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14. Schlußbetrachtung    von Michael Holden  

 

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In diesem Buch haben wir nachgewiesen, daß die Primärtheorie keine von der Entwicklung und der Funktion des menschlichen Gehirns losgelöste Abstraktion ist. Embryologisch und anatomisch ist das Gehirn dreigeteilt.*

*  Penfield, W. : »Memory«, in Archives of  Neurology  1974-9-31,  S. 152

Die bei der Primärtherapie zu beobachtenden Phänomene weisen darauf hin, daß auch das Bewußtsein dreigeteilt ist. Die drei grundlegenden Operationsebenen des Gehirns sind Fühlen, emotionaler Ausdruck und kognitive Wahrnehmung, und alle drei entwickeln sich in geordneter Reihenfolge entsprechend der Entwicklung der drei Neuropileme des Gehirns von innen nach außen. Diese drei Operationsebenen des Gehirns integrieren die Funktionen des Körpers sowie zum Ausdruck gebrachtes Verhalten. Schmerz führt zu Störungen des Fühlens, des emotionalen Ausdrucks und der kognitiven Wahrnehmung. Primär­therapie ist eine sinnvoll auf die Funktionsweisen des Gehirns bezogene Behandlungsmethode psychischer Krankheiten.

Seit Jahrzehnten hat es zwei Disziplinen gegeben, die Neurologie und die Psychiatrie, ohne daß sie bislang sinnvoll zu einer Vereinigung hei der Disziplinen, nämlich zu einer Neuropsychologie verbunden worden wären. Wir glauben, daß dieses Buch den Beginn einer aktuellen Neuropsychologie darstellt, die davon ausgeht, daß die ursächlichen Faktoren für physische wie für psychische Krankheiten gleichen Ursprungs sind und auf frühes Leiden zurückgeführt werden können. Die anschließenden Anmerkungen fassen jene Züge, die die Primärtherapie mit der Neurologie gemein hat, noch einmal allgemein zusammen.

In der klinischen Neurologie, bei Gehirnläsionen, insbesondere bei kortikalen Läsionen, wissen wir, daß sich Verhalten primitiver strukturiert, da es auf höchster Ebene von den Basalganglien, dem Thalamus oder Hirnstamm vermittelt wird. Diese Menschen nehmen sich selbst und die Welt sehr viel einfacher wahr, ähnlich wie Kinder es tun, und beide reagieren auf die Welt einfacher. Das läßt sich nach Schlaganfällen beobachten; am deutlichsten wird es jedoch bei der fortschreitenden Zerstörung kortikaler Nervenzellen, der Alzheimer-Krankheit.

Nicht zufällig sprachen die frühen Neurologen von Demenz als der zweiten Kindheit. Eine weitere Manifestation eines einfacheren, kindlicheren Verhaltens ist das Auftreten primitiver Reflexe wie Saugen, Schnüffeln, Greifen, hochgestellte Zehen und der Hang zu einer zusammengerollten Körperhaltung.

Während eines Primals sieht ein Erwachsener aus wie ein Kind, klingt wie ein Kind, reagiert wie ein Kind und nimmt wie ein Kind wahr. Mithin muß es möglich sein, mit einem intakten Erwachsenengehirn vorübergehend Gehirnfunktionen und damit einhergehende Verhaltensweisen einfacher, kindlicher zu strukturieren. Sowohl den sichtbaren äußeren Anzeichen nach als auch entsprechend den Meßergebnissen von Körpertemperatur, Herz- und Atemfrequenz und EEG arbeitet das Gehirn bei einem Primal anders als bei Meditation. 

Es ist deshalb nicht erstaunlich, daß auch das Verhalten eines meditierenden Menschen anders ist als das desjenigen, der ein Primal erlebt. Des weiteren enthüllt Meditation eine ungewöhnliche Realität mit leichten Verzerrungen von Größe, Umriß, Form, Farbe und Licht, während die subjektive Wahrnehmung eines Menschen, der ein Primal hat, gewöhnliche Realität ist, ungemein schmerzhaft und ungemein persönlich, mit einem realen Inhalt persönlicher früher Erinnerungen.

