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Die Entwicklung von Gehirn und Bewußtsein: Das dreigeteilte Gehirn

Von Michael Holden  

»Und wäre unsere Erkenntnis und unsere Einsicht nicht von verhängnisvollen metaphysischen Traditionen umwölkt, so würden wir herausfinden, daß die Probleme hinsichtlich der Beziehung von Körper und Geist keine Probleme in sich bergen, die sich grundlegend von denen unterscheiden, die die Beziehung jedes beliebigen Organismus und dessen Funktion oder jedes beliebigen Objekts und dessen Eigenschaften betreffen. Das Körper/Geist-Problem würde dann zu einer einfachen Erforschung der Eigenheiten dieser Beziehung, ihres Mechanismus und modus operandi werden.« 1) *    C.J. Herrick   

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Nach herkömmlicher Auffassung gleicht das Bewußtsein einem aus Wachheitsgraden bestehenden Spektrum von hellwach bis tief komatös. Dieses Schema findet praktische Anwendung in der klinischen Neurologie, und es ist fraglos wichtig, Unterschiede zwischen Zuständen wie »Lethargie«, »Delirium«, »Stupor«, »Halbkoma« und »Koma« zu erkennen, wenn man den Zustand eines Patienten korrekt diagnostizieren will. 

Selbst innerhalb der Kategorie »wach« gibt es qualitative Unterschiede im Grad der jeweiligen Wachsamkeit, Bewußtheit und Aufmerksamkeit, die wichtige Informationen über die zerebralen Funktionsweisen eines Menschen liefern können. So kann man es zum Beispiel bei Dementia senilis [»Altersschwach­sinn«] mit Menschen zu tun haben, die wachsam, aufgeweckt und aufmerksam sind, jedoch »unangemessen« handeln, als habe sich ihre Wachsamkeit vom vollen Bewußtsein getrennt.

Bei der Demenz ist die Trennung wörtlich zu nehmen, sie beruht auf kortikaler neuronaler Einbuße oder verminderter Funktions­fähigkeit; bei Gemütskrankheiten kann eine ähnliche Trennung auftreten, allerdings ohne mit strukturellen Veränderungen einherzugehen. 

Psychologie und Psychiatrie haben ihr Augenmerk auf eine qualitative Gliederung des Bewußtseins gerichtet und partielles Bewußtsein beobachtet, das mit Träumen, Hypnose und Aktivitäten des »Unbewußten« verbunden ist. Zu einer Überschneidung der Bewußtseinsebenen kommt es bei Vergiftungs­zuständen, Somnambulismus und bei den »traumähnlichen Zuständen«, die mit Schläfenlappen-Epilepsie, post-enzephalitischem Parkinson­ismus und anderen »bewußt­seins«-verändernden Störungen einhergehen.

* Die hochgestellten Ziffern verweisen auf das Literaturverzeichnis am Ende des jeweiligen Kapitels.


Die Untersuchungen von Wilder Penfield und anderen zeigen deutlich, daß es Erinnerungen jenseits unseres willentlichen Erinnerungsvermögens gibt; sie lassen erkennen, daß, auch wenn unser Erinnerungsvermögen begrenzt ist, große Teile, wenn nicht alle Erlebnisse des Lebens, in unseren Gehirnen kodiert sind. Bestimmte Formen fokaler Epilepsie erzeugen Episoden, denen das plötzliche Auftreten einer sehr frühen Erinnerung als »Aura« vorangeht. Der eingrenzende oder selektive Aspekt des Gedächtnisses hat für uns praktischen Nutzen. Denn müßten wir uns der Erlebnisse unseres ganzen Lebens gleichzeitig erinnern, dann wäre unsere Hirnaktivität chaotisch. (Allein welche Belastung wäre es, müßte man sich beim Autofahren sämtlicher Nummernschilder, Autofarben, Straßenschilder und so weiter, die man je gesehen hat, erinnern.) Folglich bedient sich die normale Gehirntätigkeit eines Erwachsenen des Gedächtnisses mittels selektiven Abrufs. 

