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Kunert-2018

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Der moderne Hund ist vernetzt
BERLIN  - Lange Leine und Freilauf waren gestern, der moderne Hund hat Internetanschluss - oder zumindest Bluetooth. Jedenfalls, wenn es nach der Acer-Marke Pawbo geht. Sie zeigt auf der IFA vernetzte Wearables fü
r Hunde.
Das »Pawbo Wag Tag« ist ein am Halsband getragener Kleincomputer. Das Gerät bestimmt mit GPS, Funkmastpeilung, W-Lan und UMTS den Standort des Hundes. Eingebaute Mikrofone sprechen auf abnormale Geräusche des Vierbeiners an. Ein Aufprallsensor erkennt Unfälle. Ein weiterer Aktivitäts-Tracker, der »Pawbo iPuppyGo«, ermittelt Bewegungsdaten des Hundes und sendet sie via Bluetooth an ein verbundenes Smartphone. Erfasst wer
den Schlafzeiten, Bewegung oder Laune. Auch das Füttern des Hundes können Halter nun per Smartphone erledigen. Dafür sorgt ein Futterautomat namens »Munch«, der auf Wunsch Snacks in einer Schublade ausgibt.
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Warum soll es dem Hund besser gehen als uns armen Schweinen. So vernetzt wie Bello sind wir längst und jederzeit durch unser Handy in der Jackentasche aufspürbar. Aber man weiß nicht nur über unsere Aufenthaltsorte Bescheid, sondern auch über unsere Essgewohnheiten, da wir uns von Versandhäusern außer Kleidung auch das Mittagessen oder die Getränke bringen lassen. Bei diesen unsichtbaren Läden stecken wir wehrlos im Computer, ebenso auf unserer Bank, die unsere Zahlungsfähigkeit über lange Zeiträume speichert. Der Titel eines (übrigens schwachen) Science-Fiction-Films, »Wir sind nicht allein«, ist auf andere, bedrückendere Weise längst Realität geworden, bloß sind die Aliens wir selber, sind alle Dienstleister, sind die Wächter über unsere Gesundheit, über unsere Harmlosigkeit, über unseren Lebenslauf. Abweichendes Verhalten wird irgendwo, von irgendeiner Stelle, von irgendeinem Apparat registriert. Orwells »Big Brother«, der unser Tun und Treiben überwacht, ist die Ausgeburt unserer Tüchtigkeit und Erfindungsgabe. Was wir heute beklagen, haben wir gestern selber geschaffen und sind noch lange nicht am Ende mit den Innovationen, den Mitteln unserer »Vernetzung«, sodass wir, Bello gleichend, nichts anderes können, als unsere selbstverursachte Gefangenschaft zu akzeptieren, wollen wir nicht als Streuner irgendwo in Absonderung vegetieren.

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Die meisten Toten durch Schusswaffen wurden nicht bei Amokläufen oder Schießereien getötet, sondern bei Einzelereignissen und bei Selbstmorden. Im Jahr 2014 kamen in den Vereinigten Staaten insgesamt 33.000 Menschen durch Schusswaffen ums Leben, ein Vielfaches der Zahl der Todesopfer von mass shootings. Laut dem Human-Development-Index aus dem Jahr 2012 kommen auf eine Million Amerikaner 29,7 Morde mit Schusswaffen. In der Schweiz waren es 7,7, in Deutschland 1,9.

Vor mehr als zwanzig Jahren erschien ein Buch mit dem Titel »Der tägliche Faschismus«, das nichts weiter enthielt als Zeitungsnachrichten über beabsichtigte und unbeabsichtigte Tötungen, Autor war der heute nahezu vergessene Reinhard Lettau. Lettau hatte eine Professur in San Diego (USA), ist also an der Quelle des Unheils gewesen; das Buch wurde in W-Germany kaum gekauft, vermutlich des Titels wegen, der irreführend war, weil er anscheinend Spuren der deutschen Vergangenheit aufnahm. Aber es handelte einzig und allein über den Waffenwahn der Amerikaner. Daran hat sich in der langen Zeit seit Erscheinen des Buches bis heute nichts geändert: Die Schießwütigkeit hält an. Bei einer meiner Reisen durch das Land der unbegrenzten Mordmöglichkeiten erlebte ich selber, wie leicht man eine Pistole, ein Gewehr, gar eine Maschinenpistole kaufen konnte. Es existierten keine Beschränkungen, in jeder Kleinstadt befanden sich Läden mit einem umfänglichen Angebot an Tatwerkzeugen, sodass man sich fragte, woher wohl der erstaunliche Bedarf kommen mochte, dass so viele Geschäfte Entsprechendes anboten.

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Man hört da die Erklärung, bei dieser Waffensucht handele es sich um ein Erbe aus der Zeit des Wilden Westens, da jeder auf Selbstverteidigung angewiesen gewesen war, doch das scheint mir nicht den Kern der bedenklichen Vorliebe zu treffen. Eher, so meine ich, steckt hinter dem Griff zum Revolver eine unausgesprochene verheimlichte Angst von Menschen, die sich in ihrem Lande nicht sicher fühlen. Man ist notfalls nicht wehrlos einem Raubüberfall, einem Angriff ausgeliefert. Es kommt nur darauf an, zuerst »zu ziehen«, als erster die Waffe parat zu haben, wie man es aus zahllosen Western und Gangsterfilmen kennt. Und noch ein unheimliches Moment kommt wohl hinzu: Man kann in auswegloser Lage, im Zustand völliger Verzweiflung, einfach mit dem Unerträglichen Schluss machen. Was das Ende der Amokläufer beweist, die nach der Tat sich meist der Strafe entziehen. Mit Gashahn ist auch nix, für den Strick bedarf es einigen Mutes, sich Gift zu beschaffen, höchst kompliziert - da bietet die leichte Krümmung des Zeigefingers am Drücker den schnellsten und sichersten Ausweg.

Ein Zustand durchdringender Angst, da ich in einem fremden Zimmer saß, neben mir eine ältere Frau von unangenehmem Typus, während vor dem Haus, wie ich wusste, eine Bande von Rowdys mich erwartete, um mich totzuschlagen. Die Frau streichelte mir die Wange, und ihr Trost verschärfte noch meine grauenvolle Furcht. Sie sagte in freundlichem Ton, dass es nur am Anfang wehtue, bald würde ich dann nichts mehr spüren. Ich war gelähmt, der ganze Körper erschlaffte und war durchdrungen von Entsetzen. Und diese Frau, so beiläufig mir mein gewaltsames Ende verkündend, lächelte mich an.

