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Kunert-2018

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Collagen weisen auf etwas weitaus Umfassenderes hin. Das Zusammengesetzte, das Zusammengestückelte wird erst im 20. Jahrhundert möglich und somit akzeptiert. Das heimliche Movens solcher Präsentation ist die Verschmelzung der zerbrochenen Welteinheit, zumindest der Vorstellung von ihrer Einheit, zu einem Bild von rätselhafter, zu interpretierbarer Bedeutung. Man kann die Welt nicht mehr als Eines denken, die Differenzen zwischen den Teilen sind schon unüberbrückbar geworden, krass wie die gegenwärtigen Gegensätze, ging es auf diesem Planeten nie vordem zu. Biedermeier neben Massenmord, konventionelles Dasein neben geflüchteten, flüchtigen Existenzen. Bindungen lassen sich keine mehr ausmachen, das Konträre, Widersprüchliche, nur gewaltsam, gewalttätig einander Begegnende bietet sich dem Betrachter noch dar. Kriege allerorten als Bürgerkriege inszeniert. Abermillionen Heimatvertriebene unterwegs nach Europa, zur Insel der vorgeblich Seligen. Die Städte quellen über von Fremden, sich fremd Fühlenden, Entwurzelten, wahrscheinlich nie wieder heimisch werdenden Menschen. Der Ruf nach Integration von Ausländern ein kläglicher Hilferuf. Wir selber, scheinbar hierzulande beheimatet, empfinden uns immer mehr in der Fremde, in einem uns sich entfremdenden Land. Das Unbehagen, die Angst, die Sehnsucht zurück in eine als heil empfundene Welt lassen sich nicht durch freundliche Worte, durch bemühtes Verständnis der aus ihrer Normalität Geworfenen überdecken. Die Abwehrhaltung gegenüber dem Eindringling nimmt zu und lässt für die Zukunft nichts Gutes befürchten. Keine Lösung des Problems in Sicht außer verdammt blutigen.

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Wer kennt sich schon selber? Aber diese fordernde Formel »Erkenne dich selbst« führt, falls man ihr gehorcht, meist zu keinem Ergebnis. Oder gar zu dem, dass da gar kein »Selbst« vorhanden ist? Dass die gesell­schaft­lichen Normen die »Normalität« einer Person, die das ihr Auferlegte verinnerlicht hat, ausmachen.

Wer oder was bin ich? Einst war die Antwort leichter, weil die verordnete Identität von außen abgesichert gewesen ist; nun, da sie nach jeweiliger politischer und staatlicher Großwetterlage ins Schwanken geraten ist, bedarf es immer neuer Mühen, seine Psyche, sein Denken veränderten Umständen anzupassen. Das gelingt nicht immer. Kennzeichen ist die Hartnäckigkeit von Nazis, ja von Nazimördern, denen solch Umschalten entweder gar nicht oder doch nur scheinhaft gelang. Das Bewusstsein ihrer eigenen Verbrechen würde sofort den Zusammenbruch der Identität herbeiführen. Also versteinern sie innerlich oder passen sich lügenhaft an.

So ist beispielsweise der Antisemitismus als ideologischer Bodensatz latent vorhanden und tritt bedingt durch die aktuelle Lage im vorderen Orient unverhohlen in Erscheinung. Unter dem Deckmantel des Antizionismus darf man dem Judenhass frönen. Man sieht also doch, was die Juden für bösartige Leute sind, indem sie die armen Palästinenser abschlachten. Hat nicht Hitler vielleicht doch recht gehabt - so die unausgesprochene Frage. Dabei wird die Identität der Israelis, die Stellung der versöhnlerischen Juden, die Haltung der europäischen, der deutschen Juden ausgeblendet oder nicht erkannt. Einsicht kann man zwar fordern, vom Dummerjan auf der Straße jedoch nicht erwarten. Zu kompliziert. Und mit komplizierten Problemen hat sich der deutsche Michel noch nie befasst. Weil er ist, wie er ist, meilenfern von der Erkenntnis über seine Person, aber immer lenkbar, mal von dem, mal von jenem. Das ist die Crux: der Mangel aus Selbstsicht, die Fäden, mittels derer man bewegt wird, zu übersehen.

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Nichts ist schwerer als vor sich selbst ehrlich zu sein. Ja, überhaupt zu Einsichten zu kommen, warum man dieses tut, gern tut, und jenes verabscheut. Warum bevorzuge ich die eine Speise und negiere die andere? Wo liegen die Wurzeln, wann ist der Schalter umgelegt worden - um es mal technisch auszudrücken. Es gehört ein Wille dazu, nachzuforschen, wieso man lieber füllige Frauen anschaut als schlanke; wieso einem irgendein Zeitgenosse sympathischer ist als ein anderer. Woher die Angst vor Spinnen oder Ratten, hingegen die Zuneigung zu Goldfischen oder Schlangen? Jede Sympathie oder Antipathie besitzt Gründe, die in uns oftmals verschüttet sind, übriggeblieben ist nur die Aversion oder die Empathie. Stammen die Ursachen aus unserer Kindheit, wie Freud meinte? Starke Eindrücke, Schreckerlebnisse, negative Erfahrungen, alles Prägestempel, die unsere Psyche bedecken.

