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Kunert-2018

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Über die Vergesslichkeit des Menschengeschlechts ließen sich unzählige Bände verfassen. So vermisse ich bei den Meldungen über die Zerstörungswut der Islamisten, die dreitausend Jahre alte Kunstwerke vernichten, einen Hinweis auf unsere einige Jahrhunderte zurückliegende Reformation, die mit einem wahnwitzigen Bildersturm begann. Bildwerke wurden in Kirchen zertrümmert, weil sie als Objekte des »Götzendienstes« angesehen wurden. Der schwelende Hass wird auf die Symbole des Feindes (wer immer das ist) gelenkt und tobt sich daran aus. Fast wöchentlich sehen wir auf dem Bildschirm aufgeputschte Menschenmassen, die mal eine amerikanische Flagge verbrennen, mal eine israelische. Diese symbolische Vernichtung des ansonsten unerreichbaren und mächtigeren Feindes erweist sich als Ersatzhandlung, ablesbar an den triumphierenden Mienen der Randalierer. Sie feiern einen Sieg, der nur der Selbstbestätigung nutzt und dem fatalen kollektiven Empfinden von Solidarität und fiktiver Machtausübung. Die Zerstörung von Kulturschätzen erzeugt bei den sogenannten »gebildeten Schichten« Empörung, Regierungen protestieren gegen die Barbarei von Barbaren. Ziemlich erfolglos, denn religiösen Fanatikern ist bekanntlich nichts heilig - außer dem, was sie als heilig deklariert haben. Insgeheim werden sich heute schon manche damit trösten, dass nach dem Ende des brutal agierenden Wahns das Verlorene in Kopien wiederhergestellt werden kann. Wie etwa in Hildesheim das Knochenhauerhaus oder andere, von Bomben zerstörte Gebäude und Denkmäler. In einer Welt der Falsifikate in allen Daseinsbereichen gibt man sich mit den Repliken zufrieden, von der steinzeitlichen Höhle in Lascaux bis zur Fassade des Berliner Stadtschlosses. Hauptsache, das Aussehen stimmt. Von der Aura des Urtümlichen weiß sowieso kein Mensch mehr etwas.

Manche Frauen, sagt er, sind gekränkt, weil man über ihren Körper ihre Seele vergesse. Dabei vergessen sie, dass ohne Leib gar nichts Überschüssiges, meinetwegen sogar Überflüssiges, vorhanden wäre. Das Fleisch selber ist doch beseelt, sonst würde es ja nicht dazu verlocken, demselben Genüge zu tun. Seele »ohne« gibt es nicht. Wie soll man eine Seele lieben, die keine Titten hat und keinen dicken Hintern. Ist die Seele die Beigabe oder das Drumherum? Das möchte ich nicht entscheiden, fuhr er fort, damit handelt man sich nur endlose Debatten ein, die zu nichts führen. Ich scheue das Thema ...

Gespräch mit Kristian D. über die Zukunft, der er noch tausend Jahre zubilligt. Das scheint mir schon fast zu optimistisch, da die zunehmende Beschleunigung aller Entwicklung dabei unberücksichtigt bleibt. Des Weiteren über die Flüchtlingsströme aus dem vorderen Orient und aus Afrika. Er und seine Frau sind engagiert bei der Planung zur Aufnahme der neutral »Migranten« genannten Personen. Sprechen beide über die Schwierigkeiten zwischen den Gutmenschen und den kundigeren, mit ihrem schmalen Etat rechnen müssenden Ämtern. Die Menschenwelle aus der Ferne schwappt jetzt nach Schleswig-Holstein über, kein Halt absehbar, eine friedliche Invasion geht vonstatten, deren Auswirkungen nicht abschätzbar sind. Wie wird sich das Zusammenleben von Individuen aus so unterschiedlichen Kulturkreisen gestalten?

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Wir sind ahnungslos, weil unvorbereitet. Den meisten Leuten ist es wohl unvorstellbar, dass sie es mehr und mehr mit Fremden zu tun haben werden. Schon jetzt hat sich die Zahl eingewanderter Arzte verdoppelt, was, bei der laufenden Reduktion ländlicher Praxen, von Vorteil sein kann. Aber es schwärt unter der Decke des noch existierenden allgemeinen Wohlwollens gegenüber den Zuwanderern eine wachsende Aversion, eine zunehmende undefinierbare Befürchtung vor einer »Überfremdung«, deren Auswirkungen die Rechtspopulisten dem Normalbürger an die Wand malen. Es mag auch sein, dass unausgesprochen noch der nazistische Ungeist sich rührt, ein fatales Erbe, dessen Spuren einfach nicht zu tilgen sind. Das Böse vererbt sich leichter als Gutes, als Güte, als Gelassenheit, als guter Wille, mit den Folgen einer unfasslichen Bevölkerungsexplosion »da unten« fertig zu werden. Schlechte Aussichten für die nächste Zeit.

Nicht allein mit Freud, mit Sacher-Masoch, mit dem Siegeszug der Psychoanalyse geriet der Begriff der »Unmenschlichkeit« ins Flackern. Noch wird, aus Mangel anderer Begrifflichkeit, zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit unterschieden; noch werden Adjektive wie »bestialisch« und »tierisch« missbraucht, obwohl kein Tier, keine »Bestie« sich nachweislich wie ein Mensch gegen Seinesgleichen oder -ungleichen benommen hätte. Aus der unendlichen Fülle der Dokumente über die Naziuntaten (eigentlich Taten) erfuhren wir, dass die schlimmsten Henker und Schlächter die treu-sorgendsten Ehemänner und Väter gewesen sind, hilfsbereite Mitbürger und Tierfreunde.

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Deutschland unter Hitler hatte die vorbildlichsten Tierschutzgesetze, und man hätte sich empört, wenn irgendwer einen Hund an den Hinterpfoten aufgehängt hätte, bis der tot war, oder ein Pferd so lange gepeitscht, bis die Haut in Fetzen hing. Dergleichen hätten die beamteten Mörder keinem Tier angetan, Menschen waren da etwas ganz anderes, nämlich, im Gegensatz zum Tier, minderwertig. Da durfte man, nicht die Sau, sondern den Bluthund, der in viel zu vielen Individuen schlummert, rauslassen, eben menschlich agieren. Wir wollen uns nichts vormachen: Das Untier Mensch ist zu allem fähig, weil es eben seine Tierheit eingebüßt und sich zivilisiert hat.

»Die menschlichen Züge teilt der Mensch mit den Tieren, besonders den Herdentieren, Freude, Trauer, Sehnsucht, alles Unmittelbare. Was er für sich allein hat, die bewußte Planung, die Fähigkeit zur Abstraktion und zu flexibler Verfolgung bestimmter Ziele hängt weit mehr mit dem Unmenschlichen zusammen als mit dem, warum er liebenswert ist. Der Haß selber gehört ihm denn auch ausschließlich zu. Der Schritt vom Tier zum Menschen steigert die Schuld, die allem Leben eigen ist.«

Aus: Max Horkheimer »Nachgelassene Notizen 1949-1969«, B. 14 der »Gesammelten Schriften«, S. Fischer 1988.

Doch das Maß an Schuld ist wohl unterschiedlich, und das Abwägen keineswegs einfach. Dass jedoch der Hass ihr Wachstum befördert, ist eindeutig. Und dieser Hass kann, ohne jegliche Erfahrung des Hassenden, ideologisiert und institutionalisiert werden.