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Als wäre alles nur ein Scherz, wobei ich doch wusste, dass ich nun gleich vor der Haustür Fürchterliches erleben müsste. Wie seit langem nicht, war ich froh, aufwachen zu dürfen, doch der Traum ging mir nach und schien mir eine Erinnerung an die Lektüre von Berichten über den sich austobenden Blutrausch der Nazis in der Kristallnacht 1938 zu sein. Uns anscheinend geruhsam Lebende umgibt doch eine Flut von Grausamkeit, von der wir inständig hoffen, dass sie nicht bis an unsere Insel der Seligen reichen möge.

Heute meldet die FAZ einen besonderen Unfall: Das erste selbstfahrende Roboterauto hat eine Fußgängerin getötet. Mich verwundert die Verwunderung der Kommentatoren. Die Geschichte hat uns doch bisher ständig gelehrt, dass jede technische Neuerung ihren Preis hat, entsprechend der in ihr entfesselten Energien. Nun ist höhnisch von der »schönen, neuen Welt« die Rede, als lägen nicht im Schatten vieler Erfindungen auch die entsprechenden Friedhöfe. Gewöhnlich werden die Opfer des sogenannten Fortschritts mit der Formel »Opfer müssen eben gebracht werden« rasch vergessen. Was nun aber wäre das wirklich Bemerkenswerte an dieser heutigen Meldung? Der unerwartete, unüberlesbare Zweifel an besagtem Fortschritt überhaupt. Die ständigen Erfolgsmeldungen aus »Wissenschaft und Technik« schufen eine fatale, falsche Sicherheit, indem sie den Glauben verbreiteten, man beherrsche stets und jederzeit jedes maschinelle Novum. Was seit Monaten mit dem Anklang jetzt verwirklichter Utopie gepredigt wird, endlich werde mit dem Elektroauto Sicherheit in unsere

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Städte einkehren, hat durch die Realität einen ernsthaften Widerspruch erfahren. Es existiert kein »sicheres« Menschenwerk, denn in jedem steckt sein Erfinder und sein Nutzer, eben der besagte Mensch. Vor allen Dingen jedoch macht uns nun dieser Unfall darauf aufmerksam, was der Kontrollverlust über die Maschine in größerem Maßstabe bedeuten könnte. Wenn diese Sintflut von Autos in relativ kurzer Zeit elektrifiziert und roboteri-siert würde, man müsste unter dem Aspekt, dass auch Technik jeglicher Art altert und verschleißt, mit Gefahren auf der Straße rechnen. Ich erinnere mich, dass vor Beginn des Zweiten Weltkrieges die Meinung bestand, durch dieses Übermaß an militärischer Technik könne ein moderner Krieg nicht länger als vierzehn Tage dauern, werde also auch in der Zahl der Gefallenen unter der des ersten Krieges bleiben. Ein Wunschdenken und eine Selbsttäuschung erster Ordnung, doch beispielhaft für alle von Menschen hervorgebrachten Neuerungen, denen immer die Legende vorausging, sie würden zum Segen für die Allgemeinheit. Mit diesem Köhlerglauben sind wir immer wieder auf unsere Hoffnungsgläubigkeit hereingefallen. Nicht anders auch dieses Mal, da wir uns heimlich, still und leise unserer Verantwortung als Verursacher entziehen möchten. Doch der Ursprung, das ikarische Vertrauen in die eigene Schöpferkraft, lässt sich nicht leugnen.

Zur Entmündigung des Menschen in der modernen Gesellschaft gehören viele Innovationen technischer Art, die vorgeblich das Leben erleichtern sollen und dennoch durch ihre Komplexität Aufmerksamkeit und Interes-

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se des Nutzers binden. Wir tradieren noch immer den Traum aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, dass die Indienststellung technischer Errungenschaften eine zunehmend bessere, reichere, lebenswertere Gesellschaft hervorbringe. Bis zu dem Sündenfall Hiroshima und Nagasaki hatte dieser Irrtum bestanden. Da erst kehrte uns der Zauberlehrling seine wahre Seite zu: Was eine glücklichere Zukunft verspricht, ist zugleich die Gefährdung jeglicher Zukunft. Huxley und Orwell haben vorausgeahnt, wohin es geht, macht man sich auf den Weg in das erhoffte Morgen. Begleiter auf diesem Irrweg ist vor allem die Selbstbestimmtheit des Menschen, die als Ziel, wenn auch als etwas schwammiges, angenommen, erhofft und erwartet wurde. Abgelöst ist diese Erwartung durch die vollständige Unmündigkeit des Individuums und seine Unterwerfung unter die mehr und mehr zum Selbstläufer gewordene technische Entwicklung. Die Abhängigkeit zeigt sich immer dann, wenn die Me-gamaschine hakt oder ausfällt. Plötzlich stehen alle Räder still; obwohl »dein starker Arm« das gar nicht gewollt hat. Hilflosigkeit dominiert. Die Technik, die eigentliche Verursacherin der Pannen, wird zu Hilfe gerufen. Es muss, was sie verschuldet, von ihr auch wieder gerichtet werden. Das scheint gut zu gehen, doch lässt sich die Frage nicht unterdrücken, was würde sein, wenn das immer mühseligere Inganghalten des an Apparate gebundenen Daseins Fehlfunktionen nicht mehr korrigieren kann? Der Zusammenbruch einer Zivilisation brächte vielleicht den aller anderen mit zustande, weil die Vernetzung, von der immer die Rede ist, begrenzte Katastrophen zivilisatorischer Art gar nicht mehr zulässt. Wenn heute das Haus des Nachbarn brennt, sind auch die Nachbarn

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dem Feuer ausgesetzt. Das Menschheitshaus ist klein geworden.

Eine ganze Seite in der FAZ, die meine Sicht auf die Entwicklung der Welt nicht nur bestätigt, sondern sogar noch übertrifft. Die menschengemachte Katastrophe scheint unabwendbar. Bis 2050 Vermehrung der Gesamtbevölkerung auf nahezu zehn Milliarden Individuen bei gleichzeitiger Reduktion der bebaubaren Erdoberfläche. Überlegungen, wie dieser Bedrohung entgegengewirkt werden sollte, existieren nicht. Stattdessen verabschieden sich die USA aus dem globalen Klimaabkommen, um geschäftsträchtig die Umwelt weiter zu zerstören. Andere Schwellenländer und Halbstaaten sind mit Kriegführen beschäftigt oder mit ihrem Aufstieg in die obere Machtkampfliga (China). Sehenden Auges und mit zunehmender Geschwindigkeit bewegen wir uns auf das Endstadium der Menschheit zu. Vielleicht übersteht eine reduzierte Bevölkerung den von ihr selbst inszenierten und angezettelten Wahn; die Folgen dessen werden aber schlimm genug sein und alle bisherigen düsteren Utopien übertreffen. Und auf Wunder zu hoffen haben wir längst aufgegeben. Unsere Geschichte beweist, was für unsinnige Geschöpfe wir eigentlich sind. Es rettet uns kein höheres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun ... heißt es in der »Internationale«, und weiter, dass wir uns selber helfen müssten, aber das kann letztlich nur Sterbehilfe sein.