Lange bevor ich Schäferhunde mit KZ-Wächtern und deren Verbrechen in Zusammenhang brachte, ward mir früh ein Trauma beschert. Ich war mit meinem Vater unterwegs, aus Notdurft mussten wir in die Toilette eines Restaurants, wo ein fetter Wächter hockte, neben sich einen Schäferhund an einer Leine. Während ich mich in ein Urinal erleichterte, meinte der Wächter heiter zu meinem Vater (und damit auch zu mir), ich solle aufpassen, dass sein Hund nicht meinen Pimmel abbeiße. Der Ursprung war installiert, durch den mein Verhältnis zu Tieren dieser Rasse für immer beschädigt war und mich die Nazigräuel, auf die Geschlechtsteile von Gefangenen dressierte Hunde einzusetzen, als ich davon erfuhr, nicht verwunderten. Vor mir saß der grinsende Fettkloß in seinem weißen Kittel, das knurrende Monster neben sich, das blieb als Schnappschuss meines Heimatbildes bis heute erhalten.

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Ein literarischer Topos, der todähnliche Schlaf (Dornröschen), aus dem man irgendwann wiedererweckt wird. Dieses wiederkehrende und unvergessliche Moment in Märchen und Erzählungen stammt wohl von der Redewendung her, jemand sei entschlafen. Das meint doch, in Analogie zu entkleiden und entbehren, dass man etwas ablegt oder nicht besitzt, dass Entschlafen doch den Schlaf eigentlich leugnet - wie eben besagte Märchen den Tod zu einem scheinbaren ernennen. Die Wiedererweckung im Märchen zieht sich durch Mythen und Legenden als Wunschdenken: Es möge der Tote zurückkehren und unter uns weilen. Und da diese Rückkehr nicht funktionieren will, imaginieren wir sie einfach und feiern ein fröhliches Osterfest, obwohl unsere Erfahrung es besser weiß.

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Auf eine dezente und wohl unnachahmliche Weise »Ich« zu sagen, entdeckt man bei Montaigne. Wenn er von sich spricht, wirkt es niemals peinlich. Er ist nicht nur Zeitzeuge, sondern zugleich das von der Geschichte bewegte Subjekt, das die Vorgänge im Frankreich seiner Zeit nicht nur registriert, vielmehr von ihnen zu jener Haltung veranlasst wird, die es überhaupt erst ermöglicht, davon Kunde zu geben.

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Auch Frankreich war eine geteilte Nation, wenn auch nicht durch Mauer und Stacheldraht, so doch durch Glaubensbekenntnis und Position. Derartige Verhältnisse lassen den bösen Kern der Menschen zutage treten. Hier sei ebenso an die bürgerkriegsähnlichen Kämpfe zur Zeit der Weimarer Republik erinnert und an den seinerzeit gängigen Spruch: Und willst du nicht mein Bruder sein / so schlag ich dir den Schädel ein ...

Diese Sucht nach Konformität wird zur Gewalt, wenn zugleich materielle Interessen ins Spiel kommen, von denen man nicht spricht, weil die Berufung auf Höheres, auf den rechten Glauben, für die simplen Gemüter wirksamer ist, als wenn man auf die materiellen Interessen verwiese. Diese stets anders verkleidete Methode hat nichts an Eindringlichkeit und Stärke eingebüßt, denn niemand ist wirklich in seinem Innersten ein Idealist, wie denn auch? Das jedoch zu erkennen ist bereits eine enorme Leistung.

Nahezu jedes fremde »Ich«, dem man begegnet, lädt nicht zur Verschmelzung mit ihm ein, weist trotz mancher Nähe hauptsächlich Anderssein auf. Darum und vielleicht nur darum ist mir Montaigne so nahe, weil er einen Zugang zu seinem Ich bietet wie kein anderer, und das noch dazu über Jahrhunderte hinweg. Starkes Gefühl von Nähe, fast von Verwandtsein, was auf eine nur mit Vorsicht zu benennende Art, nämlich durch Hinweis auf unsere gleichgearteten Mütter, möglich ist.

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Das Zwanghafte der menschlichen Existenz bleibt unüberwindbar. Selbst das, was man freiwillig zu tun glaubt, entspringt einem Muss. Unser physisches Sein bedarf des Erhalts, ansonsten würde es uns mit Hunger und Durst, Schmerz und Elend strafen. Nun gibt es die Ansicht, je weniger abhängig jemand von den Mitteln zu seinem Dasein wäre, desto freier von Zwängen sei er auch. Das halte ich für einen Irrtum. Denn selbst das Geringe, das man braucht, stammt aus dem System der Gesellschaft, die es sich leisten kann, Brosamen an Außenseiter und Aussteiger zu verteilen. Handelt es sich dabei nicht ebenfalls um eine Abhängigkeit? Zur Gänze auf sich allein gestellt, überlebte keiner einige Tage. Noch der Müll der Allgemeinheit erhält ihn am Leben. Von denen, die für ein Leben »von der Stange« ihre Kräfte, ihre Träume, ihre Hoffnungen hingeben müssen, gar nicht zu reden. Durch die Zivilisation anästhesiert, werden sie doch im frühesten Alter zu Schlafwandlern, die, falls ihnen das Schicksal hold ist, gegen Ende des Weges das Erwachen vermeiden dürfen. Oder wie ein platter Spruch weiß: Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.