Entsprechend der Absicht dieses Kapitels bezieht sich der Begriff »Bewußtseinsebenen« auf unterschiedliche Grade selektiven Bewußtseins im Hinblick auf die drei grundlegenden »Zonen« unseres Körpers: die Viszera [»Eingeweide«] innerhalb der Körperwand, die Körperwand selbst und den Raum jenseits unseres Körpers. »Bewußtsein« verändert sich beim Kleinkind und beim Kind fast von Tag zu Tag, oft sogar beobachtbar. Bewußtseinsebenen bei Erwachsenen lassen sich sehr schwer eindeutig beobachten, da sie offenbar zahlreich und variabel sind. Bestimmte neurologische Störungen erleichtern derartige Beobachtungen, aber selbst unter dieser Bedingung ist nur eine kleine Zahl von »Ebenen« hinreichend charakteristisch, um benannt oder beschrieben werden zu können.

 

Neurobiologie und Primärtheorie

Absicht dieses Kapitels ist es, Beweise zur Unterstützung der Hypothese zu liefern, daß die Primärtheorie in einem erstaunlichen Maße mit einer biologischen Betrachtungsweise psychischer Krankheit beim Menschen übereinstimmt. Vom Standpunkt eines klinischen Neurologen, der sich für menschliches Verhalten interessiert, stehen die konventionellen Psychotherapien lediglich in lockerer Beziehung zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen hinsichtlich der Embryologie, der Struktur oder Funktion des menschlichen Gehirns. Die Primärtheorie basiert auf Beobachtungen und deren sorgfältiger Beschreibung, ohne daß ein theoretischer »Sprung« zu einer nur schwach damit im Zusammenhang stehenden Hypothese getan wird.

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Die Schwäche anderer Betrachtungsweisen psychischer Krankheiten besteht darin, daß die Hypothesen weit über die gemachten Beobachtungen hinausgehen, oft in einem solchen Maße, daß die Hypothesen aufgrund ihrer Konstruktion nur teilweise oder so gut wie überhaupt nicht überprüfbar sind. Ferner gehen viele Thesen bezeichnenderweise von der Voraussetzung aus, daß Psyche und Gehirnfunktionen ihrer Art nach grundsätzlich unterschiedliche Phänomene sind, die allenfalls bedingt zueinander in Beziehung stehen; eine Voraussetzung, die an eine für einen seriösen Biologen unhaltbare Form von Mystizismus appelliert. Die »Brücke« zwischen der Neurobiologie und der Primärtheorie ist die Neurologie des Schmerzes und der Schmerzentstehung, über die in der Neurologie selbst bereits vieles bekannt ist. 

Dr. Janovs Standpunkt lautet, daß Neurose und Psychose (sofern es sich nicht um bekannte zerebrale Strukturstörungen handelt) notwendigerweise immer in Beziehung zu früher erlebtem psychischem Schmerz stehen.2,3 Seine Hypothese erfährt starke Unterstützung durch die Phänomene, die den Berichten der Patienten zufolge vor und nach der Primärtherapie auftreten. Der Terminus »psychischer Schmerz« ist subjektiv allen bekannt, er begegnet uns allenthalben im täglichen Leben. Psychischer Schmerz ist ein Phänomen des menschlichen subjektiven Geisteslebens, und er ist nicht weniger eine reale Größe, nur weil eine exakte, physiochemische Basis für ihn noch nicht definiert ist.

 

Psychischer und physischer Schmerz 

 

Psychischer und physischer Schmerz haben den gemeinsamen Nenner, subjektiv als unangenehm oder widrig erlebt zu werden. Wenn Schmerzreize hinreichend groß sind, um überhaupt eine Reaktion auszulösen, dann steht die Reaktion ihrer Natur nach in signifikanter, wahrscheinlich notwendiger Beziehung zur Intensität (und Häufigkeit) des Reizes. Diese Beziehungen für körperliche Schmerzreize sind allgemein bekannt und lassen sich im täglichen Leben leicht beobachten. Der Verlockung der Teleologie sollte man sich, wenn überhaupt, dann nur mit Vorsicht, nähern, aber im Vorübergehen sollte doch erwähnt sein, daß Amplitude und Qualität der Reaktion in unmittelbarer Beziehung zu Amplitude und Qualität des Reizes stehen und von einem evolutionären Prozeß zeugen. 