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Nun ist es schon Jahrzehnte her, dass ich in Mariefred an Kurt Tucholskys Grab stand, zu einem letzten Salut. Vorher war ich in Gripsholm gewesen, dem Handlungsort seines gleichnamigen Romans. Immer war der Himmel strahlend blau, immer die Luft sommerlich, immer ringsum erholsame Menschenleere. Wir waren miteinander allein. Er war einer meiner Sterne gewesen, da ich zu schreiben anfing.

Meine Mutter, im Buchhandel tätig, beschaffte mir antiquarisch sämtliche seiner Bände, in denen ich immer wieder las, aus denen ich anderen vorlas, vor allem Ilse Köhn, einer Mitschülerin an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin Weißensee. Wir liebten einander wie Bruder und Schwester und vollkommen fleischlos. Zwischen uns herrschte ein nie wieder erlebtes Einvernehmen, das wohl aus einer ähnlichen (nicht arischen) Biographie resultierte. Aber sie lebte in Westberlin, ich im Osten, was unweigerlich zu späterer Entfremdung führte. Sie ging nach Amerika, einmal sah ich noch ein Foto von ihr im »Spiegel« in einer Reihe mit anderen Mädchen. Kein Foto hilft mir beim Erinnern, doch ihr Gesicht mit den großen Augen (eine Spur Basedow) bleibt unvergessen, solange ich auch Tucholskys gedenken kann.

Der einzig tröstliche Gedanke war, dass er nicht den Nazis in die Hände gefallen ist: Sie hätten ihn zu Tode gemartert wie so viele Intellektuelle, denen sich die Schlägertypen geistig unterlegen fühlen. Auch in den KZs noch rächten sich die Täter für ihre eigene Debilität und intellektuelle Unterlegenheit an ihren meist klügeren Opfern. Diesem permanenten Massaker war Tucbo, wie ihn seine Freunde nannten, entkommen, doch die Verzweiflung des Emigranten, die Hoffnungslosigkeit und Aussichtslosigkeit, dass es mit dem Dritten Reich ein baldiges Ende nehmen werde, erwies sich auf andere Weise tödlich.

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Ich kann das gut nachempfinden. Weil ich ja unter Umständen aufwuchs, die eine Identifikation mit so etwas wie »Heimat« nicht zuließen. So lebte ich in einem stetig kleiner werdenden Menschenkreis, lebte in verbotenen Büchern, in Bildern und Geschichten von gestern, in einem seltsamen literarisch-politischen Nirwana, aus dem ich wohl nie gänzlich in eine Wirklichkeit zurückkehren konnte, die meinen Empfindungen, meinem Denken nur in geringem Maße entsprach. Einmal entfremdet reicht für immer.

Deutschland ist von einem gewaltigen Unheil betroffen worden. China nimmt uns unseren Müll nicht mehr ab. Wir sitzen im eigenen Dreck fest, halten uns die Nase zu und konferieren mit Institutionen, deren Kompetenz an ihren Mitgliedern scheitert. Zur Verschärfung des Problems zeigte uns das Fernsehen die Situation im Reich der Mitte. Berge von Abfall aller Art, auf denen sich Kleinkinder tummeln, die Ärmchen im Abfall verborgen, die Erwachsenen mit Stöcken im Industriemist stochernd, den Mund mit einem Tuch »geschützt«, dennoch kräftig die Abgase einatmend. Das will die herrschende Partei des kapitalistischen Sozialismus nicht länger dulden. Zu vermuten jedoch ist, dass die Volksrepublik jetzt so viel eigenen Müll produziert, dass sie auf fremdländischen verzichten kann. Und mir scheint der Tag nicht mehr fern, da die Chinesen ihren Müll exportieren werden, schließlich ist noch ausreichend Platz im Kongo oder in Brasilien, in der Sahara oder Zentralaustralien. Der Beruf des Müllmannes wird eine angesehene Position sein, hofiert von allen Abfallproduzenten, also von uns, die

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wir kaum noch wagen werden, auf die Toilette zu gehen, weil wir unser Kontingent an Kotproduktion bereits überschritten haben. Die Gefängnisse werden sich füllen mit Menschen, die heimlich versuchen, Nichtsnutziges loszuwerden. Es wird eine Renaissance des Spitzeltums entstehen, wie wir es uns heute noch gar nicht vorstellen können - oder mögen.

Am Anfang war das Wort - am Ende das Nachwort.

Die Schriftsteller halten mich für einen großartigen Maler, die Maler mich hingegen für einen grandiosen Schriftsteller. Mehr kann man nicht verlangen.

Ich lese in der Zeitung, jeder fünfte Mensch in Deutschland sei Ausländer, und weiß nicht, ob ich das bedauern oder begrüßen sollte. Einerseits will es mir doch bedenklich vorkommen, unsinnige Vorstellungen entstehen, von dem eigenen Fremdsein in einem von Fremden besiedelten Heimatland, mit denen man kein Wort über Thomas Mann wechseln kann und keines über Albrecht Dürer, die Richard Wagner nicht kennen und nicht Johann Strauß. Worüber soll man mit ihnen sprechen in welchem »Newsspeak«? Andererseits weht ein frischer Wind durch das altbackene Land, neue, interessante Gesichter von Frauen und von Männern, unbekannte Wesen, von deren Träumen und Fantasien man nichts ahnt, von deren Geheimnissen man nichts weiß, deren Worte einen anderen Sinn ergeben.

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 Und die dennoch das Gebilde »Deutschland« beleben, andere Sitten praktizieren, andere Speisen genießen, aus anderen spirituellen Quellen ihr verborgenes Dasein beziehen. Nicht zu leugnen ist, dass sie, bei allen vorsichtigen Begutachtungen, doch etwas wie gesellschaftliche Hefe darstellen, die den überkommenen Teig in Bewegung setzt, positiv wie negativ, aber das ist ein unabänderlicher Prozess, ein unaufhaltsames Wirkungwerden, die Veränderung einer gewohnten Gegenwart, die wie alle vorherigen Gegenwarten von Völkerwanderungen und Landnahmen verändert worden sind. Auch unsere Vorfahren und Ahnen waren einmal Migranten, bis dann langsam die Umsiedelei im Dämmerlicht der Geschichte versank. And so on ...