Ein Kriterium für gelungene Literatur wäre das Faktum, inwieweit es dem Autor gelang, sich seiner Person soweit zu nähern, dass diese eine gewisse Allgemeingültigkeit für den Leser bekäme. Dazu bedarf es eines Übermaßes an Ehrlichkeit, selbst unter der Maske von fiktiven Figuren, das schwer aufzubringen ist. Man lässt nicht gerne in seine Tiefen, in seine schmutzigen Ecken blicken, nicht mal unter Tarnung. Freilich besteht aber das Bedürfnis, sich seelisch zu entblößen, seine Defekte zu zeigen, alles, was in einem rumort und nach Aussage und Bekenntnis oder Geständnis verlangt.

Davon leben die Psychiater, das wissen wir längst, doch trotz unseres Wissens um die

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modernen Beichtiger und ihre Funktion nehmen wir sie in Anspruch. Nicht der Therapeut hilft seinem Patienten, sondern der sich selber, indem er den Zuhörenden als Abfallgrube für seinen psychischen Abhub benutzt. Freuds »Geniestreich« bestand darin, sich anstelle des amtlichen und örtlichen Erlösers in den Beichtstuhl zu setzen. Nur Buße konnte er nicht auferlegen. Insofern ist das Freud'sche Unternehmen als gescheitert anzusehen.

Das Gedächtnis, insbesondere da, wo sich Subjektives eingeprägt hat, ist zu fatalen Nebenwirkungen fähig. Gerade Peinlichkeiten, Irrtümer, Fehlhandlungen, falsches Verhalten verweigern sich dem Vergessen. In der Jugend das erste Versagen im Bett, eine Ejaculatio praecox; die Kränkung, die man einem Bekannten zugefügt hat; die unbewusste Beleidigung eines anderen; geldlicher Verlust aus Unüberlegtheit, ein Schaden, den man sich aus Leichtsinn selber zufügte - nichts davon lässt sich auslöschen. In den ungeeignetsten Augenblicken - und das sind in solchen Fällen alle - meldet sich jede von I einem sich selber verursachte innere Verletzung. Und erst recht jede, die einem zugefügt worden ist. Ein englisches Sprichwort sagt: Elephants and poets never for-get. Doch das gilt nicht nur für Poeten. Offenkundig ist das Gedächtnis an das Gewissen gekoppelt, in welchem unsere Missachtung anderer archiviert ist - so wir sie zu erkennen vermögen. Ein Radiergummi fürs Gehirn wäre das beste Geschäft, das sich einer nur wünschen kann.

Zwar ist das Erinnerungsvermögen der Menschen über das Persönliche hinaus ohnehin nichts wert, wie man täglich bemerkt, sobald sich im weltpolitischen Bereich

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die Analogien melden, doch eine Amnesie per Pille oder Apparat gehört immer noch zur heimlichen Sehnsucht.

Ach, könnte ich doch das ungeschehen machen. Oder wenigstens das Drandenken beseitigen! Ungeschehen kann man gar nichts machen, das Rad unseres Lebens lässt sich nicht rückwärts drehen, auch wenn wir es noch so innig verlangten. Und das Denken? Natürlich denkt man nicht unentwegt an seine Verfehlungen oder, noch schlimmer, an seine Missetaten. An letztere schon gar nicht als solche. Falls man je daran denken sollte, setzt sofort die Selbstrechtfertigung ein. Die Missetat wird als unausweichliches Geschehen verstanden. Aber ist das möglich ohne Beschädigung des je eigenen Menschentums ? Natürlich ist es möglich, weil der Mensch zu allem fähig ist, zu Mord und Totschlag, sobald er nur »gute« Gründe dafür findet, und die findet er immer, da das sein Gewissen verlangt und er auf diese Weise sein Erinnern zu ertragen imstande ist.

Wieso eigentlich Muttersprache und Vaterland statt Vatersprache und Mutterland, da man doch in einem das Ich bestimmenden Lande geboren wurde und dort die Sprache der Väter, vom Lehrer bis zum Chef, sprechen lernte? Die Mutterbindung ist doch wohl die engere, innigere: Die Mutter ist die erste, mit der man es zu tun hat; sie bringt einem die ersten Worte bei, ihre Stimme wiegt in den Schlaf, beruhigt, weckt, erzählt. Der Vater tritt erst später in Erscheinung, er ist ja anderweitig tätig; er ist der, der später, mit lauterer Stimme, seine Meinung kundtut, der anordnet, Weisungen erteilt; der der Erhalter der Familie ist, wie das Land, aus dem schließlich

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die Nahrung und alles Weitere kommt.