Das Unvermögen, eine solche Beziehung als lebendiges Aktionssystem in einer nicht vorher­sagbaren natürlichen Welt aufrechtzuerhalten, würde bald zum Aussterben solcher Individuen führen und auf die Dauer auch zum Aussterben der Spezies. Reize, die Lebensformen partiell oder total zu zerstören vermögen, müssen vermieden werden, wenn solche Formen fortbestehen, sich entwickeln und als Individuen wie auch als Spezies überdauern sollen.

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(Eine umgekehrte Dialektik gilt für die angemessenen Reaktionen, die einen Organismus veranlassen, sich solchen Reizen zuzuwenden, die Leben unterstützen und zum Fortbestehen der Individuen und der Spezies beitragen.)

Diese zwischen körperlichem Schmerz und Verhalten bestehenden Beziehungen werden vermutlich weniger in Frage gestellt als die (analogen) Beziehungen zwischen psychischem Schmerz und Verhalten. Die Schwellen körperlichen Schmerzes variieren bei Menschen entsprechend dem jeweiligen Alter des Betreffenden und dem Kontext derartiger Reize; vermutlich spiegeln sie auch individuelle Variationen wider. Psychischer Schmerz per se ist nicht leicht zu messen oder zu quantifizieren, und die Möglichkeit, ihn überhaupt zu messen, hängt davon ab, ob Parameter endokriner, viszeraler oder verhaltensmäßiger (muskulärer) Veränderung einen externalisierten Ausdruck von Gefühlen korrekt widerspiegeln. 

Wenn man sich entschlösse, nur solche Manifestationen psychischen Schmerzes zu messen, die von einem einzelnen Menschen oder von einer Gruppe von Menschen zum Ausdruck gebracht werden, käme man einer gültigen Definition von psychischem Schmerz nicht viel näher. Eine allgemeine Definition wäre zu allgemein, und eine spezifische Definition wäre gegenwärtig unzureichend. Festgehalten werden kann jedoch, daß psychischer Schmerz ein Bestandteil subjektiven menschlichen Geisteslebens ist, der in Beziehung zu adäquaten Reizen steht, die ihn auslösen. Als solches ist er der Art nach anderen Bestandteilen subjektiven menschlichen Geisteslebens durchaus ähnlich.

Man braucht den biologischen Bezugsrahmen nicht zu verlassen, wenn man die Eigenschaften psychischen Schmerzes erörtert. Psychischer Schmerz ist wie die Symbolbildung eine Manifestation menschlicher Gehirnfunktionen. Wahrscheinlich gibt es rezeptive Felder für dessen Würdigung, die aber (wie bei dem Phänomen physischer Schmerzen) nur partiell definiert sind. Wenn man im Rahmen einer Gehirnuntersuchung mit Elektroden Schmerz auslöst (von dem der Patient dann berichtet), so liefert das wichtige zusätzliche Informationen, aber keine umfassende Definition von Schmerz. 

Wenn psychischer Schmerz im geistig-seelischen Leben eines Menschen tatsächlich eine symbolische Version körperlichen Schmerzes ist, und wenn man berücksichtigt, daß er sich nach außen hin in Worten, Körperhaltungen, Gesichtsausdrücken, Stimmlagen und viszeralen und endokrinen Veränderungen manifestiert, dann läßt sich durchaus sagen, daß psychischer Schmerz ein Erlebnis des gesamten Organismus ist, das sich nach außen hin durch typische Reaktionen widerspiegelt und durch das gesamte Gehirn vermittelt wird.