Elstern attackieren über Wochen Kuhherde

SCHELLBACH, 2. November, Behörden in Nordhessen haben Elstern zum Abschuss freigegeben, die über Wochen hinweg eine Kuhherde attackiert hatten. Die Kühe hätten den Sommer auf einer Weide verbracht und sich nicht schützen können, sagte der Kreisjagdberater Werner Wittich am Donnerstag über das Geschehen im Schwalm-Eder-Kreis nahe Kassel. Zuvor hatte die »Hessische/ Niedersächsische Allgemeine« (HNA) über den Vorfall berichtet. Demnach wurde die Kuhherde in Schellbach, einem Ortsteil von Knüllwald, wiederholt von den Rabenvögeln angegriffen. Sie landeten auf Euter und Anus der Muttertiere und pickten rohes Fleisch heraus. Eine Kuh wurde so schwer verletzt, dass sie geschlachtet werden musste.
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Rätselhafter Vorgang, der zu Spekulationen verleitet. Waren die Elstern im Kino gewesen und hatten Hitchcocks »Die Vögel« gesehen, den Film, der unsere ansonsten friedlichen geflügelten Miterdenbürger als gierige Bestien vorführte, die sich über die Menschen hermachen? Zweite Variante der Spekulation, der Vergangenheit verpflichtet. Besagtes Ereignis in der DDR wäre als schändlicher Anschlag des Klassenfeindes interpretiert worden, der harmlose Tiere durch üble Machenschaften zum Schaden unseres Staates eingesetzt hat. Letztere Erklärung wäre durchaus denkbar, denn Ähnliches hat sich schon einmal in den fünfziger Jahren in der DDR ereignet, weil nach einer schlechten Ernte das »Amt für Information« die Meldung herausgab, die Amerikaner hätten über der DDR Kartoffelkäfer abwerfen lassen. Doch diese Unterstellung war so grotesk, dass ihr Erfinder, der Amtsleiter Gcrhart Eisler, der Bruder des berühmten Komponisten Hanns Eisler, seinen Hut nehmen musste. Dabei war er vordem als Held stilisiert worden, da er aus der amerikanischen Emigration heimlich auf einem Frachtschiff in die DDR flüchtete. Das ist ihm nicht gut bekommen, wie auch anderen nicht, die ihren Illusionen in die Enttäuschung folgten.

Aus Huxleys »Schöne neue Welt« ist mir eine Szene besonders intensiv in Erinnerung geblieben, da der Protagonist ihre Mutter in einer Art Altersheim besucht. Die dort Untergebrachten liegen in Betten, vor denen jeweils ein Bildschirm steht. Sie sind kaum ansprechbar, weil sie sich von den laufenden Bildern nicht losreißen können. Damals war das Literatur und zugleich Zukunftsmusik, heute ist es unleugbare Realität.

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Ich selber verspüre ja die innere Unruhe, wenn der Zeiger auf zwanzig Uhr vorrückt: Gleich kommen die Nachrichten. In einer seltsamen Vermischung von Neugier und Erwartung mit Befürchtungen, es könnte Unheil aus unserer Lebenswelt gemeldet werden, sitzt man vor dem Apparat, vor der Sprecherin, die uns mit wenigen Worten auf das Kommende einstimmt. Dann beginnt der Wirbel der Realitätsschnipsel, an dessen Tatsächlichkeit wir zu glauben gelernt haben, obwohl jede Aufnahme, jedes Bild so wahr wie zugleich unwahr ist. Wollte man die Welt nach ihren selektiven Vorführungen sichten und erklären, erlebte man die eigene Anwesenheit in einer fabulösen Welt. Da nur schlechte Nachrichten gute Nachrichten sind, müssen wir uns in den Bereich unaufhörlicher und einander ablösender Katastrophen versetzt fühlen. Man wundert sich, wie es wohl möglich sein kann, dass noch jeden Tag die Sonne über dem irdischen Schlachtfeld aufgeht. Da wimmelt es von Politikern und anderen Artverwandten, für die wir nichts anderes als Schlachtvieh sind. Geduldig hören wir ihre Lügen, heute diese, morgen jene, alles mit Nicken bestätigend. Aus den Mündern klappern die vorgestanzten Erklärungen, die gar nichts erklären. Was hinter der zusammengeschnippelten Fassade sich begibt, ahnen wir nicht einmal. Aber wir laben uns dennoch an dem dargestellten oder echten Schrecken für unser Gemüt. Flugzeugabstürze wie Erdbeben sind unser tägliches Abendbrot. In den Kokon einer falschen Sicherheit versponnen, laben wir uns am vorüberhuschenden Leid unserer planetarischen Mitbewohner. Immer das böse Empfinden von gemeiner Zufriedenheit, selber nicht betroffen zu sein. Ich selber tappe nicht durch die Ruinen

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von Mossul, um meine Familie zu suchen. Ich erlebe nicht den Raketenbeschuss in Syrien. (Ach, den habe ich ja 1945 schon in Berlin faktisch »genossen«.) Durch die Distanz des mich nicht Betreffenden findet es zwar mein Interesse, doch ein ziemlich gedämpftes. Und schließlich frage ich mich als visueller Schlachtenbummler, was wohl in den Köpfen der direkt Betroffenen vorgehen würde, könnten sie uns am Abendbrottisch sitzen und schlemmen sehen, während sie sich verrenken, um etwas Nahrung für ihr halbverhungertes Kind zu ergattern. Sie würden uns vermutlich in die tiefste Hölle wünschen, denn, siehe Sartre, die Hölle sind immer die anderen.

Zoobesuche nach dem Kriege. Der Tierbestand war noch nicht wieder im alten Umfang vorhanden, manche Gehege waren noch leer, auch das Interesse der Besucher schien abgenommen zu haben, denn ich traf kaum auf welche. Stille und spürbare Ruhe. Unleugbar eine Einladung zum Schlendern. Ein einsames Nilpferd gähnte mich an, die beiden Zähne in seinem Maul schienen behandlungsbedürftig. Der einzige Elefant lag vor seinem Stall und schlief. Merkwürdige Friedlichkeit, fast Verlassenheit bestimmte die Atmosphäre des Ortes. Ich blieb an einem Kleingehege stehen, das den Stachelschweinen vorbehalten war, doch keines zeigte sich. Im Sand vor der Behausung des unsichtbaren Tieres lagen seine schwarz-weiß gestreiften Stacheln von der ungefähren Länge eines Federhalters. Ich stieg auf die Ummauerung, raffte nach einem kurzen Rundumblick eine Handvoll der Stacheln zusammen, schob sie vorsichtig in meine Brusttasche und knöpfte die Jacke bis zum Halse zu.