Das auch an uns Forderungen stellt, uns gesellschaftlich domestiziert. Das Land und die Sprache spiegeln das Familiensystem wider. Kein Wunder, dass der Dichter, der Schriftsteller sich in der Sprache heimischer und geborgener fühlt als in seinem Land, das er späterhin als ihm oftmals ungnädig erfährt. Befindet man sich in der Fremde, sei es in einem Nachbarland, freiwillig oder unfreiwillig, in der Ferne oder im Nirgendwo, es bleibt als Heimat die Sprache als Hüterin des Bewusstseins, das sich ja ständig selbst artikuliert und sich seiner selbst versichert. Unsere Staatsangehörigkeit können wir verlieren, unserer nationalen Identität entfremdet werden, unser gesichertes, sicheres Daheim besteht in uns fort. Keineswegs zufällig verlässt uns der Lebensmut, sobald uns unsere Sprache abhanden kommt, wenn wir in anderen Idiomen reden müssen, mit der uns nicht »angeborenen Zunge« zu parlieren gezwungen sind. Die Emigranten wissen ein trauriges Lied davon zu singen. Abseits des eigenen Sprachbereiches droht Verstummen oder ein ähnlich trostloses Ende.

Großer Artikel von Lars Brandt, dem Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers, über das bedenkliche Wachstum des Faschismus in Europa, freilich ohne den Versuch einer Erklärung. Wahrscheinlich gibt es diverse Gründe, einer zumindest besteht in der Überalterung der europäischen Nationen. Altwerden heißt, sich vor Veränderungen, vor durchgreifendem gesellschaftlichem Wandel fürchten, heißt somit: Restauration, Konservierung, Hinneigung zu konservativen Versprechen. Die Zeit anhalten. Besser noch: die Uhr zurückdrehen.

Möge es so werden, wie es gewesen war.

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Dass Menschenströme (2013 nach Italien 75.000 schwarze Migranten) sich über Europa ergießen, treibt die Angst um den eigenen Status fortwährend ins Maßlose. Dazu die Hilflosigkeit dieser Entwicklung gegenüber, die Ratlosigkeit der Politik - das ist Wasser auf die Mühlen der Volksverführer, die radikale Lösungen versprechen und die doch nicht das in der Erinnerung vergoldete Gestern wiederherstellen können. Es wird ihnen aber ausreichen, an die Macht zu kommen, um ein ihnen genehmes totalitäres Regime zu errichten. Die Zukunft bringt die Diktatur der Demagogen.

»Der Kragenbär, der holt sich munter / einen nach dem andern runter.« Ein Meisterwerk von Robert Gernhardt (verstorben 2006), der nun eine besondere Ehrung erfahren soll. Ihm soll ein Denkmal errichtet werden, einen onanierenden Kragenbär darstellend. »Die fertige Bronzeskulptur, heißt es in Spiegel online, soll auf dem Robert-Gernhardt-Platz stehen - mitten in Göttingen, wo der Schriftsteller lange gelebt hat.« Natürlich wird der Spruch auf dem Sockel stehen und vom Geschmack und Kunstverständnis der Göttinger künden.

Im weiteren Verlauf derartiger Kulturleistungen sollte unbedingt ein Denkmal für Anton-Friedrich Krummhübel in Pritzwalk installiert werden; schließlich ist der Poet Krummhübel zwei Mal mit dem Motorrad durch Pritzwalk gefahren. Eine überlebensgroße Plastik sollte nach seinem Vers »Der Giraff ist ein starkes Tier / und zeigt's den Weibern dort wie hier: / treibt es in jeder Position / allein um puren Gotteslohn« von einem namhaften Bildhauer geschaffen werden.

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 Mit der Zustimmung der CDU-Ratsherrenfraktion ist zu rechnen, da in besonders intensivem Maße auf die Wichtigkeit der Bemühungen allein aus Glaubensgründen hingewiesen wird. Die deutsche Öffentlichkeit erwartet, dass Pritzwalk sich der Bedeutung solches Monuments bewusst ist und ohne Zögern ans Werk geht.
Auf Antrag von Frau Eva-Maria Krißwetz-Selbskorn (Grüne) wird auf der Rückseite des Werkes auf einer Plakette vermerkt werden, dass der Begriff »Weiber« keine Diskriminierung der Frau beinhaltet, sondern die Assoziation zu Shakespeares »Lustigen Weibern von Windsor« hervorrufen soll.

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Mich mit Seefahrt und Nautik zu befassen ist nicht meine Sache. Warum also heute Nacht dieser Traum, da ein junges hübsches Mädchen (schwarzhaarige Ponyfrisur) als Deckoffizier auf einem Kreuzer oder Ähnlichem Dienst tat. Alle ihr untergebenen Matrosen versuchten, ihre leibliche Gunst zu erwerben, was jedoch keinem gelang. Sie war kokett, anziehend, scheinbar einladend, gleich darauf aber abweisend, sobald ihr Verhalten als Einladung verstanden wurde. Immer noch schlafend, beschäftigte mich der Fall sehr. Ja, ich hoffte, dass doch einer aus der Mannschaft sie zum Beischlaf bringen könne, es wollte und wollte aber nicht klappen. Unmerklich wandelte sich das Traumbild ins Schriftbildliche, und ich las jetzt in einem Buch über diese Angelegenheit, wobei das Geschehen schattenhaft blieb. Die Geschichte wurde so mühselig, dass ich es endlich aufgab, mich auf die andere Seite drehte und der Marine die weitere Klärung der Sache überließ.