Die Reaktion auf Schmerz betrifft alle Teile des Gehirns und die funktional durch das Gehirn integrierten Zonen des Körpers. Es ist anzunehmen, daß ein schmerzhaftes Erlebnis, ob psychischen oder physischen Ursprungs, ähnlich verarbeitet wird.

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Die Ähnlichkeit zwischen psychischem Schmerz und anderen Komponenten menschlichen subjektiven Geisteslebens werden in den Arbeiten C. J. Herricks deutlich, der die Natur der Funktion des Nervensystems, insbesondere die kortikaler Gehirnfunktionen analysiert.1 Eine wiederholt betonte These lautet, daß sich kortikale Gehirnfunktionen der Art nach von subkortikalen Gehirnfunktionen unterscheiden, und zwar hinsichtlich qualitativer Unterschiede in der morphologischen Organisation, und daß sich kortikale Funktionen des menschlichen Gehirns diesbezüglich der Art nach von denen bei Affen und infrahumanen Säugetieren unterscheiden.

»Reflexreaktionen folgen für gewöhnlich unmittelbar auf die ihnen gemäßen Reize, und ihre zentralen Anpassungs­mechanismen arbeiten innerhalb der relativ direkten Grenzen der beanspruchten Reizleitung (Medulla oblongata [verlängertes Rückenmark], Mittelhirn, Thalamus, Corpus striatum [Teil der Basalganglien des Großhirns] etc.). Kortikale Funktionen hingegen sind in stärkerem Maße verzögerte Reaktionen und individuell erworbene Kontrollen, die den angeborenen Reflex und instinktive Muster umlenken und umformen. Die Einführung großer Mengen höherer korrelativer Gewebspartien, die sich mit verzögerten Reaktionen innerhalb des angeborenen Reflexapparats beschäftigen, hätte die Tendenz, die Reflexmuster zu verzerren, und würde störend auf deren unmittelbar und effektiv funktionierende unabhängige Aktion einwirken, wenn eine solche sofortige Aktion erforderlich wäre. Das Hinzufügen assoziativer Gewebspartien außerhalb dieser tieferen Zentren läßt deren lokale Aktivitäten unbeeinträchtigt, einerlei wie umfassend die übergelagerten kortikalen Felder entwickelt sind .....«1)  

Eine räumliche Trennung kortikaler Aktivitäten von dem Neuralrohr unterhalb des Thalamus und eine sich gleichzeitig entwickelnde Möglichkeit, Reaktionen auf Reize zu verzögern, sind zwei elementare Charakteristika der Funktionsweise des Gehirns bei Säugern und insbesondere beim Menschen. Das heißt, die Möglichkeit, Reaktionen auf Reize zu verzögern, zeugt von einem Hemmprozeß, durch den mehrere sofortige mögliche Reaktionen nicht vollzogen werden. Das verschafft Zeit, einen Reiz abzuwägen. Nach der Verzögerung wird eine ausgewählte Reaktion erfolgen, die der Reizsituation im Kontext früherer, ähnlicher Situationen angemessen ist. Diese Möglichkeit, eine Reaktion zu verzögern, ist die unabdingbare Voraussetzung für Erfahrungslernen.

Gehirnläsionen [Funktionsstörungen des Gehirns], die die Fähigkeit, Reaktionen zu verzögern, beeinträchtigen, betreffen nahezu immer jüngere Gedächtnisfunktionen (subfrontale, temporale, anterior limbische oder hippocampale Läsionen). Das ist für die Primärtheorie von großer Bedeutung. Die Möglichkeit zu zögern, um einen Reiz abzuwägen, ist eine hinreichende Bedingung für eine selektive Verhaltensreaktion.

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Eine solche Selektion könnte, wenn adäquate Reize für psychischen Schmerz gegeben sind, zu einer Reaktion führen, die einen symbolischen Rückzug von dem Reiz beinhaltet, mit oder ohne körperlichen Rückzug.