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Niemand außer den mir gnädigen Göttern war in der Nähe, keiner hatte den Raubzug gesehen. Unkontrolliert verließ ich den Zoo, fuhr heim und wusste immer noch nicht, wozu ich diese langen, griffigen Stacheln eigentlich gebrauchen könne. Zu Hause schnitt ich sie wie einen Federkiel an, um sie als Schreibgeräte zu benutzen, doch sie hielten nicht die Tinte und beklecksten nur das Papier. Immerhin hatte ich die völlig nutzlose Erfahrung gewonnen, die ansonsten griffigen Stacheln seien zu praktischem, noch dazu literarischem Gebrauch absolut ungeeignet.

Die einzige Lehre, die mir blieb, war, dass ich der falsche Mensch am falschen Platz gewesen sei, als Eingeborener im Mutterland des Stachelschweins hätte ich die Stacheln durch meine Ohrläppchen gebohrt und als Schmuck getragen, wie ich das in einem der fälschlich so benannten Kulturfilme gesehen hatte.

Eine Leiter wurde an einen der steinernen Löwen vor der Berliner Nationalgalerie gelehnt, ich hatte hinaufzusteigen und im bayerischen Dialekt, den ich mühsam nachzuahmen versuchte, ein paar Sätze über die unter mir in den Ersten Weltkrieg marschierenden Soldaten zu sagen. »Ton ab!« Dabei hatte ich vom vorhergehenden Abend einen schlimmen Kater, ich hielt mich krampfhaft an einer Sprosse fest und rief etwas »Kruzitürken noch amal! Dummerjans ...« oder so ähnlich in das auf einer langen Stange schwankende Mikrofon. Die DEFA, die DDR-Filmgesellschaft, drehte einen Film nach einem erkennbar autobiographischen Roman von Johannes R. Becher, den bereits der grüne Rasen deckte.

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Ich hatte das Drehbuch geschrieben, und hier oben auf der Leiter verbüßte ich meine Strafe dafür. Unten schwenkten die Soldaten, von der »Nationalen Volksarmee« ausgeliehene Mannschaften, ihre Mützen. Man mimte 1914. Nach meinem Kurzauftritt wurde ich erlöst und durfte mit recht weichen Knien nach Hause gehen. Der fertige Film wurde von Walter Ulbricht auf Anraten seiner Frau und auf Einspruch der Generalität abgelehnt: zu pazifistisch. Er lief in Berlin einen Tag nach der Premiere, dann wurde er in ein kleines Kino am Stadtrand verbannt, wo er auch nur einen Tag dem Publikum dargeboten wurde. Es war ein faktisches Verbot. Bechers Witwe, die mit Ulbricht in der Moskauer Emigration gewesen war, protestierte bei seiner sozialistischen Majestät, doch ohne Erfolg. Der Film fand seinen letzten Platz im Giftschrank der Zensur. Vorher aber, und mit einem große ABER zu versehen, erhielt ich dennoch mein Honorar. Weil eine Sekretärin der DEFA gleich nach Ablehnung des Films mich anrief und mich zu sich in ihre Wohnung einlud, um mir eine Tüte mit Geld zu überreichen. Als sie von dem Todesurteil für den Film gehört hatte, sei sie sofort zur DEFA-Kasse gegangen, damit man mir nicht auch das Honorar noch streiche. Es gab in der DDR Menschen, die noch richtige Menschen im besten Sinne geblieben waren.

Leser auf der Flucht
Abschalten erwünscht: Mehr als sechs Millionen deutsche Leser haben sich in den vergangenen Jahren vom Buch abgewandt. Der Börsenverein hat jetzt erstmals untersucht, woran das liegt. Und nun i

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Ja, was denn »nun«? Die Schriftsteller verkaufen ihr Handwerkszeug auf dem Flohmarkt, die Dichter hängen die Muse an den Nagel - brutal gesagt, und lassen sich als Nachtwächter engagieren, da sie von der Profession eine gute Beziehung zur Dunkelheit haben. Und dann? Den Bürger, der schon vor dem Abstieg in die Barbarei mit einem verbretterten Kopf durch die Welt lief, wird das Verschwinden des gedruckten Wortes wenig kümmern. Notwendige Anweisungen können durch Hieroglyphen oder sonst welche Bildzeichen übermittelt werden. Dass der Börsenverein die Rückkehr des allgemeinen Analphabetismus näher untersuchen will, ist rührend, denn die Ursachen liegen bekanntermaßen auf der geldgierigen Hand. Der umfassende Sieg elektronischer Kommunikationsmittel hat die Niederlage der Gattung bewirkt, die Jahrtausende brauchte, um aus dem Sumpf der Unbildung zu kriechen und einen Schimmer aufklärenden Lichts zu verbreiten. Es scheint, diese lange Periode einer geistigen Entwicklung ist vorüber, nun geht es munter in eine Zeit, auf die wir schaudernd rückblickten. Und nun? Alle Spekulationen erwiesen sich als sinnlos, weil ja alle Vorstellungsmöglichkeiten längst von den Bildmedien adaptiert wurden: Wahrscheinlich können wir nur noch in den vorgegebenen Schemata unsere Fantasie betätigen. Das Denken, unweigerlich und unabänderlich der Schrift verbunden, nimmt schweren Schaden, da die Kraft zur Imagination längst kanalisiert wurde. Was soll da ein Autor, gar ein Poet, den man schon in Anführungszeichen schreiben möchte, noch in dieser Welt totaler Zweckdienerschaft und durchgehender Kommerzialisierung? Er wird zwangsläufig zum Sonderling, zum mehr oder minder »guten Wilden« innerhalb der technikbesessenen

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Gesellschaft. Er wird museumsreif. Was Kunst und Literatur sich einst vorgenommen hatten, die Bändigung des Menschentieres und seiner unkontrollierten Triebe und Antriebe, scheint misslungen; die Gegenwart mit ihrer überall gängigen Brutalität und Rücksichtslosigkeit und Missachtung des Mitmenschen machen deutlich genug, wie es um uns steht. Wir hätten es wissen können, hätten wir nur mehr und besser gelesen! Etwa Max Horkheimer, den deutschen Philosophen, der vor den Nazis nach Amerika floh, und uns alles ins Stammbuch schrieb: »Die Menschheit reicher, geordneter, vernünftiger zu machen, ist Pflicht zugleich und Beförderung des Unheils, die Herstellung der entseelten Gesellschaft, des automatisierten Reiches, dem alles entgegengeht, es sei denn, die Menschheit falle in Barbarei zurück oder vernichte sich selbst.«

Die alten Industrienationen sind längst in dem automatisierten Reich angekommen, ohne jedoch die Option für die Barbarei gänzlich aufzugeben. Diese wartet nur auf ihren Tag, von dem ich annehme, er liege nicht mehr allzu fern.