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Ein Mensch - wie hohl das klingt.

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Das Leben eines Schriftstellers besteht aus lauter Ersatzhandlungen.

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Ein Streit zweier betrunkener Russen über die jeweiligen Vorzüge von Poesie und Prosa hat ein tödliches Ende genommen: Die Diskussion der beiden Männer eskalierte so sehr, dass der Poetikverfechter den Prosa-Fan erstach, wie die Ermittler in der Region Swerdlowsk am Mittwoch mitteilten.
Es ist also doch wahr: Literatur bleibt nicht ohne Wirkung. Dass sie aber gleich so heftig sein muss, dafür besteht eigentlich keine Notwendigkeit. Man hatte eher gedacht, dass sie den Menschen bilde und verwandle, doch nicht ad hoc zur Leiche. Immerhin zeugt es doch von einer tiefen Bindung an die Literatur, wie wir sie in Mitteleuropa längst nicht mehr kennen. Nur Völker, bei denen sich, außer der Liebe zum Alkohol, auch eine zum bewegenden Wort erhalten hat, sind in der Lage, für Druckerzeugnisse ihr Leben zu wagen. Hut ab vor solchem Verhalten, auch wenn es uns frustrierten Zivilisationsprodukten etwas übertrieben erscheinen mag.

Oftmals lassen sich die Herkünfte von Träumen nicht enträtseln. So erlebte ich ein Pferderennen, teils als direkter Zuschauer, teils vor dem Fernseher, da ein kleiner Junge, vielleicht fünf- oder sechsjährig, sattellos auf

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einem Schimmel als Erster durchs Ziel ging.

Seltsames Gefühl von Zufriedenheit, fast Glück, beim Beobachten des kindlichen Sieges. Ich war mit allen Fasern bei dem Knaben, hoffte mit ihm, der, wollte ich eine analytische Abschweifung wagen, eine Projektion meines Ichs gewesen war. Doch woher solch Vorgang, solche Szene ihren Ursprung haben mochten, war mir unerklärlich, da ich weder Analoges gelesen noch gesehen noch von etwas Ähnlichem gehört hatte. Aus welcher Gehirnfalte das gekommen war, werde ich vermutlich nie erkunden können.

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Ist ein vielfältiges Talent nun von Vorteil oder eine Strafe der kunstzuständigen Götter? Beim Zeichnen oder Malen melden sich andere Gehirnbereiche als beim Schreiben, das ist binsenweise. Auch das tragende Empfinden ist unterschiedlich. Beim Zeichnen wächst mit jedem Strich sacht ein Bild heran; ein zumindest oberflächlicher Vorgang wie beim Entwickeln einer Fotografie im Entwicklerbad, da unter der hin und her schwappenden Flüssigkeit plötzlich langsam ein Gesicht auftaucht, eine Gestalt, eine Landschaft. Nur ist, was da auftaucht, nicht so zu eigen wie das Gezeichnete, dem etwas beigemengt ist, was sich aus der Psyche speist. Die Fotografie ist das Endgültige. Im Entstehen der Zeichnung sind Akzente möglich, Schattenvertiefungen, Abweichungen von der Idee, unerwartete Zusätze, einem Einfall entstammend. Solche Freiheit bietet das Schreiben nicht. Es läuft ebenfalls immer auf das Unabänderliche hinaus, manchmal unter dem Zwang der Form, manchmal unter dem des Gedankens, der schon zu Anfang das Ende bedacht hat.

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Immer aber ist die ganze Person beteiligt, die sich, gleich einem Fingerabdruck, unverwechselbar kenntlich und haftbar macht. Das so und nicht anders steckt das Ziel ab. Scheitern ist möglich, unterwegs erlahmen denkbar. Von der Strecke abkommen ebenso. Denn die Strecke ist ja keine Gerade, sondern ein verschlungener Pfad, doch es gibt keinen anderen. Tastend folgt man ihm wie ein Scout, der zwar Ähnliches hinter sich gebracht hat, ohne die vorhergehenden Verläufe passgenau wiederholen zu können oder zu dürfen. Da ankommen, wo man es sofort merkt, hier habe ich erreicht, was sich aus dem Vagen anbot, schafft eine Befriedigung, die bald abklingt und nach Wiederholung verlangt.

Das Gewebe, der Schleier, hinter dem sich das Ich verbirgt, ist so dicht, dass nur wenig nach Außen dringt. Nur bruchstückhaft sage ich Wesentliches über mich aus, das Meiste bleibt im Dunkel der Psyche, im Tresor des Erinnerns verborgen. Als weigere sich die Hand, das Text werden zu lassen, was die Scham versteckt hält. Freilich gibt es schreibende Exhibitionisten, die genussvoll ihre Peinlichkeiten und seelischen Defekte vor dem Leser als »Spanner« ausbreiten. Fritz J. Raddatz ist solch ein psychischer Masochist, dem es Lust bereitet, seine sexuellen Prioritäten und Unternehmungen einem entsprechenden Publikum zu dessen Ergötzen zu präsentieren. Vermutlich erregt ihn bereits die Niederschrift und die Vorstellung, wie gierig seine Episteln aufgenommen würden. Dass der Sexus ins Schreiben mit eingeht, ist unleugbar, doch dermaßen transformiert, dass er kaum auf die Person des Autors zurückzuführen ist.