Wenn wir nun davon ausgehen, daß sich bei einem Primal die Gehirnfunktionen verändern, daß sie primitiver und kindlicher werden, dann stellt sich als nächstes die Frage: Wie kindlich? Wie primitiv? Im Prinzip steht in der klinischen Neurologie fest, daß das Gehirn auch auf extrem primitiven Ebenen das Verhalten noch immer dem Leben angemessen strukturieren kann. Man kann schwere Schläge in beiden Hemisphären, schwere Stoffwechselstörungen mit Urämie* oder Leberversagen oder einen Blutsturz im Thalamus oder im oberen Hirnstamm durchaus überleben. 

Die Lebensqualität wird durch diese Störungen herab­gesetzt, aber selbst im tiefen Koma kann man noch atmen und die Herztätigkeit, Körpertemperatur und den Blutdruck in einem die biologische Existenz sicherstellenden Maße aufrechterhalten. Und auf ähnliche, wenn auch nicht gleiche Weise, hat ein im Koma befindlicher Mensch ein auf das Selbst eingeschränktes Wahrnehmungsvermögen, das Reize im extrapersonellen Raum nicht registriert — ausgenommen extrem schmerzhafte Reize; und selbst auf diese sind die Reaktionsmöglichkeiten äußerst beschränkt, wie beispielsweise ein Stöhnen als Reaktion auf einen heftigen Schlag gegen das Sternum [Brustbein]. Wenn der Angriff zu groß ist, dann versagt die biologische Homöostase, und es tritt der Tod ein.

* Harnvergiftung des Organismus.

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Bei Primals verzeichnen wir einen vorübergehenden Anstieg der Meßwerte der vitalen Körperfunktionen, gefolgt von einem Absinken unter die Ausgangswerte. Diese Veränderungen der homöostasischen Regulierung zeigen uns, daß die vorübergehende Veränderung der Gehirnfunktionen während eines Primals neurophysiologische Funktionen auf primitiverer Ebene widerspiegelt. Es kommt zu einer vorübergehenden Veränderung der Funktion des Hypothalamus und zu einer Veränderung der Fähigkeit, die vitalen Körperfunktionen innerhalb engerer Grenzen zu regulieren. Mit der hypothalamischen Veränderung geht zumindest indirekt eine Veränderung des Hirnstamms einher, die sich bemerkbar macht durch Stammeln, Würgen, Veränderung der Stimmqualität, Keuchen, Schluchzen, Veränderung der Atmung, und bei den tiefsten Primals (bei Geburtsprimals) durch einen zeitweiligen kurzen Atemstillstand, manchmal bis an die Grenze von Zyanose [blau anlaufen] und beginnender Asphyxie [Aufhören des Pulsschlags].

Was das Verhalten betrifft, so hat es den Anschein, als sei bei einem Primal das gesamte Gehirn vom Kortex bis zur Medulla beteiligt (oder als könne es zumindest beteiligt sein). Primals werden vor allem durch verschiedene Gebiete des Gehirns strukturiert und vermittelt. Mithin bilden Körper und Gehirn eine integrierte Einheit; statt zu sagen, daß die Trachea oder die Medulla Geburtsasphyxie erinnert, wäre es sinn voller, zu sagen, daß der gesamte Organismus diesen Schmerz registriert, auch wenn die Engramme derartiger Registrierungen überwiegend in bestimmten Gehirn- und Körperstrukturen verzeichnet sind. Wir haben keinen Grund, daran zu zweifeln, daß jedes merklich schmerzhafte Ereignis im Verlauf des gesamten Lebens eines Menschen permanent von unserem Bewußtsein registriert wird.