»Warum liegen Sie am Tage im Bett?« - »Ich erhole mich vom Altwerden.«

Eine kaum beglückende Erfahrung des Alternden, des Altgewordenen besteht darin, von vielen Menschen verlassen worden zu sein, Menschen, die Leerstellen hinterlassen. Das können Freunde sein, gute Bekannte, hilfreiche Mitbürger, überhaupt Leute, die einen schützenden

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und bestätigenden Umkreis um einen bilden, ergo: gebildet hatten. Eben noch sprach man mit Klaus X. am Telefon über gemeinsame Erinnerungen, nun ist er auf ewig verstummt, und ich kann meine ehemaligen Ärgernisse, wie auch er sie erfuhr, mit ihm nicht mehr teilen oder abarbeiten. Wer, außer mir, interessiert sich für jenen Mann namens Sigmar S., mit dem ich die guten, weil gedankenlose Jahre der Jugend, des frühen Mannesalters erlebte. Unsere durch nichts zu rechtfertigende Naivität trieb uns zur sozialistischen Utopie, zumindest für eine Weile. Wir wollten sogar zusammen nach Israel auswandern, wovor uns der israelische Geheimdienst schützte, weil er uns bei einer Befragung in der Botschaft wohl eher für Traumtänzer und weniger für wüstensüchtige Pioniere hielt. Manche der einstigen zufälligen und doch intensiven Bekanntschaft haben sich, verblüffenderweise, erneuert. So in einem Bericht des FAZ-Magazins über einen Designer Günter Kupetz, mit dem zusammen ich in Berlin-Weißensee auf der Kunsthochschule gewesen bin. Wir waren die einzigen Knaben in einer Mädchenklasse von über dreißig Weiblichkeiten. Als unsere Klasse einen Ausflug machte, in einen kleinen Ort bei Berlin, konnten wir abends ein Ruderboot mieten und luden zur Mitfahrt zwei der Mitschülerinnen ein. Ich aber hatte das große Los gezogen, indem ich auf der Rückbank zwischen den zwei Sirenen saß, während mein Mitbewerber zum Rudern verdammt gewesen ist. »Der Abend senkte sich hernieder«, würde ich als populärer Autor geschrieben haben, der Mond stieg auf, sie ließen sich beide umarmen und betasten, während mein Kommilitone als Rudersklave das Nachsehen hatte. Vor einigen Monaten bekam ich seine Adresse und Telefonnummer und rief ihn an, ein von Demenz Geschlagener, der sich mühsam erinnerte. Bald danach bekam ich die Todesnachricht. Nun muss er nicht für mich rudern, und für ihn übernahm das ein anderer über den Styx.

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Um in dem Getriebe einer großen Stadt verwendet werden zu können, muß dem Motorwagen eine absolut sichere und leichte Handhabung eigen sein.

Das Pferd ist allerdings oft launisch, es scheut, es ist nervös und hat andere Untugenden mehr, aber in welchem Maße der Fuhrmann, namentlich der vom Lande, und der Droschkenkutscher sich auf ihre Pferde verlassen können, das bezeugen die Fälle, in welchen die Kutscher schlafen oder betrunken sind, und bei denen dennoch das Fuhrwerk glücklich an seinen Bestimmungsort kommt.

Bei einem Motorwagen gestaltet sich die Sache unter solchen Umständen sehr gefährlich, nicht nur für die Insassen des betreffenden Gefährtes, sondern für den gesamten Straßenverkehr überhaupt.

Erforderlich ist ferner bei diesen Gefährten, daß man während der schnellen Fahrt plötzlich anhalten kann. Die Bremse muß durch einen Druck auf eine Feder in Funktion treten und mit dem Handgriff, ähnlich wie bei den Fahrrädern, verbunden sein. Eine besondere Bremse müßte außerdem noch bei dem Gefährt angebracht sein, für den Fall, daß der Leiter des Wagens neben demselben hergeht. Es unterliegt gar keinem Zweifel, daß die von Tieren ausgeführte Arbeitsleistung in sehr vielen Fällen besser und billiger von speziell zu den verschiedenen Zwecken ersonnenen Motoren getan wird; auch beim Militärwesen und im Kriege wird sicher der pferdelose

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Wagen einst große Bedeutung erlangen, namentlich in ebenen Gegenden.

Als dieser Artikel gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschien, durfte der Autor sich noch etwas herablassend und belehrend über den neuen Gott äußern, von dessen irdischer Allmacht noch keiner etwas ahnte. Auch in den Witzblättern erschien der Selbstbeweger als komisches Töff-Töff, dem die Hunde im Dorf hinterherjagten und in dem ein Mann mit einer blöden Lederkappe und einer riesigen Schutzbrille vorgebeugt hockte, weil er mit einer (damals ungeheuren) Geschwindigkeit von vierzig, fünfzig Kilometern Tempo durch die Gegend raste. Long time ago. Auch die Literatur ließ nicht lange auf sich warten, das Fahrzeug zu thematisieren. Sinclair Lewis, harscher Kritiker des »American Way«, schrieb diesmal einen heiteren Roman von einem Paar, Vater und Tochter, die mit dem Wagen in den USA unterwegs waren. Heitere Abenteuer, amüsant und vor allem ahnungslos, was für eine gewaltige Macht ihnen zu dienen schien. Wie im Märchen entwickelte sich das motorisierte Baby zu einem Monstrum, zu einer ungeahnten Macht, die die Welt beherrschte. Auch ich, als Spätgeborener, war der Maschine verfallen, und wünschte mir nichts sehnlicher als ein Auto, ja ich träumte sogar davon, wie ich in einem offenen Cabriolet in einer Straße bei einer Mädchengruppe anhielt, um mich und Auto bewundern zu lassen. In Westberlin stand ich sehnsüchtig vor den Automärkten, vor Gebrauchtwagen wie Ford Dixie, der bloß fünfhundert D-Mark kosten sollte, die ich natürlich nicht hatte, außerdem fehlte mir ja der Führerschein. Als ich bei der Zeitschrift »Eulenspiegel« mitzuarbeiten