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Man lernt leicht, den oder die Anderen zu hassen, wird einem nur ausgiebig wie ein Mantra der (fiktive) Grund des Hasses eingeimpft. Darauf reagiert der Mensch eben menschlich: Er glaubt, was man ihm oft genug sagt, noch dazu, wenn dieser Hass, außer mit den Vorteilen der psychischen Enthemmung, mit materiellen verbunden ist. An dem von Juden in Berlin zurückgelassenen Eigentum haben sich nachweislich eine Million Berliner bereichert: Sind das alles Unmenschen gewesen? Sie haben sich jedenfalls schuldig gemacht, denn sie wussten, dass die Juden nicht zurückkehren, und sie wollten nicht wissen, warum solche Rückkehr unmöglich sei. Also Mitschuldige, Helfershelfer, Tatbegünstiger - eine Million Unmenschen? Nicht im Sinne heutigen Wortgebrauchs. Eben Menschen, wie Menschen sind. Und das ist wohl schon Urteil genug.

Nach der von Karl Kraus geprägten Formel, dass je länger man ein Wort ansehe, es umso ferner zurückblicke, geriet ich an das Adjektiv »anheimelnd«. Dabei verlor es seine gängige Bedeutung und entbarg dabei das Heimliche sowohl wie das Unheimliche. Erinnerungen ausgrabend, versetzte ich mich in die Vergangenheit, in die elterliche Wohnung, in der ich manche Tage allein verbrachte, mir selber und der darin waltenden Stille und Verborgenheit überlassen, die ich steigerte, indem ich mich in den Kleiderschrank zurückzog, in den Duft von Mottenkugeln, von Parfüm und menschlicher Ausdünstung. Auch den Bücherschrank missbrauchte ich als Versteck, obwohl mich ja in der menschenleeren Wohnung ohnehin niemand aufstöbern würde.

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Ich räumte das letzte Fach des Bücherschrankes aus, schob mich da hinein wie in ein Kolumbarium, zu keiner Bewegung mehr fähig, nur noch in der Lage, die Schranktür zuzuziehen. Da lag ich wie in einem Sarg, wie in einem Fach aufbewahrt, und atmete den Geruch von Holz und vom Papier der Bücher über mir. Dabei war ich nicht einsam, nicht im mindesten, nur allein und gar bei einem, der Ich zu sein mir rätselhaft erschien. Oder ich zog mich unter den Esszimmertisch zurück, die Tischdecke hing ziemlich weit herunter, zeltähnlich, sodass ich unter diesen Vorhängen nur ein paar Teppichmuster erkennen konnte. Noch war mir der Name Walter Benjamin unbekannt. Es war auch nicht um Neunzehnhundert, sondern zu einer schon auf die Katastrophe vorrückenden Zeit. Es war ein seltsames Empfinden in dieser meiner Abgeschiedenheit, ein Stillstand der Minuten und Stunden, ein Aufenthalt in einem Hörselberg, darinnen nur die Frau Venus fehlte, eine Person, die für mich damals noch keine Rolle spielte. Ich war meinen Fantasien überlassen, die das Anheimelnde wie das Unheimliche freisetzten, ein Wohlgefühl und zugleich eine Beängstigung, der Einzige auf der Welt zu sein. Später, als scheinbar Erwachsener, erlebte ich Ähnliches in dürftig beleuchteten Kellerräumen oder in den Ruinen ausgebrannter Häuser, bewohnt von den Gespenstern ihrer ehemaligen Bewohner. Beim Auf-und Absteigen in den alten schweigenden Häusern über ausgetretene Stufen erfuhr ich immer wieder erneut den Schauder und das umfangend-Nahe, als käme ich nach Hause zu den Toten, in einem Modus der Heimkehr, nur undeutlich ahnbar in einem Moment, der dauerte und doch Ewigkeitswert besaß, vielleicht ein unerkanntes Trauma, das sich lange danach zu Träumen wandelte, zur Wiederkehr meiner gestrigen Existenz.

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Das Verlangen, sich zu verstecken, war gewiss meiner damaligen Situation geschuldet. Vor mir wurde nicht verheimlicht, was den jüdischen Bekannten und Verwandten geschah, wie sie litten, sich zu erhalten und ihre aussichtslose Lage zu bewältigen suchten. Wahrscheinlich glaubte ich mich von der Außenwelt unerreichbar, indem ich mir Unterschlüpfe schuf, als Reaktion auf die drohenden Vorgänge vor der Wohnungstür. Eingekapselt fühlte ich mich wohl, eine menschenförmige Schnecke in ihrem Gehäuse und dem unvorstellbaren Unheil entronnen. So wird man früh von der Geschichte, falls man sie überlebt, auf Lebenszeit geprägt. Unwiderruflich.

Es melden sich Wortbildungen aus irgendwelchen kleinen grauen Zellen, überflüssige Produkte von Synapsen, etwa »Unlustmolch«. Oder »Orgasmuskete«, »Verfür-sorger«, »Scheingeilig«, »Promiskuitäter«, »Orgiasthma« und derlei Unfug mehr ...

Gerüche als Gedächtnisträger. Während im Laufe des Daseins das Erinnern schwächer wird und ohnehin betrügerisch agiert, bleibt die Nase ein unbestechlicher Garant, der einem mit großer Eindringlichkeit Vergangenes zurückzurufen vermag. Der Geruch von brennendem Holz, aus der Nachbarschaft herübergeweht, bringt den einst erlebten Krieg, die abgefackelten Städte dem Nasenbesitzer erstaunlich nahe. Geruch schafft Gemeinsamkeit. Ein Zündplättchen (wer kennt das heute noch), in einem blechernen Kinderrevolver, riecht nach dem

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Schuss unvergesslich und versetzt anwesende Gleichaltrige per Odeur in gewesene Zeiten. Gerüche vermitteln Kindheit, der modrige Duft stehenden, von Entengrütze überwuchertem Wassers bleibt wie ein unverlierbares Parfüm bestehen. Küchengerüche, angenehm und unangenehm, Geruch von Mottenkugeln aus dem elterlichen Kleiderschrank, die Seeluft von einem Urlaub am Meer, die Gerüche sind nicht zahllos, doch stets mit einem mental eindringlichen Moment verbunden. Sie lügen nicht, und was sie evozieren, scheint glaubhaft unverändert zu sein. Weißt du noch - die erste Orange im kalten Frieden?

Natürlich schreibe ich gegen das Vergessen an, vor allem: gegen meine Vergesslichkeit. Zu nichts anderem nutzt mir nun das Schreiben als zum Gedächtnistraining. Wie andere alte Leute sich mit Kreuzworträtseln befassen, beschäftige ich mich mit der Herstellung von Literatur. Wie heißt es bei Kurt Tucholsky? »Dauerlauf am Ort«. Genau das ist es für einen, der nicht mehr gut zu Fuß ist.

In der Lethargie unserer Gesellschaft rumort es. Ante portas ist kein Hannibal, sondern eine hokusaiähnliche Woge von Menschen. Man ahnt, es stehen gewaltige Veränderungen bevor. Noch sind wir human, menschen­freundlich, mitleidig, hilfsbereit, doch es mehren sich die Zeichen, dass diese Adjektive sowohl aus unserem Sprachgebrauch wie aus unseren Köpfen verschwinden, was ja einander bedingt. In einer Keuner-Geschichte lässt

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Brecht noch die vor der Tür jammernde Katze ins Haus mit dem Kommentar für den Erfolg: »Schreien - das ist schon etwas!« Wobei BB vergaß, wie viele Schreie schon vordem ertönten, ohne dass jemand den Hilflosen eine Tür geöffnet hätte.