In Dr. Janovs Terminologie heißt das, wenn Reaktionen auf schmerzhafte äußere Reize erfolgen, ohne daß dabei der innere Zustand berücksichtigt wird, dann ist die hinreichende Bedingung für die Entwicklung eines gespaltenen, eines »dualen« Bewußtseins, eines »unrealen Selbst« gegeben.2,3  Die Struktur des menschlichen Kortex stellt keine notwendige Struktur für ein duales Bewußtsein dar, nur eine hinreichende. Einfach gesagt, erlaubt es der menschliche Kortex einem Kleinkind, Reaktionen auf Umweltreize mit einer niedrigeren Schwelle (bereitwilliger) zu machen als die der »natürlichen« Reaktionen, die normalerweise in Beziehung zu viszeralen Reizen stünden. Mithin ist der menschliche Kortex derart strukturiert, daß er Reaktionen relativ ungeachtet viszeraler Imperative vermitteln kann. 

Das ist der Fall, wenn man gezwungen ist, schmerzhafte äußere Reize zu verarbeiten. Ohne solche (disproportionalen) noxischen Umweltreize gäbe es keinen hinreichenden Grund, den eigenen viszeralen Imperativ zu übergehen, dann würden die Reaktionen entsprechend ausfallen, und dann gäbe es weder Grund noch Veranlassung für die Entwicklung eines dualen Bewußtseins. Kleine Kinder haben die hinreichende neuronale Fähigkeit zu essen, auch wenn sie nicht hungrig sind; »auf den Topf« zu gehen, wenn kein Bedürfnis dafür vorhanden ist; zum Essen einen Löffel zu benutzen, wenn sie lieber die Finger nehmen würden; still zu sein, wenn sie eigentlich lieber ausgelassen herumtoben würden; höflich zu sein, auch wenn sie den anderen nicht mögen, und so weiter und so fort, ad infinitum.

Wenn äußere Reize hinreichend stark sind, kann eine Nichtbeachtung des viszeralen Imperativs in sehr extremem Maße auftreten. Extreme Anorexie [Magersucht], extreme Korpulenz, unmäßiges Rauchen, Alkoholismus, Drogenmißbrauch und zahlreiche andere Beispiele persönlichen menschlichen »Selbstmißbrauchs« zeigen sich in der klinischen Praxis mit bestürzender Regelmäßigkeit. Die kortikale Fähigkeit des Menschen, bezüglich äußerer Reize zu symbolisieren, kann zu Reaktionen mit beschränkter oder kaum nennenswerter viszeraler Relevanz führen, und wie die Praxis zeigt, ist das sehr oft der Fall.

Dr. Janov weist in seinem Kapitel über das duale Bewußtsein auf die operationalen und qualitativen Ähnlichkeiten zwischen Hypnose und Neurose hin. Auch Herrick geht auf diese Parallelen ein, er schreibt:

»Es ist eine bekannte Tatsache, daß bei Träumerei und Traum auch bei völlig normalen Menschen in mehr oder weniger starkem Maße eine Trennung oder Abspaltung bestimmter Erlebnis- oder Erfahrungsketten vom bewußten Leben vorliegt, ein Prozeß, der unter pathologischen oder hypnotischen Bedingungen so weit gehen kann, daß er zu

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einer völligen Abspaltung bestimmter Komponenten oder Komplexe des Erlebens führt, die untereinander und für sich genommen absolut kohärente Einheiten bilden, die völlig außerhalb des Wissens des normalen persönlichen Bewußtseins bleiben. Wenn das ins Extrem getrieben wird, haben wir es mit Fällen der Persönlichkeitsspaltung oder des Mitbewußtseins zu tun, wie sie von Morton Prince (1914) und vielen anderen beschrieben wurden.«1)  

Ein Säugling, der in einer widrigen Umwelt lebt, ist gezwungen, auf den erlebten Schmerz zu reagieren. Je widriger die Umwelt, um so größer dieser Zwang. Die Auseinandersetzung mit dem Schmerz und dessen Intensität wird zu einer der höchsten Prioritäten des Gehirns, und in dieser Auseinandersetzung wird das viszerale Selbst partiell vernachlässigt. Der subkortikal-viszerale Angriff wird von Gehirn und Körper registriert, und diese Aufzeichnung kann später — als Nebenprodukt der Auseinandersetzung mit frühem Schmerz — vom Bewußtsein ausgeschaltet werden.

