ist jeder, der Volksmassen hinter sich bringen will, als erstes darum bemüht, ein klares Feindbild aufzubauen, gegen das der Haß der Menschen gerichtet werden kann. Dann — und nur dann — lassen Menschen­massen sich nämlich problemlos führen.

Dieser Mechanismus hat mit männlich und weiblich wenig zu tun. Er ist ganz einfach menschlich. Er war es zu allen Zeiten und ist es noch heute. Wenn im alten Rom Menschen den Löwen zum Fraß vorgeworfen, wenn später Menschen durch den Strang öffentlich hingerichtet oder Hexen auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, haben nicht nur Männer zugesehen. Und wenn Sie in Spanien einem Stierkampf beiwohnen, werden Sie dort ebenfalls nicht nur Männer antreffen.

Die Frauen übernehmen bei der Entwicklung von Gewalt in unserer Kultur eine ganz spezifische Rolle. Wer hier Anschauungs­unterricht sucht, findet ihn bei der Entwicklung von Gewalt unter den Jugendlichen. Besonders gewalttätige junge Männer haben fast durchweg eine feste Freundin und häufig auch noch eine umfangreiche weibliche Fangemeinde um sich versammelt. Nicht gewalttätige Kollegen dagegen müssen allzu häufig als Mobbing-Opfer herhalten. Da muß man schon erhebliche geistige Verrenkungen bewerkstelligen, um die These aufrechtzuerhalten, Gewalt sei eine einseitig männliche Angelegenheit. Aber dieses Thema ist in unserer Gesellschaft tabuisiert.

Daß Frauen weit weniger als Männer zu aktiver, physischer Gewalt neigen, und daß Frauen, wenn wir eine weniger gewalttätige Gesellschaft haben wollten, mehr Einfluß gewinnen müßten, steht auf einem anderen Blatt. Aber eine solche Entwicklung beginnt nicht mit simplen Clichés. Gewalt war immer ein wesentlicher Bestandteil menschlicher Kulturen — und menschliche Kulturen sind immer von beiden Geschlechtern, wenn auch mit verteilten Rollen, gestaltet worden. Der Sache des Friedens wäre besser gedient, wenn wir versuchen würden, die Entstehung von Aggression und Gewalt im sozialen Gesamt­zusammenhang zu verstehen.

  Im Einklang mit der Natur 

Der Mensch ist auch nicht erst in den letzten hundert Jahren zum rücksichtslosen Zerstörer seiner Umwelt geworden. Bereits die frühen Menschen haben mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, Raubbau betrieben. Sie haben riesige Tierherden dezimiert oder ausgelöscht, nur um vielleicht ein paar Tierkadaver zu verwerten. Manch eine menschliche Population ist verhungert, weil sie ihre eigenen Lebensgrundlagen fahrlässig aufs Spiel gesetzt hat.

Trotzdem lebten die Menschen über Jahrmillionen und bis noch vor ganz kurzer Zeit im Einklang mit der Natur. Die techno­logischen Möglichkeiten der Menschen und ihr Aktionsradius waren trotz allem sehr begrenzt. Einzelne Menschengruppen fanden zwar mal hier und mal da vorübergehend einen Überfluß an Wasser und Nahrung. Aber insgesamt mußte man für das eigene Überleben ununterbrochen hart arbeiten — und meistens sehr weit laufen.

Vor allem aber: Es gab niemals so viele Menschen, daß diese auch nur im entferntesten in der Lage gewesen wären, der Natur irgendeinen ins Gewicht fallenden Schaden zuzufügen. Eine Sippe von zwanzig Menschen bevölkerte den Großraum Berlin. In Europa gab es zeitweise nur zehn- bis zwanzigtausend Menschen. Die Weltbevölkerung betrug rund ein Sechstausendstel dessen, was sich heute auf diesem Planeten tummelt. Von jedem größeren Säugetier - ob Pferd, Hirsch, Büffel oder Elefant - gab es hundert- oder tausendmal so viele wie Menschen. Es hat nie ein Lebewesen gegeben, das so große Gebiete so dünn besiedelte wie der Mensch.

Der Mensch war im damaligen ökologischen System eine Randerscheinung, die es halt auch gab, aber die nicht den geringsten Einfluß nehmen konnte auf das Gesamtgeschehen in der Natur. Wären grüne Männchen vom Mars zu Besuch auf die Erde gekommen, wäre es ein großer Zufall gewesen, wenn sie überhaupt einen Menschen zu Gesicht bekommen hätten.

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Christoph Lauterburg  1998