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Mit einem Wort: Man gibt sich keine Blöße selbst dort, wo alle Körperlichkeit eine Rolle spielt. Stets bleibt eine Verhüllung bestehen, kein offenes Bekenntnis findet statt, nur im Prozess der Verwandlung wird vielleicht ahnbar, was den Autor selber im innersten Kern seines Wesens bewegt. Ein klares Geständnis, ein Offenlegen des Geheimsten würde dieses beschädigen und ihm die Triebkraft nehmen. Die selbstgezogene Grenze bietet auch einen Schutz, den aufzugeben fatale Folgen hätte, gar eine Einbuße von Identität, zu der nicht nur das Offensichtliche gehört, sondern auch und möglicherweise erst recht das zutiefst Versteckte.

23 Uhr 30. Von der Sitzbank zur Tür gehend, plötzliche Dunkelheit um mich. Im ganzen Haus Stromausfall. Kein Lichtschimmer zur Orientierung. Ohne Haltepunkt, Tisch, Sessel, Schrank, irgendetwas Gegenständliches, stand ich hilflos da, keines Schrittes mehr fähig, mit zitternden Beinen, einem Zittern, das den ganzen Körper ergriff. Nun erfuhr ich, was das Wort »schlottern« bedeutete. Panik. Ich rief nach meiner Frau, ich schrie, ich brüllte ins schwarze Nichts hinein und spürte, dass ich gleich umfallen würde, käme keine Hilfe. Der Schweiß brach mir aus. Der ganze Körper ein einziges Beben und Schwanken und die Gewissheit, in einer Sekunde zu stürzen. Und diese eine Sekunde vor der Katastrophe, eine endlose Zeit, reichte doch aus, dass ein Bewegungsmelder aufleuchtete, da meine Frau durch die Diele zu mir lief und mich in dem Moment festhielt, in dem ich kapituliert hätte.

Nach ein, zwei Minuten flammten die Leuchten auf, der Strom war zurück, das Unheil, eines, das ich noch

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nie erlebt hatte, überstanden, doch es brauchte Stunden, um mich zu beruhigen. Dieser Augenblick, das spürte ich, war mehr gewesen als eine plötzliche Blindheit; es war wohl ein Augenblick wie das Konzentrat aller Ängste und Befürchtungen erlebter Finsternis in der Kindheit, Schrecken vor etwas Unnennbarem, gegen das es keine Gegenwehr gibt. Ab jetzt würde ich eine Taschenlampe in greifbarer Nähe deponieren. Rückversicherung gegen das Numinose aus der Urzeit.

Gestern nach dem Mittagessen besuchte mich Reiner Kunze, fürsorglicherweise während ich schlief. Wir verstanden einander besser als zu Real-Zeiten.
Obwohl es unsinnig war, erklärte ich ihm, wie angenehm es sei, von meinem Schreibtisch aus ins Grüne zu blicken. Dabei wusste ich doch, dass er, wo er residierte, auf die Donau schauen konnte. Dennoch schwärmte ich so vor mich hin, was er mit Geduld anhörte. Über Literatur kein Wort. Auch keines über die Situation des Autors in Zeiten erotischer Bestsellerromane und elektronischer Spaße. Man hätte wohl einander viel zu sagen gehabt, doch er verschwand sacht, als mich kalter Wind von der offenen Terrassentür erreichte. Schade.

Schon seit längerem ist mein Interesse am Fiktionalen erloschen. Die Realität hat alle Fantasie übertroffen und aus dem Feld geschlagen. Tragödien und Komödien, Eifersuchtsdramen und Liebesverwirrungen - die Wirklichkeit beschreibt all das auf erschütterndere und erheiterndere Weise, als es ein Autor könnte.

Und was

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uns talentierte und schreibkundige Historiker zu bieten haben, ist spannender als jeder Kriminalroman. Denn man erfährt aus solchen fundierten Darstellungen des Gewesenen, warum das Heute so ist, wie es ist. Individuell betroffener kann man bei Belletristiklektüre nicht sein und nicht werden.

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Der kommentierende Chronist hechelt den Ereignissen hinterher. Kämpfe zwischen prorussischen Rebellen und dem kiewtreuen Militär. Kämpfe im Jemen. Kämpfe zwischen dem selbsternannten islamischen Staat und Kurden. Momentane Waffenruhe zwischen Gaza und Israel. Terroranschläge weltweit. Ebola-Epidemie in Afrika. Massenweiser Tod von Flüchtlingen im Mittelmeer. Kämpfe im Irak, in Syrien. Als laste über der Welt eine schwarze Wolke, die sich ausbreitet, und wir fürchten, dass sie sich bis zu uns ausbreitet, wobei nur eines klar wird: unsere Hilflosigkeit solchem Geschehen gegenüber.