 

 

Entwicklung des Gehirns, viszerale Motilität 
und psychosomatische Krankheiten

Eine Komponente der Primärtheorie, die mit der Alltagserfahrung nicht übereinzustimmen scheint, ist die Beobachtung, daß Erinnerungen im Leben eines Menschen offenbar sehr viel früher einsetzen, als gemeinhin angenommen wird. Diese offenbar mangelnde Übereinstimmung hat ihre Wurzeln in dem Dogma, daß Erinnerungen nur eine sprachliche oder verbale Repräsentation haben können. Daraus folgert man, daß aufgrund des zeitlichen Ablaufs der Sprachentwicklung Erinnerungen vor dem dritten Lebensjahr unmöglich seien. 

Die Vorstellung von »Körper-Erinnerungen« sowie Betrachtungen über deren mögliche Beziehung zu psychosomatischen Krankheiten soll im folgenden Abschnitt näher untersucht werden. Der Entwicklungsprozeß des menschlichen Gehirns verläuft derart, daß seine phylogenetisch älteren Teile als erste voll funktionsfähig und ausgereift sind. Eben dieser Tatbestand und die damit einhergehenden histologischen Wechselbeziehungen machen es mehr oder weniger zur Gewißheit, daß »Körper-Erinnerungen« existieren. Ein pränatales oder neugeborenes Kind ist funktionsfähig im Hinblick auf den zentralen Bereich seines Körpers und den zentralen Bereich seines Gehirns, und es ist nicht verwunderlich, daß diese beiden Bereiche einander entsprechen. 

Man kann das vereinfacht darstellen, indem man sich das Gehirn als in drei konzentrischen Sphären aufgebaut vorstellt: eine innere Sphäre, eine mittlere Sphäre und eine äußere Sphäre4,5, und diese aus Nervenzellen und Nervenfasern bestehenden Sphären nannte C. J. Herrick die »Neuropilem«6, die verschiedenen im menschlichen Gehirn konzentrisch angeordneten »Zonen« des Gehirns. 

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Es ist naheliegend, daß der innere Bereich des menschlichen Gehirns die anatomisch zentralen Reaktionen vermittelt, Reaktionen, die für die Aufrechterhaltung des Lebensprozesses selbst notwendig sind. So sind Herz, Muskeln des Atmungstrakts, Blase, Darm­bewegung, Magenkontraktion, gastrische Salzsäuresekretion, Hormonsteuerung und die blutbildenden Organe zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes bereits voll entwickelt, wahrscheinlich sogar schon vor der Geburt.

 

Es gibt nur wenige Informationen über den präzisen Stand der Funktionsfähigkeit während der pränatalen Entwicklung, meistens sind sie das Ergebnis indirekter Beobachtungen; so ist zum Beispiel die Tatsache, daß ein sieben Monate altes Kind in utero einen Schluckauf haben kann, ein Beweis dafür, daß die Medulla in Funktion ist und adäquat arbeitet, zumindest in ihren einfachen Funktionen. Es ergibt durchaus Sinn und folgt unmittelbar aus neuroembryologischen Beobachtungen, daß das Nervensystem, wenn ein Individuum sehr früh im Leben, sagen wir vor dem dritten Monat, schmerzhaften Erlebnissen ausgesetzt ist, nur mittels seiner bereits entwickelten Bahnen reagieren kann. 