Noch einmal die Menschenexpansion. Es entsteht die Frage, wie viele von den bis 2050 zu erwartenden zusätzlichen zwei Milliarden ein Auto fahren wollen? Vermutlich Millionen. Optimisten meinen, bis dahin werde sich der Individualverkehr reduzieren, aufgrund öffentlicher Verkehrsmittel. Der Pessimist fragt da zurück: Woher die Energie dafür? Es muss doch zwangsläufig für allen Verkehr, ob privat, ob kommunal, Energie erzeugt werden, und solche Erzeugung ist ohne Abfall, ohne Ressourcennutzung nicht machbar. Der Optimist ist ein standhaft Gläubiger, der stets auf innovative Gehirne vertraut, die schon alles richten werden. Es sei da nur an den Jubel erinnert, den die nun alles, alles bewegende Atomkraft vor fünfzig Jahren hervorgerufen hat, vor Tschernobyl, vor Fukushima, vor der Einsicht, den Restmüll für die nächsten dreißigtausend Jahre könne man gar nicht »entsorgen«, vielmehr würden die Sorgen mit den wachsenden Mengen Schrott zunehmen. Als der Kampf gegen die Atomkraft anfing, lautete eine den besagten Kampf ironisierende Parole WIR BRAUCHEN KEINE ATOMKRAFT - BEI UNS KOMMT DER STROM AUS DER STECKDOSE! Die ungelöste Frage aber bleibt, woher kommt künftig, was aus der Steckdose fließt ? Was Autos antreiben soll, Eisenbahnen, Fabriken, Haushalte, Städte beleuchten? Inwieweit sind Wind und

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Sonne nutzbar? Und was eigentlich ist die Kehrseite dieses Nutzens, denn dass Energie ohne Schädigung in anderen Bereichen gewonnen werden kann, ist zu bezweifeln. Urgroßvater Karl M. hat mit seinem Verweis auf die immer und überall gültige Dialektik uns verunsichert: Da muss doch, selbst bei der menschenfreundlichsten Energieversorgung, irgendwo ein Haken sein, ein Pferdefuß, der irgendwann sichtbar oder fühlbar werden wird, wenn wir dieses Grundgesetz aller von Menschen gemachten Dinge nicht wahrhaben wollen.

Nicht leicht, nicht einfach, zu schreiben, was einen persönlich betrifft, und das gar noch bis ins Mark. Es ist stets das Erinnern, dem zu entgehen wohl niemand fähig ist. Manches überdeckt der Tag, doch irgendwann steigt es empor wie Hamlets Vater aus der Gruft misslingenden Vergessens. So stehe ich immer wieder vor dem schwarz gebeizten Grammophonschrank, geschwungene Stützen, hinter zwei zu öffnenden Klappen ein großer Lautsprecher, darüber der mit grünem Filz bezogene Plattenteller und der chromblinkende Tonarm mit der nadelversehenen Dose, die einer Schellackplatte Töne entlocken, Musik und Gesang. Diesenfalls erklingt, das Kind, das ich war, faszinierend, eine quäkende Stimme, nämlich die von Kurt Gerron, der mit »Und der Haifisch, der hat Zähne ...«in Brechts »Drei-Groschen-Oper« auftrat. Zu Brecht habe ich von dieser ersten Begegnung in der Wohnung meines Großvaters mit seinem Opus magnum nie gesprochen. Vielleicht war nicht der richtige Moment gegeben, vielleicht hielt ich auch solche Bemerkung für eine missverständliche Devotion an ihn und sein Werk. Aber

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mir ist unvergesslich in diesem kleinen Zimmer in der Weißenburger Straße geblieben, was da aus den Schalltrichtern heraustönte. Erst später verbanden sich der Sänger und mein Großvater auf eine schlimme und böse Weise miteinander. Denn beide wurden bei Beginn der Menschenvernichtung in Deutschland nach Theresien-stadt deportiert.

Möglicherweise sind die beiden Männer sogar einander begegnet, da die zu einer Zwangsgemeinschaft zusammengepferchten Juden, ein großer Teil aus Deutschland stammend, vermutlich enge Kontakte hatten. Über den Tod meines Großvaters liegt keine Auskunft vor, über sein Ende weiß ich nichts, obwohl zwei entferntere Verwandte als Überlebende zurückkamen, die auch ihn gut gekannt hatten. Von Kurt Gerron jedoch weiß man, was aus ihm wurde. Nachdem er im Auftrage der KZ-Betreiber einen Propagandafilm mit dem höhnischen Titel »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt« gedreht hatte, wurde er, entgegen den Zusagen des SS-Kommandanten, er würde geschont, nach Auschwitz abtransportiert. Beschrieben wird eine gräuliche Szene, da Gerron auf dem Bahnsteig vor den SS-Wachmannschaften niederkniet und um Gnade fleht, die natürlich nicht zu erwarten gewesen war. Danach verliert sich seine Spur, sein Ende ist hingegen gewiss. Das meines Großvaters will ich mir nicht vorstellen, ich verdränge diese Möglichkeit, zu deren Bildwerdung so viel fotografisches Material vorliegt. Wenn ich die Dokumentaraufnahmen nach der Befreiung der östlichen Lager sehe, fürchte ich immer, unter den Toten ein mir bekanntes Gesicht zu entdecken, was bei dem Zustand der Leichen undenkbar ist. Die einst Lebenden sind verschwunden, verschwunden das schwarze Grammophon, die Schellackplatten, das Haus, darin Kurt Weills Musik erklang, versunken im Nichts, aus dem kein Weg zurückführt.

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Astronomen und Statistiker sind die Liebhaber von Zahlen. Was nicht gezählt und berechnet werden kann, das »zählt« eben nicht. Wie aber gehen Astronomen mit ihren »astronomischen« Zahlen um? Liest man, dass dem Universum 220 Milliarden Jahre Zeit bis zum totalen und vollkommenen Ende gegeben ist, fragt man sich doch, wie erträgt ein Wissenschaftler diese Ungeheuerlichkeit? Solch Zeitraum entzieht sich doch jeglicher Vorstellung, und selbst die lebhafteste Fantasie kann sich da gar nichts ausmalen. Eines jedenfalls ist gewiss: Sollte sich dieser Fall als inkorrekt erweisen, die Existenz des Universums also länger oder kürzer währen, dürfte eine Reklamation sich als überflüssig erweisen. Statistiker jedoch, die sich ebenfalls mit der Zukunft befassen, sind bereit, ihre Prognosen, falls kurzfristige, zu korrigieren. Das heißt, ihre Errechnung des menschheitlichen Wachstums haben sie für die nächsten fünfzig Jahre nach oben berichtigt: Jetzt tippen sie auf 9,3 Milliarden Erdenbürger. Wobei ich fürchte, dass diese Kalkulation tatsächlich dem Tipp auf einem Lottoschein gleicht: Ob die Zahl richtig oder falsch war, das wird in 3 5 Jahren niemanden mehr interessieren. Nur fehlt mir an der Zahl eine weitere Schätzung, die zur Vollständigkeit des Unheils fehlt. Wie sollen die kommenden zwei Milliarden Münder gestopft werden? Und um wie viele Autos nähme der Verkehr auf wie vielen Straßen zu?

Wir vernehmen oder lesen ständig aus Instituten oder Forschungseinrichtungen hervorspru-

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delnde Zahlen, ohne dass ihrer Begleitumstände dabei gedacht würde. Und die meisten Menschen denken sich auch nichts bei dieser Zahlenschwemme, weil Menschen sowieso Schwierigkeiten mit dem Denken haben und es so weit wie möglich unterlassen, denn es erzeugt schlechte Stimmung, gar Depressionen, also sieht man, wie eine falsche Metapher, nicht der Wahrheit ins Gesicht, sondern von ihr ab.

Baden-Württemberg vermisst 500 Werke berühmter künstler

Stuttgart, 22. Juli. In Baden-Württemberg sind etwa 500 Kunstwerke, die mit staatlichen Geldern beschafft worden sind, nicht mehr auffindbar. Das hat der Rechnungshof des Landes in seiner jüngsten Denkschrift festgestellt. Es handelt sich um »Kunst am Bau«, die seit den fünfziger Jahren beschafft worden ist.