Dr. W Penfield und seine Mitarbeiter demonstrierten, daß eine Stimulierung des Schläfenlappens bei Patienten im Wachzustand zu intensivem Wiedererleben von Gefühlen, emotionalem Ausdruck und kognitiven Erinnerungen aus der Vergangenheit führte. Und genau die gleichen Phänomene treten bei Primals auf. Primals haben Zugang zu den frühesten Gefühlen, emotionalen Ausdrucksweisen und Gedanken eines Menschen.

Dr. Penfield äußerte kürzlich im Hinblick auf die Gedächtnismechanismen die Vermutung: »Es muß zusammenfassende Zugangsschlüssel im (oder im Zusammenhang mit dem) Hippocampus geben. Derartige Schlüssel werden zu zusammenfassenden Einheiten und korrespondieren so mit nichtverbalen Konzepten.«*  In der Primärtherapie zeigt sich täglich, daß der Abtast­mechanismus des Gedächtnisses durch die frühesten Schmerzen im Leben eines Menschen beeinflußt wird, genau so wie es die Zugangsschlüssel werden. Es ist der mit unseren frühesten Erfahrungen und Erinnerungen verbundene Schmerz, der ihren Zugang zum vollen Bewußtsein einzuschränken scheint. Wenn wir diesen Schmerz völlig gefühlt haben, haben wir ein breiteres Bewußtsein, als hätten wir ihn nicht gefühlt. Wenn man auch das Wissen um den Schmerz erinnern mag, so werden doch seine Schärfe, die damit verbundenen Leiden und Qualen anschließend von der Bewußtheit des Wachzustands gnädig ferngehalten.

* Op. cit. S. 152.

Dr. Penfield stellte die Hypothese auf, daß die Abtasteinheiten für den Abruf von Erinnerungen topographisch im Hippocampus lokalisiert seien, und zwar dergestalt, daß ältere Erinnerungen weiter hinten gespeichert seien als Erinnerungen jüngeren Datums. Diese Hypothese scheint, den vorgelegten klinisch-pathologischen Korrelationen zufolge, vernünftig zu sein.

Uns erscheint es wahrscheinlich, daß die Abtastmechanismen für Schmerzen zeitlich unterschiedlichen Ursprungs ähnlich angeordnet sind. Wenn ein Mensch ein Primal im Zusammenhang mit einer beliebigen schmerzhaften Erinnerung hat und dann plötzlich in eine viel ältere (das heißt frühere) Erinnerung fällt, dann beinhaltet das die neurophysiologische Implikation, daß er Zugangsschlüssel zu weiter hinten gelegenen Neuronen des Hippocampus gefunden hat als zunächst zu Beginn des Primals.

Wenn die Schmerzenslast, die wir der Bewußtheit fernhalten, insgesamt gering ist, dann sind wir bewußt und gesund. Ist sie jedoch groß, dann sind wir partiell unbewußt und neigen zu Krankheit. Die Primärtherapie ist ein Mechanismus, mit Hilfe dessen wir die Abwehrmechanismen beseitigen, den Schmerz wieder zugänglich machen und wiedererleben können und geistige, seelische und körperliche Gesundheit zurückgewinnen.

Wir haben an unserer Hypothese keinerlei Zweifel und hoffen, daß wir letztlich werden nachweisen können, daß ein breiter Fächer von Krankheiten, einschließlich aller psychosomatischer Leiden, Alkoholismus, Drogensucht, Hypertension und vieler Arten von Krebs, bei Postprimärpatienten selten oder niemals auftreten wird. Diese Hypothese lautet, daß körperliche Krankheit auftritt, wenn der Schmerz eines ganzen Lebens permanent im Gehirn und im Körper eines Menschen registriert wird, und daß es dazu im Körper eines Menschen, der sich von diesem Schmerz befreit hat, selten oder niemals kommt. Ein Primal ist kein Pseudo­phänomen. Ein Primal ist vielmehr eine tiefgreifende, allesumfassende, totale Reorganisierung der Biologie eines Menschen, eine Reorganisierung vom psychotischen oder neurotischen Zustand zum postprimären Zustand.

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