Der innere Bereich des Gehirns, der bei der Geburt angemessen funktionsfähig ist, entspricht in etwa der Medianzone des Vorderhirns. Diese Medianzone ist nicht ein einfacher Kreis, wie es das »konzentrische Modell« impliziert, sondern wäre exakter vorzustellen als der Bereich des Vorderhirns (der das innere Neuropilem bildet), der die ventrikulären Kavitäten umgrenzt.4,6 Die Umgrenzung dieser Kavitäten, phylogenetisch die ältesten Teile des Vorderhirns, sind zusammen mit den Aktivitäten von Hirnstamm und Rückenmark nahezu ausschließlich für das verantwortlich, was Dr. Yakovlev »anabole Viszeration« genannt hat.4,5

Die Viszera und das Gehirninnerste sind die Strukturen, die für die Vermehrung des Energiestands des Organismus zuständig sind. Die Motilitäten* in der Körperwand und in allen Aktivitäten, bei denen der Körper Arbeit vollbringt (seelisch oder körperlich), verbrauchen Energie und senken den Energiestand des Gesamtorganismus. Es gibt fraglos in jedem Alter eine Interaktion zwischen äußerem, extrapersonellem Raum, dem Raum jenseits des Körpers, und der inneren Zone. Es muß sie geben, weil Kinder in eine Außenwelt geworfen werden und die Fähigkeit haben müssen, auf sie zu reagieren. Doch was Erinnerungen und ihre Position im Körper betrifft, so müssen sie keineswegs, wie viele glauben, immer verbal sein. Sie sind vielmehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht verbal, ehe ein Kind nicht etwa dreieinhalb bis vier Jahre alt ist. 

 

* Gesamtheit der unwillkürlichen, d. h. reflektorischen, vegetativ gesteuerten Muskelbewegungen (Anm. d. Übers.)

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Wenn ein Kind im dritten Lebensmonat einen schmerzhaften Reiz erlebt, wäre es höchst unwahrscheinlich, daß es diesen Schmerz durch starke Kontraktionen der lumbosakralen Muskeln oder durch einen mißbilligenden Gesichtsausdruck ausdrückt, weil die mimischen Gesichtsmuskeln und die Bewegungen der Körperwand (die sakrospinalen Muskeln, die Muskeln des Rumpfes und der Gliedmaßen) durch einen Bereich des Gehirns vermittelt werden, der bei einem zwei oder drei Monate alten Kind noch nicht voll entwickelt ist, weder afferent noch efferent. 

Es ist anzunehmen, daß ein traumatisches Erlebnis bei einem zwei- oder dreimonatigen Kind irgendwo im Körperinnern repräsentiert wird, beispielsweise in Form von Magenschmerzen, Übersekretion von Salzsäure, Darmkrämpfen, Herz-Arrhythmie oder starker Anämie. Es besteht also eine gewisse Logik, eine gewisse Dialektik hinsichtlich der entwicklungsbedingten Funktionsfähigkeit bestimmter Bereiche des Gehirns zu einem gegebenen Zeitpunkt und hinsichtlich des Bereichs von Körper und Gehirn, innerhalb derer eine Erinnerung kodiert wird.

 

Was die Markbildung der Nervenfasern (im Gehirn) betrifft, so ist zu berücksichtigen, daß die Medianzone selbst bei einem Erwachsenen aus nur recht markarmen Fasern besteht, so daß eine geringe Menge Myelin [markhaltige Schicht der Nervenfasern] in dieser Zone des Gehirns im Säuglingsalter keinen Grund dafür bietet, die Funktionsfähigkeit des Gehirns eines Neugeborenen zu verneinen. Die multisynaptischen Nerven der Medianzone sind miteinander verbunden, und zwar nicht der Reihe nach noch parallel, sondern ungeachtet jeglicher Symmetrie und Richtung. Das »Modell«, das man hier zur Veranschaulichung zu Hilfe nehmen könnte, wäre das eines dichten, dreidimensionalen Spinnengewebs. Ja, ein Neuropilem selbst läßt sich am besten als ein »Filzwerk« vorstellen, als ein dreidimensionales Netzwerk aus extrem dünnen Nervenfasern.