Der Landesbetrieb »Vermögen und Bau Baden-Württemberg« betreut etwa jjoo Kunstwerke, die katalogisiert wurden. Seit dem Jahr 2010 seien Kunstwerke im Wert von zwei Millionen Euro angeschafft worden. Seit 200) sind alle vorhandenen und hinzugekauften Kunstwerke in einer Datenbank erfasst. Mitarbeiter des Rechnungshofs analysierten die Datenbank und stellten nun fest, dass 500 Kunstwerke nicht mehr auffindbar sind.

Oh Muse, verhülle dein Haupt! Früher hätte man politisch inkorrekt ein derartiges Vorkommnis »balkanische Verhältnisse« genannt, da einst Südosteuropa als Wiege des Schlendrians galt. In Deutschland hingegen herrschte die allseits hochgelobte Ordnung, in der kein Spatz, ohne

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dass es polizeilich registriert wurde, sich vom Dach zu fallen erlauben durfte. Vorbei, gewesen. Eine merkliche Nachlässigkeit auf vielerlei Gebieten hat sich eingeschlichen und eingeschliffen. Wie die Pünktlichkeit von Zügen bereits als Ausnahme vermerkt wird, die schleppenden Postlieferungen zur Gewohnheit absanken, wie keine Bauten, sei es der Berliner Flugplatz oder die Hamburger Philharmonie, jedes neue Versprechen von Fertigstellung brechen, so geht es auch in anderen Bereichen zu. Wobei das Verschwinden von 500 Kunstwerken schon eine besondere Leistung des Laissez faire darstellt. Niemand fühlt sich in unserer Gesellschaft mehr so recht für Schlamperei und Unterschleif verantwortlich. Wie heißt es bei Kurt Tucholsky? »Lassen Sie Ihren Sohn Beamter werden. Da hat er Verantwortung, aber trägt keine.« Zugleich mit der Ignoranz gegenüber einer als debil angesehenen Allgemeinheit entsteht eine radikale Hemmungslosigkeit, diese zu betrügen. So der Volkswagenkonzern, der im Überschwang seiner wirtschaftlichen Dominanz und der damit verbundenen Verdummung sich nicht entblödet, elf Millionen seiner Autos in der Abgastechnik zu manipulieren, also den in die Umwelt geblasenen Stickstoff scheinbar zu reduzieren. Erschütternder als der Betrug ist dessen Unverfrorenheit und die Überheblichkeit, keiner werde das bemerken. Doch der Zufall bringt irgendwann alles an den Tag. Wie eben die Mitarbeiter des Bundesrechnungshofes zufällig den Verlust von 500 Kunstwerken entdeckten. Aber wo diese nun gelandet sein mögen, bleibt fernerhin ungeklärt. Wo die Bilder jetzt hängen, um Gemäldesammler und Kunstfreunde zu erfreuen, entzieht sich der Kenntnis der Öffentlichkeit, die hinters Licht zu führen zum Sport geworden ist und zum System, das von Politikern vorexerziert wird.

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Menschenkenntnis bezieht man nicht aus der Literatur, sondern ausschließlich aus den eigenen Erfahrungen. Anfänglich war ich verblendet, und vor allem durch Literatur. Früh in der Jugend mit dem Lesen angefangen, verfiel ich dem Irrglauben, Menschen seien so, wie sie mir aus den Buchseiten entgegentraten. Aber da waren sie wahrlich ein-seitig. Die Doppeldeutigkeit der Person, die Bodenlosigkeit des Individuums, das, was beim armen Büchner ein Abgrund ist, wenn man hineinblickt, wurde mir erst später klar und manchmal zu spät. Ich selber bin ja nicht anders, doch im Umgang mit mir eher zum Vertuschen bereit als gegenüber anderen. Aber so sind wohl alle: gnädig zu sich, harsch zu anderen. Zweierlei Maß - das ist unsere Richtschnur.

Wie verhält man sich angesichts der Asylantenmassen, von deren Hereinströmen kein Ende abzusehen ist? Man erkennt eine kaum verhohlene Ablehnung, ein verstecktes Widerstreben, verborgen, weil es der politischen Korrektheit widerspricht und weil man ja innerhalb einer Gesellschaft aufwuchs, deren öffentliche Moral einem zur ungeprüften Selbstverständlichkeit wurde. Eine bisher noch als Minderheit geltende Menge besitzt da weniger Hemmungen, sich ablehnend gegenüber Flüchtlingen zu verhalten. Die »Das Boot ist voll«-Mentalität herrscht in wachsenden Schichten vor, insbesondere bei den Unterprivilegierten, weil sie selber die sozial Abhängigen

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und Mittellosen sind und die Verschlechterung der allgemeinen Lebensumstände als Erste befürchten müssen. Sind sie bisher vom sozialen Netz aufgefangen worden, so befürchten sie nun eine Konkurrenz in der Armutssphäre. Ihr Widerwille, gar Hass, gegen die bürgerliche, immerhin ziemlich saturierte Gesellschaft richtet sich nun gegen jene, die ihren Status bedrohen.

Warum bloß geriere ich mich seit Beginn meiner Aufzeichnungen als eine Art von Chronist signifikanter Unsäglichkeiten? Weil ich wohl glaube, dass Menschen in all ihrer Sonderbarkeit, in ihrer Absurdität und in ihrer gesellschaftlichen Deformation ganz besonders unverhüllt in Erscheinung treten. Die Außenseiter sind nur der starke Reflex des sonst verborgenen Innenlebens einer Gattung, die unauflöslich der Natur angehört, obwohl sie sich von ihr emanzipiert zu haben scheint. Welch ein Irrtum! Das zu notieren, zu fixieren, berührt irgendwen so wenig wie jener berühmt-berüchtigte Schmetterling, der den Tornado in Gang setzt. Meine Notate besitzen keine Legitimation durch eine hochmütig-verblasene Berufung auf irgendeinen ethischen Impetus. So wenig wie der hochgeschätzte Montaigne, mit dem ich mich keineswegs vergleiche, keine höhere Order für seine »Essais« benötigte, so wenig ist mir an höherer Gunst, an Beifall, gar an Claqueuren gelegen. Keine Spekulation auf Nachleben im Wort. Der gelebte Moment des Schreibens zählt, alles Übrige trägt die Abfallbeseitigung mit sich fort. Jenes flehentliche »Lieber Leser, hier serviere ich Dir eine leckere Mahlzeit ...«, ist mir fremd. Ich habe mir, teils mühevoll, teils leichthin, einen schlechten Ruf geschaffen, als Schwarzseher, Nihilist, Untergangsprediger, und es befriedigt mich auch nicht, mich in der endgültigen Gegenwart bestätigt zu sehen und meine Befürchtungen verwirklicht. Meine Zeitzeugenschaft reicht mir. Nun denn!

Die Mitteleuropäer werden heutzutage alle so alt, weil in allen Lebensmitteln Konservierungsstoffe enthalten sind.