Viele Frontsoldaten, die im Zweiten Weltkrieg für wenige Tage nach Hause in die Städte fahren durften, klagten über das Gefühl der Wehrlosigkeit bei Luftangriffen; ein Gefühl, das sie von der Front nicht kannten. Dort hatten sie, durch ihre Waffen, das Empfinden, sich wehren zu können, eine Illusion, die immerhin weniger zermürbend wirkte als das Eingesperrtsein im Luftschutzkeller, wo man nur auf sein Ende warten konnte.
Man kann alles, selbst das Ungeheuerlichste, beschreiben und benennen; ohne mehr als eine schwache Ahnung dessen zu vermitteln, wie das Beschriebene eigentlich ge-

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wesen ist. Auch die Bilder des Verderbens sind im Grunde nur Andeutungen, Schattenspiele, bei denen man als Akteur mitgewirkt haben muss, um zu begreifen, was da vorsichgegangen ist. Selbst die einstmals unmittelbar Beteiligten (wie ich etwa) haben nur Worte, hilflose Worte, um den Aufenthalt in einem Inferno zu schildern.

Jegliche Erzählung von schwarzen, ebenholzähnlichen Figuren auf der Straße, von einstigen Menschen, bleibt hinter der Realität zurück. Dabei begann das Unheil fast karnevalesk. 1939 ging in den Straßen deutscher Städte das Licht aus. Eilig kaufte man Rollos aus schwarzem Zeug, nagelte sie an die Oberteile der Fensterrahmen und zog bei einsetzender Dämmerung die Abschirmung zu, damit kein Licht nach außen dringe. Wer das nur nachlässig tat, hatte mit schweren Strafen zu rechnen, gar als feindliches Element, als Verräter, endbehandelt zu werden. Anfänglich schaltete man bei Fliegeralarm die Lampen aus, ließ das Rollo aufwärts schnellen, um neugierig das Spektakel am Nachthimmel bestaunen zu können. Scheinwerfer streckten gigantische Lichtsäulen nach oben, überkreuzten einander, um ein aufblinkendes Etwas zu erhaschen: ein Flugzeug. Dann schoss die Flak. Die berstenden Granaten zeigten sich als kurzlebige Sternchen. Nach einer Weile die Entwarnung. Man dichtete die Fenster erneut ab und ging zu Bett. War das alles gewesen? Ein rasches, kaum interessantes Schauspiel, wenig bedeutsam. Am folgenden Tage begann etwas, das damals noch nicht »Katastrophentourismus« hieß und doch einer war. Hier und da Schäden, ein zerbombtes Haus, davor die Schar der Neugierigen.

In einem dieser abrupt beseitigten Häuser betrieb mein Vater als sein eigener Chef und Handarbeiter eine

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Schreibblockproduktion, von der nun nichts mehr übrig war.

Mit der Zeit mehrten sich auch die Tagangriffe. Kaum war man im Kino, ertönte die Sirene. Das Publikum verließ die Vorführung, man stand auf der Straße und blickte in den blauen Sommerhimmel, über den ein Pulk von »Mosquitos«, von Jagdbombern, zog. Dumpfe Abschüsse von Geschützen, Rauchwölkchen, Entwarnung: Der Film lief nach der Unterbrechung weiter, als wäre der Vorgang normal gewesen. Man gewöhnte sich unmerklich an Erlebnisse dieser Art. Man staunte auch nicht länger über die seltsamen Dekorationen in den Treppenhäusern: Wassereimer, Eimer mit Sand, besenartige Stiele mit Scheuerlappen am Ende, sogenannte »Feuerpatschen« zur Brandbekämpfung: Wer sich sowas ausgedacht hatte, ahnte noch nichts vom entfesselten, vom »totalen« Krieg.

Als Großstadtbewohner hatte man jetzt ständig sein Kellergepäck parat, schleppte das Notwendigste an Dokumenten, Kleidungsstücken und sonstigem wertvollen oder wertlosen Kleinkram mit sich in die Unterwelt. Aufgereiht auf Stühlen oder Bänken sitzend, harrte man der Dinge, die da von oben kommen sollten - und sie kamen ja auch. Bombeneinschläge, näher und näher. Manchmal erlosch die Beleuchtung, waren Leitungen getroffen. Nahe Treffer brachten Kellerräume zum ungemütlichen Schunkeln. Kein Wort fiel. Die Angst verschluss die Münder. Ob wohl jemand in diesem Moment an Guernica dachte, an Warschau, an Rotterdam, an Coven-try? Eher nicht. Die Wenigsten stellen eine Verbindung zwischen den Untaten der eigenen Kriegsführung und der Rückkopplung her.

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Man hatte dem Reichsmarschall und Oberherrn der Luftwaffe, Hermann Göring, aufs Wort geglaubt, der seinem Volk zugesagt hatte, er wolle Meier heißen, wenn ein einziges feindliches Flugzeug über Deutschland erschiene. Das nun zu erwähnen wagte niemand. Nach der Entwarnung stieg man in seine Wohnung zurück, so sie noch vorhanden und betretbar war, versuchte noch etwas auszuruhen, ging zur Arbeit, falls es die noch gab, und nahm wortlos hin, was rundum geschah. Das Leben ging eben weiter, falls es nicht zufällig und heftig beendet wurde.