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begann, beneidete ich einen Kollegen, der einen »To-polino« fuhr, den italienischen Kleinwagen, an dessen Motor er ständig herumbastelte, damit das Wägelchen sich überhaupt in Gang setzte. Ein Zeichner des Blattes fuhr einen Leukoplastbomber, einen mit Kunststoffhaut überzogenen Kleinwagen westdeutscher Provenienz, ein beschlagnahmtes Beutestück der DDR, das anschließend von einem VEB-Betrieb, einem volkseigenen Autohof, an bevorzugte Menschen verscherbelt wurde. Es dauerte lange, bis ich genügend Geld zusammen hatte und mich die Postkarte erreichte, dass ich einen »Wartburg«, einen Zweitakter, aus Eisenach, wo die Fabrik war, abholen könne. Wir reisten im Schlafwagen mit anderen Männern, ebenfalls Einladungsversehenen, nach Eisenach, wurden in eine Halle geführt, wo die nervösen und aufgeregten Aspiranten ihres Wagens harrten. Wie in einer Kafkaerzählung öffnete sich in einer Mauer eine Klappe, und eine Stimme rief uns zu den bereits bezahlten Fahrzeugen. Wir sprangen auf und stürmten los, die Stimme rief erneut: »Farblich geteilt, Elfenbein und Grau.« Als erster vor dem Schalter legte ich meine Karte vor, wurde in eine weitere Halle geführt, wo mein, ja, mein Wirklichkeit gewordener Traum stand: Elfenbein und Grau. Bei der Heimfahrt, so wurden wir gewarnt, dürfe man noch nicht über fünfzig fahren, weil die Zylinder sich erst daran gewöhnen müssten. Ich wäre auch mit dreißig heimgekehrt, so glücklich war ich, wie sonst selten in meinem bisherigen Leben. Autobesitzer - das war was! Erhaben über die Fußgänger fuhren wir heim. Und ich musste mehrfach von unserer Wohnung die Straße hinunter sehen, um zu glauben, dass da unten das Instrument meiner künftigen gesellschaftlichen Sonderstellung,

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mein Seelenstärker, mein Prunkstück, die Frucht meines Fleißes, die Erfüllung meines heimlichen Wünschens stand, das endlich sich erfüllt hatte. Und es war etwas an dem von der Werbung (im Westen) beschworenen Freiheitsgefühl. Es war illusionär, ich weiß, und doch konnte ich mich späterhin vor den Querelen, Kränkungen und Bedrohungen in der DDR irgendwohin verziehen. Zwar auch das eine Illusion, doch eine, die mir überleben half. Das war zwar keine militärische »große Bedeutung«, dafür aber eine mich psychisch stärkende, und derart mein Selbstbewusstsein stärkende. Auch das gehört für mich zu der fatalen Geschichte des Automobils, dessen mittelbare Auswirkungen ich nirgendwo in der Literatur entdeckte. Das Gefühl und der Gedanke, jetzt und in diesem Moment nicht auffindbar zu sein, war so etwas wie ein Glücksmoment, eine Adrenalininjektion, Flucht vor der Repression und nicht belangbar. Seinerzeit ahnte ich nicht, dass ich innerhalb der DDR nirgendwo hätte weilen können, ohne dem Auge des Big Brothers entgangen zu sein. Heutzutage hat das Auto nicht mehr die gleiche Stellung, fast ähnlich einem Familienmitglied. Die baumelnden Figuren am Rückspiegel sind verschwunden, die Hunde mit den Wackelköpfen sind exmittiert, alles, was das Schneckenhaus wohnlich machte, starb den Tod des Verachtetwerdens. Der sentimentale Versuch, dem Golem unserer Tage Leben einzuhauchen, ist einem Zweckdenken gewichen, dem wir nirgendwo mehr entgehen können. Mit einem Wort: Das Auto ist sowohl entpersonifiziert wie entromantisiert. Es ist ein Gegenstand - sonst nichts.

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Manche Zynismen sprechen von der Unschuld ihrer Erfinder. Auf einer Einkaufstasche lese ich den Satz aus dem tiefsten Abgrund unbewusster Selbsteinschätzung: »I shop therefore I am.« Ich konsumiere, also bin ich. Wer das mit sich herumträgt, hat sich von der Kultur verabschiedet.

König Artus' Name auf einer Platte?
Neuer Fund zur Sagengestalt
LONDON, 6. August. Ausgrabungen im englischen Tintagel (Grafschaft Cornwall) haben einen aufsehenerregenden Fund zutage gefördert. Archäologen der Universität Glasgow stießen auf eine Schieferplatte aus dem sechsten Jahrhundert mit der Namensinschrift »Artognov«, der lateinischen Form des mittelalterlichen Namens ArthnoulArthur, wie die Denkmalschutz-Stiftung English Heritage am Donnerstag mitteilte. Der Stein gebe der Debatte um reale Hintergründe der Sagengestalt König Artus »eine neue Dimension«. Der etwa 35 mal 20 Zentimeter große Stein sei in seiner jetzigen Form zur Abdeckung einer Abflussrinne außerhalb eines Hauses verwendet worden. Er sei ein »einmaliger Fund«, sagte Geoffrey Wainwright, leitender Archäologe von English Heritage. Für eine Verbindung mit der sagenhaften Artus-Figur gebe es zwar keine Belege. Dennoch beweise der Stein erstmals, dass der Name zu jener Zeit existierte.
  dpa

Kennengelernt habe ich Artus als erstes durch den satirischen Roman »Ein Yankee am Hofe des Königs Artus« von Mark Twain. Dass ich später auf des Königs

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Spuren wandelte, ein Zufall. Unvermutet bekam ich den Literaturpreis der Stadt Mannheim und wurde dortselbst Stadtschreiber, im dritten Stock eines Museums ohne Fahrstuhl hausend. Ich drückte mich da, wo ich konnte. Der Preis aber war verbunden mit der Aufgabe, als Regisseur einen Film für das ZDF zu drehen.