Die neue Völkerwanderung ist über uns hereingebrochen. Ein Menschenstrom ungeahnten Ausmaßes, von dem kein Ende abzusehen ist. Immer mehr machen sich südlich des Mittelmeeres auf den Weg ins gelobte Land Europa, von dem sie träumen wie einst die Auswanderer von Amerika. Nur steht hier und heute keine »Statue of Liberty« am Tor mit dem Versprechen auf ein glückliches Leben. Die Aus- und Eingewanderten merkten bald, dass Freiheit kein Zuckerschlecken ist, sondern nur eine Chance, und zwar die einer weiteren Bewährung. Heute verführen kriminelle Schlepper in Albanien, also vor unserer Haustür, Arme mit der billigen und nur Naiven glaubhaften Legende, in Deutschland erhielte jeder Flüchtling ein Haus, ein Auto und Arbeit. Zwar glauben Verzweifelte gar zu gern Unwahrscheinlichkeiten, doch solche Lockmittel für bare Münze zu nehmen, verweist auf einen Geisteszustand, der nur als Dummheit bezeichnet werden kann. Aber Dummheit war eh und je der fruchtbare Boden, auf dem Versprechungen aufblühten. Haben wir doch selber in unserer umfassenden Naivität geglaubt, nach dem Kriege bräche eine Zeit an, die mit

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vollem Recht unter dem Signet von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit stehen würde. Wir waren keineswegs schlauer als die Flüchtlinge heute. Heute sind wir die gebrannten Kinder angesichts derer, die die Brandmarkung noch vor sich haben.

Mit einer billigen und bösen Genugtuung sehe ich dem »Untergang des Abendlandes« zu. Ich habe es ja gleich gesagt, aber keiner wollte auf mich hören! So könnte ich meinen vielgescholtenen »Pessimismus« kommentieren, scheue aber davor zurück, weil ich meine Mitmenschen nur zu genau kenne: Sie schlugen von jeher jede Warnung in den Wind der Geschichte, der ihnen wie eh und je den blindmachenden Sand der Ignoranz in die Augen trieb. Recht gehabt zu haben ist unerfreulich. Wer 1939 den Krieg erwartet hat, konnte sich nicht freuen, als er begann. Im Gegenteil: Wenn das Befürchtete und bänglich Erwartete eintritt, erzeugt es eine große Traurigkeit, weil unter dem Schild des Rechthabens das Fünkchen Hoffnung glomm, es möchte doch vielleicht noch einmal das Schlimme nicht geschehen. Doch das Schlimme und Schlimmste geschieht mit Sicherheit stets entgegen der dürftigen Illusion, der sogenannte Kelch (der Gifttrank) könne an einem vorübergehen. Ich habe aus der Vergangenheit gelernt, dass Menschen nichts lernen und nicht bereit sind, den Warnungen zu folgen. Die Lehre bestand unter anderem darin, dass Menschen noch vor den Türen der Gaskammern glaubten, sie würden nur geduscht. Unsere Gattung ist unbelehrbar, ihr Naturell erlaubt ihr nicht, eine Zukunft zu imaginieren, deren Verheerungen durch die angewendeten Mittel und Metho-

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den so gut wie sicher sind. Mit welchem Enthusiasmus zogen 1914 die jungen Männer »ins Feld«, wo sie doch angesichts der technischen Entwicklung ihrer Heimat hätten voraussehen können, was sie erwartet. Um nicht lange danach, zwar mit weniger Begeisterung, nochmals in die selbstgestellte Falle zu tappen. Der Mensch als Krone der Schöpfung - ein mephistophelischer Scherz, über den zu lachen nur Zynikern möglich ist, zu denen ich, was ich manchmal bedauere, nicht gehöre.

Es ist ein großer roter Pick-up, mit dem ich durch die Straßen rase. Immer mehr Gas gebend. Da scheint eine Sperre aufzutauchen, zwei Lastwagen schräg zur Straße, nur eine schmale Öffnung zum Durchfahren, ich schaffe es und presche durch. Dahinter queren Kinder die Straße, ich kann nicht mehr bremsen, etwas schlägt gegen die Windschutzscheibe, ich fahre weiter, schnell weg von diesem Ort. Später halte ich vor einem Restaurant, in das ich eintrete, immer noch grübelnd, ob ich wirklich ein Kind überfahren habe oder was da eigentlich mir geschehen ist. Ich fühle mich schuldig, verspüre dazu große Angst, erwischt zu werden, bin jedoch unsicher, was sich in diesem Moment der völligen Adaption an die Maschine ereignet hat. Um mich herum Leute, schwätzend, trinkend, ich zwischen ihnen, ganz in mich gekehrt, zwanghaft den Moment des Unglücks (falls es denn eines war) rekonstruierend, was mir aber nicht gelingen will.

Was wird mit mir werden, was wird aus der Sache sich für mich ergeben, welche Schwierigkeiten erwarten mich, wenn tatsächlich stimmt, was ich nur schattenhaft wahrgenommen habe? Sehr geehrter Herr Morpheus -verschonen Sie mich künftig mit solchen Träumen.

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Der japanische Hersteller eines Roboters mit menschenähnlichen Zügen hat die Käufer vor Sex mit dem Hu-manoiden gewarnt. In der Gebrauchsanweisung heißt es, Nutzer dürften »keine sexuellen Handlungen oder anderes unanständiges Verhalten« mit den Geräten anstellen. Andernfalls drohten Strafen - welche, wird nicht erwähnt, ebenso wenig wie der Hersteller etwaige Unzucht mit dem Droiden aufdecken will. Der 120 cm große Plastikroboter bewegt sich auf Rollen. Er kostet 1 joo Euro, die ersten 1000 Exemplare waren in Minuten ausverkauft.

Bei bestimmter Nutzung des Roboters (der Roboterin?) ergeben sich sofort entscheidende Fragen. Welche Art sexueller Handlungen sind wohl gemeint? Und was ist ein unanständiges Verhalten dem Gerät gegenüber? Und weiter: Ist der Apparat in der Lage, per Funk etwaige Annäherungsversuche seines Besitzers einer wachsamen Moralzentrale zu melden? Kommt dann die Sittenpolizei und nimmt den Maschinenschänder fest? Ist es denkbar, dass eine Bürgerinitiative für einen straffreien Umgang mit der technischen Novität plädiert, um eine Gesetzes-novellierung wegen verbotenen Missbrauchs eines huma-noiden Helfers zu verhindern ? Wie stets bei neuen Erfindungen sind die rechtlichen Umstände ungeklärt (siehe Drohnen). Der Verkaufserfolg des metallenen Heimassistenten weist indirekt auf geheime Wünsche hin, denn, laut Wolf Biermann, »Was verboten ist, macht uns gerade

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scharf ...«. Woher stammt Japans Technikversessenheit? Wollte man ins Blaue hinein spekulieren, möchte man vermuten, dass sich bereits im damaligen Kriege die Leidenschaft für Funktionalitäten herausbildete, eine Folge der vorhergehenden Isolation vom Westen, ein Nachholbedarf, der wohl noch anhält. Der militärischen Invasion folgte die technische, ein Umsichgreifen besagter Obsession bis in die Intimsphäre. Japan entsandte keine Soldaten mehr, sondern Kameras und Autos: die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. So erhalten wir eines Tages eine fabrikneue Partnerin, deren Anweisungen wir zu folgen haben, es sei denn, wir müssten die entsprechenden Konsequenzen tragen.

»Altersschwäche: ... beim Manne in der Mitte der Vierziger Jahre, beim Weibe schon früher... die Gewebe der einzelnen Organe werden schlaffer oder saftleerer, zäher, kleiner. So wird die Haut dünner und trockener... auch auf das Gehirn ... die geistigen Fähigkeiten sinken; daher die Vergesslichkeit, Blödsinnigkeit und das kindische Wesen...«

Aus dem Brockhaus von 1905.