Es ging zwar weiter, doch nach einem anderen Rhythmus, den der Luftkrieg bestimmte. Die Nächte wurden kürzer, die Wege in den Städten immer länger, weil zerstörte oder wegen Blindgängergefahr abgesperrte Straßen Umwege nötig machten. Oder weil die öffentlichen Verkehrsmittel durch Trümmer blockiert oder lädiert worden waren. Dennoch und trotz allem blieb, soweit es ging, der Alltagsablauf gewahrt. Der »Katastrophentourismus« der Anfangszeit aber hatte aufgehört. Man brauchte nicht mehr weit zu laufen, um Ruinen zu besichtigen: Die kamen vermehrt in die eigene Wohngegend und mahnten täglich: Morgen bist du dran!

Die Atmosphäre jener Tage wiederzugeben ist schwierig. Ein Fatalismus breitete sich aus, jedoch verbunden mit einer gesteigerten Lebenslust. Als drängte die Umgebung, jede Stunde, die man noch existierte, voll auszunutzen. Man ignorierte, was verstören konnte. Dazu Inschriften an den rauchgeschwärzten Fassadenresten WIR LEBEN! ERNA WO BIST DU? MELDET EUCH BEI MÜLLERS!

Der Funkenflug von den Bränden verursachte auf der Kleidung Spuren, und auch die ertrug und trug man

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gleichgültig weiter - so wie man seine eigene Haut zum Markte trägt.

Andere moralische Barrieren fielen. Frauen und Männer, deren Anzahl ständig abnahm, fanden sich zusammen, als gälte es, ein letztes Mal die Lust zu genießen, Augenblicke, in denen man nicht an das ständige Elend denken musste. Es herrschte eine Stimmung wie bei einem Tanz auf dem Vulkan, und ein ungeheuerlicher Spruch machte die Runde: Genießt den Krieg, der Friede wird fürchterlich! Der besagte Fatalismus paarte sich mit Zynismus, ein Mittel der Verdrängung dessen, was man mitzuerleben und mitansehen zu müssen gezwungen war. Was konnte man denn sonst schon tun? Nichts. Machtlos, wehrlos, dem heimatlichen Terror ausgeliefert, würde ein falsches, also wahres Wort selbstmörderisch wirken.

Also schwieg man. Insofern ging die Rechnung von »Bomber«-Harris nicht auf, jenes Oberkommandierenden der alliierten Luftflotte, der meinte, durch das Flächenbombardement Deutschland zur Kapitulation zwingen zu können. Aber wer wohl sollte kapitulieren? Hitler und seine Clique waren sich des Umstandes bewusst, dass die Sieger sie vor Gericht stellen würden. Es kam nur noch darauf an, sein Leben auf Kosten von tausenden und abertausenden Leben zu verlängern, um noch einen Monat, noch eine Woche, noch einen Tag. Und die oftmals beschworene »Volksgemeinschaft« ? Eine domestizierte Masse Mensch, die ihrem Dompteur noch weithin anhing und entgegen besserer Einsicht seinen Versprechungen von »Wunderwaffen« und »Endsieg« glauben wollte; nicht zu vergessen die Angst vor der Rache der Sieger, geschürt von der Propaganda, ein Bindemittel des Regimes.

Von all dem wusste »Bomber«-Harris nichts; ein Militär wie alle, die ihre Kriege vom Schreibtisch her führten und siegten oder verloren. Menschenkunde ist solchen Personen immer fremd gewesen. Nun steht Harris als bronzenes Denkmal in London, freilich ohne die passende Inschrift, die darauf hinweisen müsste, dass dieser Mann die Verkörperung eines schrecklichen Irrtums gewesen ist.

Dass die Kriege nicht enden wollen, immer wieder die Gewalt zur Alleinherrscherin wird, spricht gegen die Verfassung des Menschen. Mordsüchtig wirken die waffenschwenkenden Gestalten unserer Tage, obwohl die der Vergangenheit nicht weniger tötungslüstern gewesen sind. Und es wohl bleiben werden.

Das Militärmuseum in Potsdam bat mich, für eine Ausstellung über die Zerstörung Dresdens, über den Luftkrieg, für den dazugehörigen Katalog, ein paar Worte zu schreiben, was ich als defensiver Teilnehmer am Berliner Inferno auch tat. Ausstellungen wie diese sind in ihrer Absicht lobenswert, doch über ihre Wirkungen dürfen wir nicht nachdenken. Auch geschieht ungewollt, dass derartige Ausstellungen durch die Präsentation der Vergangenheit diese historisieren. Sie rücken das einstige Geschehen in ein fernes Gestern, das dem Heutigen fremd und eigenartig vorkommen muss. Eine Verbindung zur Gegenwart stellt sich in den seltensten Fällen her. Das ist die Crux, unaufhebbar und dennoch stets aufs Neue hoffnungsvoll und friedensgläubig unternommen.

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Montaigne erteilt jedem Autor die gleiche Lehre: Das Biographische ist das einzige Pfund, mit dem man wuchern kann.

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