Nichts leichter als das: Filmerfahrung hatte ich ausreichend. Ich musste nur ein Thema vorschlagen, und es fiel mir ziemlich spontan Artus ein. Genehmigt. Ich fuhr nach England, mietete einen Mini Cooper und fuhr nach Tintagel. Steil ragender Fels im Atlantik, gekrönt von einer Burgruine. Der Ort lebte von Seiner Majestät, indem in den Läden Schwerter und Helme aus Pappe angeboten wurden, Schilde, Wappen, Ansichtskarten und sonstige Devotionalien. Ich fotografierte eifrig. Begraben sollte der König in Glastonbury sein, also fuhr ich dorthin, wo der mythische Mann sage und schreibe zwei Gräber hatte, rechts und links einer Kathedralenruine. Ich fuhr nach Cornwall, ich fuhr nach Essex, ich kam mir wie Sherlock Holmes vor, auf den Spuren eines Geistes. Wieder daheim, bastelte ich mir aus den Fotos (mit Anmerkungen und Hinweisen) ein optisches Drehbuch als Grundlage für den Film. Einige Zeit später reiste ich mit dem Fernsehteam, gefolgt von einem Lastwagen, in welchem die ganze überbordende Ausrüstung transportiert wurde: Der Kameramann hatte die Sucht, überall Schienen für die Kamera zu legen, was doppelte Mühe bedeutete. Dergestalt gelangten wir nach Tintagel. Es entstand eine Pseudohistorie, dem legendären König auf ironische Art angemessen. Ich hatte mir vor der Tour von einer Buchhandlung Literatur zum Thema schicken lassen und hätte ohne Weiteres einer eingehenden Befragung zur Geschichte des frühen Großbritanniens standgehalten. Schließlich mussten wir auch das Ende des Königs bebildern, der in einem Duell mit Mordred, dem Schurken, auf der Slaughter Bridge tödlich verwundet worden war, jedenfalls fast tödlich, denn Feen entführten ihn in ein sagenhaftes Land, wo er seine Auferstehung erwartet. Bei dieser Abschiedsvorstellung prägte unser Team sich englischen Zuschauern wahrscheinlich für ihr Leben ein. Wir benötigten einen Leichnam. Woher nehmen, ohne die Body Snatcher zu bemühen? Der Requisiteur kaufte in einem Pornoshop eine aufblasbare Puppe, die bei dem weiblichen Teil unserer Companie Entsetzen hervorrief. Aufgepumpt und in olivfarbenen Binden wurde der fiktive Monarch zu Wasser gelassen und trieb auf dem dünnen Fließ unter der Brücke seines Scheiterns davon. Das anwesende Publikum war »very amused«, Klappe, Abspann. Und zum Abschied überreichte mir die Mannschaft ein ziemlich fragwürdiges Geschenk: eine gelbe Armbinde mit drei schwarzen Punkten. Und ich bedankte mich dennoch und trotzdem herzlich.

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Vor Jahrzehnten, mit der Anmutung von Jahrhunderten für mich, veröffentlichte ich ein Buch mit dem fragenden Titel WARUM SCHREIBEN? Darin versuchte ich eine Antwort für mich selber zu finden, und ich weiß bis heute nicht, ob mich meine Antwort überzeugt oder auch nur befriedigt hat. Würde man heute eine solche Umfrage unter Autoren machen, man würde wohl eine Gemengelage an Antworten erhalten. Ja, warum wohl? Bei Beginn meiner eigenen Betätigung nach Krieg und Zerstörung dachte ich, ich hätte den höheren Auftrag, gegen Gefährdungen gleicher und ähnlicher Art anzuschreiben.

Ich hatte ja Tucholsky gelesen, Theodor Plievier, Anna Seghers, Remarque, Ludwig Renn, Erich Weinert, Kästner, Brecht und all die »engagierten« Schriftsteller, und ich glaubte, ihnen nachzueifern wäre mein Antrieb gewesen. Nicht bloß ich, die meisten Menschen im Berlin jener Nachkriegstage dachten, wir würden so etwas wie »ewigen Frieden« bekommen, die Welt werde Vernunft annehmen nach dieser ungeheuerlichen und schmerzhaften Lehre.

Aus diesem Grunde auch votierte ich für die kleine DDR, weil (anfangs) alles Militärische verrufen war, verachtet und verbannt. Erst mit der Zeit verging die Illusion, der Mensch sei ein rational bestimmtes Geschöpf: Welch ein Kinderglaube. Den verloren zu haben bedeutete einen Themenwechsel, eine andere Sichtweise, eine erweiterte Weltaneignung. Aus schwarz-weiß wurde grau.

Und zugleich begann ich, meine Stellung in der örtlichen Gräue auszuloten. Die Verhältnisse, die bekanntermaßen »nicht so« sind, entpuppten sich mehr und mehr als ein System, dessen angeblicher Vorzug die nun langsam absterbende Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft gewesen war; die Wächter einer konträren und darum weder erwünschten noch überzeugenden Vision hatten sich selber längst von ihren früheren Idealen verabschiedet und waren zu »ausführenden Organen« geworden. So war der Konflikt zwischen Schriftstellern (nicht allen) und der misslungenen Gegenwart vorprogrammiert. Die Kulturpolitik glich einer Achterbahn, hin und wieder flogen Autoren in den Kurven aus den Wagen, bis zuletzt auch ich bei einer scharfen Kehre (sprich Biermann-Affäre) aus dem Zug ins Nirgendwo fiel.

Bis dahin war mein Leben vom Auf und Ab, von Angst und Fluchtgedanken bestimmt gewesen. Die DDR-Jahre waren Lehrjahre, keine Herrenjahre, wie es doch den Bürgern von »ihrem« Staat versprochen worden war. Vor meinem Weggang hatte ich mich längst in meine Schreiberei zurückgezogen und das Mögliche unter unmöglichen Zuständen gewagt. Aber irgendwann nimmt die Resistenz ein Ende, sind die Energien aufgebraucht, und man verlässt die Arena, in der man immer dem Stier unterlegen ist. Diese Tage und Jahre und Jahrzehnte haben sich in meiner Arbeit niedergeschlagen und sind, auf seltsame Art, somit ein Gewinn geworden. Warum schrieb ich denn noch, aussichtslos, wie es schien? Einfach um mich am Leben, am geistigen Leben zu erhalten, und nicht vor der blinden Macht zu kapitulieren und wie andere Kollegen als Säufer zu verkommen.

Der Antrieb aber resultierte wohl aus nichts anderem als aus der frühen Lektüre. Meine Mutter schleppte wöchentlich Bücher herbei, mein Regal füllte sich bis zur Decke, bis da einige hundert Exemplare standen, mehr als die meisten Leute heute besitzen. Die Intensität des Lesens hatte vermutlich meinen Nachahmungstrieb befeuert: Ich wollte auch Bücher machen, wollte auch schreiben, wollte meine Fantasien gedruckt sehen. Es erging mir nicht unähnlich dem kleinen Marcel, wie Proust ihn beschreibt. Es war einfach die Verlockung, sich selber schriftlich zu steigern, einen Doppelgänger zu schaffen, zu Buchstaben zu werden, eine Verzauberung, wie man sie nur aus Märchen kennt, und vielleicht war dieser Anfang des Schreibens auch nichts anderes als ein Märchen, das ich mir selber erzählte, weil ich ja darin vorkam. Die Identität von Worten und der Person, die sie entdeckte, war das Wunder: die Wortwerdung des Fleisches, etwas lästerlich gesagt.

Günter Kunert,
29.7.2018

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