Soweit die damalige Wissenschaft über den Prozess des Alterns, ein verfrühtes Todesurteil über jene heute als Senioren bekannte Menschengruppe, die, zumindest in Mitteleuropa, auf dem Wege zur Mehrheit ist. Die Dominanz der Älteren macht sich schon deutlich bemerkbar: Sie gelten als Zielobjekte der Werbung, sie besitzen (noch), im Gegensatz zu Jüngeren und Jungen, das meiste Geld und haben die meiste Zeit, es auszugeben. Der Er-

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folg der Kreuzfahrten auf Schiffen, die liegenden Wolkenkratzern gleichen, ist ungebrochen. Das Reisen wird immer bequemer, geführte Touren durch die ganze Welt sind beliebt, und man kann ja seine Barschaft ohnehin nicht über das näher rückende Ende hinaus nutzen. Man begegnet Frauen reiferen Alters, die von Mexiko oder Indien sprechen, als hätten sie nur einen Kurzbesuch beim Nachbarn gemacht. Es gibt keinen Ort, kein Städtchen in Deutschland, das nicht Unterhaltungen aller Art für Rentner anbietet: Malkurse, Museumsbesichtigungen, gemeinsame Ausflüge, Theatergänge, kollektive Wanderungen zu mehr oder minder interessanten Sehenswürdigkeiten, Beteiligungen am ersten Spargelessen, an einer Weinprobe, an einem Dackelrennen, an Lehrstunden fürs Kochen, Stricken, Tanzen, Musizieren, Singen. Die Alten von 1905 sind ausgestorben, die Greise und Greisinnen von heute sind eine vitale Bande unternehmungslustiger Leute, für die das Leben jetzt erst anzufangen scheint, nachdem sämtliche vorhergehenden Mühen überstanden sind. Die Lebenserwartung, jedenfalls in unseren Breiten, ist gestiegen, Siebzigjährige sind ob ihrer Kenntnisse und Erfahrungen gefragt, indes die jüngeren Generationen energieloser erscheinen als die vorhergehenden. Altersschwäche in der Mitte der vierziger Jahre, »beim Weibe schon früher« ? Wie schlecht hat es die gute alte Zeit mit ihren Menschen gemeint...

In der Presse, in den Medien sind nur die materiellen Umstände und Folgen des Flüchtlingsstromes nach Deutschland präsent. Nach den anfänglichen Willkommenskundgebungen veränderte sich die Bereitschaft, die

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Fremden freundlich aufzunehmen. Mit der Dauer ihrer Anwesenheit werden sie erst recht zu Fremden, da sich den eingesessenen Bürgern nun die Andersartigkeit der Ankömmlinge zeigt. Was sind das eigentlich für Leute, die plötzlich in größerer Anzahl unter uns leben? Wir kennen nicht ihre Sprache, nicht ihre Gewohnheiten, nicht ihren Glauben, nicht ihre Träume, ihre Wünsche, ihre Pläne, ihre Absichten. Unsere Unkenntnis dessen, was in den uns gleichartigen Geschöpfen stecken mag, beunruhigt. Was oberflächlich »Angst« genannt wird, ist jedoch das uralte Gefühl von Misstrauen, das Menschen eh und je voreinander hegten, wenn sie sich nicht näher kannten. Die Frage, ob das genetisch bedingt sei, ein Trauma aus unserer Frühzeit, lässt sich schwer beantworten. Ein dänischer Freund, der in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit dem Motorrad Afrika bereiste, erzählte mir, dass sich die Einwohner eines Dorfes vor dem nächstgelegenen fürchteten. Sie wagten es nicht, sich ins für sie als feindlich eingestufte Gebiet zu begeben. Auch erfuhr mein Gewährsmann, dass in Schwarzafrika zahllose verschiedene Sprachen und Dialekte existierten, die die Verständigung der Afrikaner untereinander nahezu unmöglich machte. Ohnehin sei die Angst ein ständiger Begleiter der Schwarzen, vor Tieren, vor Hexen, vor Zauberern, vor Geistern, eine tief eingewurzelte Furcht, wie sie vermutlich auch bei den Menschen der Frühzeit vorhanden gewesen sei. Und das ist, wie mir scheint, auch unser Erbe, zwar durch Zivilisation gebändigt, doch virulent wirksam. Obwohl wir, oberflächlich betrachtet, alle so gleichartig sind, merken wir erst die gewichtigen Unterschiede, sobald wir uns in anderen, auch anderen europäischen, Ländern längere Zeit aufhalten. Man fragt

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sich nach einiger Zeit »in der Fremde« (die ja nicht zufällig so genannt wird), ob man denn hier leben wolle, und verspürt sofort ein unabweisliches Unbehagen: Man merkt die eigene Nichtdazugehörigkeit. So fanden sich beispielsweise deutsche Emigranten in London zusammen, in Südafrika, in Amerika, eine kleine (herzwärmende, manchmal zänkische) Gemeinschaft bildend. Wie erst bei Menschen, deren Zusammenhalt familiärer, ursprünglicher, traditioneller, glaubensbedingter ist: Solche Bindungen und Verbindungen haben Bestand. Da helfen alle gutgemeinten Praktiken zur Integration wenig. Intellektuellen dürfte das leichter fallen, doch denkbar ist, dass ein Rest der Herkunft unauflösbar in der gewählten oder angeborenen Gesellschaft zurückbleibt. Und wenn am Ende der gelungenen Biographie Rudimentäres übrigbleibt, vielleicht die Vorliebe für bestimmte Speisen, für entsprechende Musik: Bestimmte Prägungen werden, wie es hochgestochen heißt, »interiorisiert«. So wenig, wie man sich selber kennt, so wenig weiß man darüber, was in einem latent schlummert, um vielleicht eines Tages unerwartet aufzuwachen. Man gehört zur Allgemeinheit, bis auf diesen Moment, da man aus dem Rahmen fällt, den man immer als einem zugehörig angesehen hat.

»bei dem enormen Fremdenverkehr und dem beständigen starken Wechsel der Bevölkerung steht die öffentliche Sittlichkeit auf einer ziemlich niederen Stufe ... und namentlich die frisch zugezogenen Elemente tragen um so mehr zur Verschlechterung der sittlichen Zustände bei, als man dem nächtlichen Treiben in zahlreichen Volkswirtschaften usw. mit Rücksicht auf die Wohnungsver-

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hältnisse und die Verschiedenartigkeit der Arbeits- und Genußzeit der einzelnen nicht leicht wirksam entgegenzutreten vermag ...«

Aus dem Brockhaus 1905 über Berlin.

Niemals wollte ich dazugehören, als Kind, als jüngerer Mensch. Man konnte mit mir nichts anfangen, und ich nichts mit den anderen, den Ausgeburten einer ableh-nenswerten Welt. Marsmenschengefühl, verschlagen auf einen fremden, feindlichen Planeten. Die Volksschule entließ mich als unbelehrbaren Schüler, nun sollte ich, musste ich in irgendeine Tätigkeit, eine Lehre eingeordnet werden. Mein Vater kannte aus besseren Tagen einige Kunden, die Käufer seiner Schreibblocks. Einer von denen leitete ein Büro, wofür oder welcher Beschaffenheit, bekam ich nicht heraus. Wegen der alten Bekanntschaft und aus Mitleid für den kleinen Halbjuden stellte mich der Mann ein und ernannte mich zum »Portokassenjüngling«: Ich hatte die Briefmarken zu verwalten, die andere Angestellte bei mir abholten. Sorgfältig hatte ich jede Marke in eine Kladde einzutragen, die wahrgewordene Ödnis verlorener Zeit. Mit meinem »Chef« fuhr ich mit der U-Bahn, irgendeine Besorgung zu machen, und kaufte mir auf dem Bahnhof eine französische Zeitung, ein Blatt der »Croix de Feu«, der faschistischen Petain-Partei. Die klemmte ich mir unter den Arm, damit ein jeder sehen konnte, dass ich ein Ausländer wäre. »Können Sie denn Französisch?«, fragte der »Chef«, ich verneinte, gab aber keine weitere Erklärung ab. So betont ein junger Außenseiter seine Sonderstellung auf obskure Art und Weise.

Damals lebte in Berlin wohl eine Million Ausländer, »Fremdarbeiter«, gebrandmarkt mit dem Aufnäher »P«,

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also Polen, »Ostarbeiter« gekennzeichnet durch ein »O«. Dazu kamen mehr oder minder freiwillige Hilfskräfte aus Holland und aus der Tschechoslowakei, ehemalige Angestellte der Schuhfabrik »Bata«: Diese wohnten in zivilen Unterkünften, auch bei uns im Hause, ich war mit ihnen auf Du und Du, nicht zu vergessen die französischen Kriegsgefangenen, auf der Uniformjacke mit schwarzer Farbe durch zwei Buchstaben »KG« stigmatisiert. Berlin war auf eine ungeahnte, unvorhergesehene Weise international geworden, wie es sich vor dem Kriege niemand hatte vorstellen und kein Brockhaus es hätte anmerken können.

Was mögen die Flüchtlinge, deren schier endlose Züge nun in Europa einfallen, wohl in ihren Träumen erleben ? Ein fremdes Gebiet, keinem Helfer zugänglich. Viele sind durch den erlebten Krieg traumatisiert, Schreckensbilder geistern vermutlich durch ihre Nächte, vielleicht auch nicht. Als wir unter dem Beschuss russischer Artillerie im Keller hockten, sitzend schliefen, wachte mein Vater fröhlich auf und sagte lächelnd: »Ich habe geträumt, ich bin in Amerika!« Der Traum kann auch eine Fluchtburg sein, ein Trost, etwas Begütigendes, das aus einer schlimmen Realität herausführt, zumindest sie überdeckt. Dem Traumgeschehen, wie es uns Freud übermittelte, traue ich nicht ganz seit den »Erinnerungen« des Wolfsmannes, ein erfinderischer Kopf, Freud düpierend. Mit einem Wort: Die beste Analyse ist mit Vorsicht aufzunehmen. Natürlich besitzen Träume Quellen, von denen manche verschüttet sind, ins Unbewusste verlagert, doch die meisten lassen sich auf das eigene Erleben, auf die eigene

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Biographie zurückführen, ohne besondere Verkleidung oder visuelle Vermummung. Woher meine Träume kommen, weiß ich nur zu gut, aber ich belasse sie, ungleich R. L. Stevensons Flaschengeist (»The Bottle Imp«), lieber in den Ganglien und nehme sie allen Unernstes in Kauf.

Es sei Krieg, erklärt der französische Präsident Hollande nach den Attentaten in Paris. Der nationale Notstand wurde ausgerufen. Bilder wie aus einer belagerten Festung gehen um die Welt. Zugleich reißen die Flüchtlingsströme nicht ab, die aus den Brennpunkten der Terroristen kommen, und man fragt sich, wie viele Terroristen wohl in den Menschenmassen vorhanden wären. Ein internationales Fußballspiel in Hannover wird kurzfristig auf Warnungen hin abgesagt. Es ist Krieg, und zwar einer, von dem kein Ende abzusehen ist, denn die »Gotteskrieger« finden ständig Nachwuchs und Zulauf, und ihre Geldmittel scheinen unerschöpflich. Der IS, der sogenannte Islamische Staat, nimmt täglich 1,5 Millionen Dollar beim Olgeschäft ein, ohne dass etwas dagegen unternommen wird. Und Saudi-Arabien kauft in Deutschland 80 Kampfpanzer, wobei man weiß, dass diese Waffengattung keineswegs für Verteidigungszwecke angewendet wird. Es braut sich da etwas zusammen, das die schlimmsten Befürchtungen weckt. Europa scheint endgültig befriedet, dafür ist der Nahe Osten zum Pulverfass für einen neuen Weltkrieg geworden, die islamischen Länder sind in eine Bewegung geraten, die sich mehr und mehr der Kontrolle entzieht. Täglich spricht man mit besorgten, beunruhigten Menschen, die ihre Hilflosigkeit und die ihrer Regierungen nicht begreifen können. Nach

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dem Ende des Kalten Krieges meinte man, vor einer Phase unbegrenzten Friedens zu stehen, was sich jetzt als Irrtum herausstellt: Es ist Krieg. Die Friedensgesänge sind verhallt, die Friedensdemonstrationen sind längst vorbei, die Friedensgebete in den Kirchen verstummt. Man spürt eine Spannung, eine Anspannung aufgrund mörderischer Ereignisse, bedingt durch das Erscheinen eines blinden Tötungswillens, eines mörderischen Hasses vorgeblich gläubiger Moslems auf eine Zivilisation, der sie nichts als eben ihren Hass entgegenzusetzen haben, und sei es um den Preis des eigenen Lebens, ähnlich dem Untergang der Nazis und ihrer Gefolgschaft, die sehenden Auges in den Tod gingen. Wird der damaligen Katastrophe nun eine fürchterlichere folgen ?

Jede persönliche Bekundung erscheint sinnlos und überflüssig. Wozu noch über Träume schreiben, wo der Kannibale ante portas steht? Sich der (noch) existierenden Natur erfreuen, wo 60 Millionen Individuen dieses Planeten auf der Flucht sind, um überhaupt erträglich zu überleben? Woher nimmt man noch den Mut oder die Kraft, Umstände und Vorgänge zu reflektieren, in deren Schlussphase die globale Vernichtung der Kultur steht? Der religiöse Wahn kennt nichts anderes als sich selber, indem er Erlösung von weltlichen Übeln verspricht, ohne Einsicht in die eigene, brutale Verfehltheit. Lichtjahre ist der Islam von der griechischen Antike entfernt, in der ein Satz wie »nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da« ausgesprochen wurde. Ein Satz, der wohl bisher in keiner Moschee zu vernehmen war. Immer wieder komme ich auf Theodor Lessing oder Günther Anders zurück: Fort-

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schritt ist etwas Mechanistisches auf dem Gebiet menschlicher Fertigkeiten, wie etwa von der Steinschleuder zur Maschinenpistole, wobei aber in der psychischen und geistigen Ausrüstung des Horstmann'schen »Untieres« sich nichts geändert hat, nichts sich ändern wird, nichts sich ändern kann. So wie wir unter dem Zeichen der Egomanie angetreten sind, so müssen wir auch einmal wieder abtreten. Erinnern wir uns des Rufers in der Wüste, auf den keiner hörte, denn die Wüste war längst verinner-licht, oder gedenken wir voll Mitleid Kassandras, die für ihre Warnungen getötet wurde: Wer ihrer auserwählten Aufgabe heute zu folgen wagt, wird zwar nicht gleich aufgehängt, aber, was genau so vernichtend sein kann, dem Totgeschwiegenwerden überantwortet.

Man dient doch nur sich selber, indem man sein Missbehagen abarbeitet, bitter befriedigt von dem Umstand, recht gehabt zu haben.

Wir leben heute in den Erinnerungen von morgen.

Eines Morgens wacht man auf und befindet sich in einer veränderten Welt. Wie über Nacht verwandelte sich das gewohnte, gewöhnliche Ambiente in eine vom verdunkelnden Schleier der Zukunft verhängte Gegend. Gestern noch schien alles so friedlich wie auf den Gemälden alter Meister, die ein sachtes Dahinleben zeigen, Stille und umfassende Ruhe. Nun ist diese Ruhe dahin. Nach jedem abgelaufenen Tag wagt man nicht, nach dem nächsten zu

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fragen, weil man die Antwort fürchtet. Vielleicht sollte man, wie im letzten Kriege, einen Koffer oder einen Rucksack mit dem Nötigsten versehen und in handgreiflicher Nähe aufbewahren. Vom Obergeschoss des Hauses hält man Ausschau, ob schon die Heere aus dem Dunkel der Geschichte sich nahen, die Sintflut des Unheils, das sich aus der Ferne über die uns nahen Gebiete ergießt. Wer einmal davongekommen ist, besitzt keine Garantie gegen Wiederholung. Auch Festungen wurden immer geschleift, Stadtmauern überwunden, selbst Troja hielt gegen die heimlichen Eindringlinge nicht stand. Es gehört Mut dazu, die Zeitung aufzuschlagen, denn die Nachrichten verschlimmern sich. Dabei scheint es, als wäre nichts geschehen, das Gras wächst unvermindert, Autos rollen ungerührt durch die Straßen, in den Verkaufsmärkten gehen Menschen umher, als wäre nichts geschehen. Die Vortäuschung normalen Lebens bewahrt den Anblick äußerer, äußerlicher Vorgänge noch für eine Weile auf, deren Ende jedoch nicht abwendbar scheint. Bei der Lektüre der Beschreibungen mächtiger Reiche und ihres Verschwindens, vor den Ruinen grandioser Städte verspürte man nicht die doch so eindeutige Warnung. Unbesorgt sich abwendend kehrte man in eine Gegenwart zurück, die bereits vorbei gewesen, als man ihrer noch habhaft schien.

Die Welt kann nicht besser werden, solange pro Sekunde zwei neue Menschen geboren werden: Als weitere Mitwirkende der Zerstörung.

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Frau D. beim Einkaufen getroffen. Sie gesteht ihre Sucht, Schweine zu sammeln, zumindest deren Vergegenständlichungen in allen handhabbaren Größen. Sie besitzt Hunderte von Exemplaren, ist aber neidisch auf eine andere Sammlerin im Rheinland, die es schon auf ein paar tausend gebracht hat. »Sammeln - eine unstillbare Leidenschaft« heißt ein Buch, das ich, einst selber ein obsessiver Sammler, mit Gewinn gelesen habe. Die Sammellust ist tatsächlich ein kaum zu beherrschender Trieb, und so kann ich, obwohl längst entwöhnt, Frau D. gut verstehen. Was unternimmt man nicht alles, um dieser Sucht zu frönen. Wo auch immer ich im Ausland gewesen bin, ich habe stets die entsprechenden Märkte und Läden aufgesucht und bin immer mit Fundstücken heimgekehrt. Wenn ich in London war, legte ich meine Touren so, dass ich Freitag, Sonnabend und Sonntag unterwegs sein konnte. Von einer Querstraße der Oxford-street ging es am nächsten Tag in die Portobello Road und am Sonntag nach Islington, fast fiebrig, jedenfalls adrenalinbelebt, zu den Händlern, den Hütern gravitatio-nell aufgeladener Schätze. Obwohl ich mir bewusst gewesen bin, dass meine Manie psychische Ursachen hatte, konnte ich nicht widerstehen, wie der Trinker, in Kenntnis der Folgen, nicht auf die Flasche verzichten kann. Am Ende besaß und besitze ich an die tausend Exemplare Spielzeug, räumte Bücher aus den Regalen in den Keller und füllte sie erneut mit meinen Beutestücken aus Turin, Birmingham, Stockholm, Paris und nicht zuletzt aus den USA. Dann aber erlosch eines Tages das Verlangen nach neuen alten Objekten. Distanz meldete sich. Zwar betrachte ich immer noch meine Sammlung mit Interesse, doch einem recht geminderten: So vergeht die Liebe, und

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es bleibt eine leichte Zuneigung bestehen, die aber keine Aktivitäten mehr auslöst. Das ist wohl das Schicksal aller Leidenschaften.

Durch eine Wüste in Arizona oder vielleicht auch in Neu-Mexiko oder Nevada (wo ich tatsächlich gewesen bin), also durch eine hügelige und leere Einsamkeit. Bis ein Haus, scheunenähnlich, auftauchte, und ich anhielt und ausstieg. Rüttelte an der Eingangstür, doch ohne Erfolg. Mit einem starken Ast, den ich nun in der Hand hielt, hebelte ich das Hindernis auf. Vor mir lagen tote Pferde und anderes Getier, ein furchtbarer Gestank schlug mir entgegen, aber ich betrat trotzdem den Raum: Hinter einem langen Tisch mir gegenüber saßen und standen Polizisten, ebenfalls tot und reglos. Was war wohl hier passiert? Im Rücken der schwarz uniformierten Leichen befand sich eine weitere Tür, die ich mit meinem Knüttel ein Stück öffnete: Da lag in einer Blutlache die Leiche einer Frau, halb zur Seite gedreht, das Gesicht verborgen. Ich spürte, wie mir immer bänglicher zumute wurde, rasch verließ ich diese unheimliche Fundstätte, stieg in den Wagen und fuhr aufatmend durch die Sandwellen davon, freilich in die Weglosigkeit, denn ich war vorher von der Straße abgewichen. Jetzt verlor ich die Orientierung. Erkannte in der Ferne ein Haus und steuerte darauf zu. Näherkommend erkannte ich, dass es sich um das Haus handelte, das ich eben verlassen hatte. Mir wurde angstvoll klar, dass ich nie wieder auf die Straße zurückfinden würde, nie wieder in eine zivilisierte Gegend. So beeilte ich mich, aufzuwachen, aber im Gegensatz zu anderen Träumen klebte dieser an mir wie Pech und Schwefel.

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Woher, aus welchen Abgründen, tauchten solche Schreckbilder auf? Das beschäftigte mich weiterhin, bis meine Erinnerung eine reale tote Frau entbarg: Sie lag in einem Hausflur, halb zugedeckt mit einem Teppich, und eine blutige Flüssigkeit lief bis zum Bordstein aus ihrem Körper. Als ich das sah, war ich zwölf oder dreizehn Jahre alt, und die Luftangriffe erfolgten noch sporadisch, bis sie sich zum Inferno steigerten. Gestern endet nie -zumindest nicht subkutan.

Ich bin Autodidakt, Autofahrer und erwarte nur noch die Autopsie.

Anderen von der eigenen Kindheit erzählen, bedeutet nur, sich der Erinnerung zu vergewissern und sie formuliert zu verfestigen.

Die meisten Menschen empfanden das Jahr 1933 als nicht besonders einschneidend, nichts von der Zukunft ahnend. Mich beunruhigt das Gefühl, es sei nun 2016 eine Veränderung in unserer Gesellschaft eingetreten, deren Folgen ebenso unabsehbar wären wie die einstigen. Man wacht auf und lebt in einem anderen Land, es weht ein anderer Wind, Menschen reden anders, es ist etwas von einem unabsehbaren Ausmaß geschehen. In der Zeitung lese ich, es gäbe in den großen Städten Bereiche, in denen Clans und Banden herrschten, deren die Regierung nicht mehr Herr würde. Zerfällt der Staat in fremdartige und gewalttätige Residuen, in denen andere Gesetze regieren als die der Bundesrepublik? Beängstigend jedenfalls Vorgänge, derer die Ordnungsmacht nicht mehr Herr wird wie zu Silvester in Köln, wo tausend Männer sich im Zentrum sexuell an Frauen vergangen haben. Gleiches geschah in Hamburg und in Kiel. Der Eindruck des Organisierten ist unleugbar. Doch eine Erklärung bleibt aus. Wir wissen nicht, wer oder was dahintersteckt. Es geht Beunruhigung von solchem Geschehen aus, die Auswirkungen und Folgen sind unberechenbar, man ahnt, dass schlimme Folgen zu erwarten sind. Gestern lebten wir noch auf einer Insel der Seligen, heute stehen wir vor dem Inferno.

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