Man kann als bekannt voraussetzen, welcher Art neuronale Funktionen sich von einem derartigen Netzwerk ableiten können; wichtiger ist, daß man weiß, daß bestimmte Aktivitäten aus dieser Anordnung des strukturellen Netzwerks einfach nicht hervorgehen können. Die Medianzone verfügt einfach nicht über die mechanisch-strukturellen Spezifika, die eine komplexe Tätigkeit wie zum Beispiel Maschinenschreiben (oder auch mit der Hand schreiben) erfordert.

Eines der wichtigsten Prinzipien neuronaler Organisation ist, daß neuronale Funktionen keine Frage des Alles-oder-Nichts sind, sondern eine Frage der Reaktivität - sie sind Vermittler einer Reiz-Reaktions-Beziehung, die mit zunehmendem Alter, Erfahrenheit und (funktionaler) Erweiterung des Nervensystems modifiziert wird. So wird unsere Fähigkeit, eine beliebige Bewegung auszuführen, beispielsweise eine Fingerbewegung, zunächst auf der Ebene des Rückenmarks repräsentiert, wichtiger jedoch in der Medulla, dann im Pons, dann wieder in dem äußerst komplizierten Relaissystem innerhalb des Mittelhirns und wird sodann von den Basalganglien gründlich verarbeitet.

Anschließend findet eine weitere Modifizierung, Fragmentierung und selektive Hemmung auf kortikaler Ebene statt.

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In welchem Alter sich das schwerste (Primär-) Trauma eines Kindes ereignet hat, läßt sich an der Art des Symptoms erkennen; so läßt sich beispielsweise bei einem Kind mit einem ständig mürrischen Gesichtsausdruck oder mit lumbosakralen Muskelkrämpfen erkennen, daß es das Gros seiner Traumata zu einem Zeitpunkt erlebt haben muß, in dem nicht mehr nur die Medianzone angemessen reaktionsfähig war. Derartige Symptome deuten auf eine bereits fortgeschrittenere Entwicklung und auf Reaktionsverarbeitung durch das Mittelhirn. Der Terminus »Mesokinese«4,5 von Dr. Yakovlev ist ungemein zutreffend; er besagt, es sei ganz einfach »der äußere Ausdruck eines inneren Zustands«4,5.

Das Wort »Emotion« entstammt den beiden lateinischen Wörtern »ex motion« (aus Bewegung).4,5 Gefühlszustände selbst haben außer in den Viszera kein Bewegungskorrelat, während Emotionen ihr Bewegungskorrelat auf der Ebene der Körperwand haben. Das läßt sich veranschaulichen, indem man sich den menschlichen Körper als aus drei »Röhren« bestehend vorstellt: aus einer inneren Röhre, welche die gesamten Viszera bilden; aus einer mittleren Röhre, die die Körperwand selbst ist, einschließlich der mimischen Gesichtsmuskeln und Klang der Stimme; und aus einer dritten oder äußeren Röhre, die die Umwelt (den extrapersonellen Raum) darstellt. Das innere Hirn vermittelt die Aktivitäten des inneren Körpers; das mittlere Gehirn vermittelt die Aktivitäten des mittleren Körpers, das heißt die Aktivitäten der Körperwand; und das äußere Gehirn, der Kortex, vermittelt die Aktivitäten und die Wahrnehmungen, die sich auf den extrapersonellen Raum, auf den Raum außerhalb des Körpers beziehen.4,5  So wird »Mesokinese« zur »Botschaft hinter der Botschaft«, die von jedem benutzt wird, den es interessiert, etwas darüber zu erfahren, was ein anderer Mensch fühlt (im Sinne von »fühlender Zustand ex motion«). 

 

Dr. R. B. Livingston hat elektrodische Gehirnuntersuchungen angestellt über affektive Komponenten von Reizen im Hinblick auf ihre anatomische Lokalisierung (in der Medianzone und im limbischen Bereich).7 Offenbar befinden sich im Vorderhirn entlang dem Verlauf des medialen Vorderhirnbündels Zellen, die vorwiegend mit Zuständen lustvoller Gefühle befaßt sind, nämlich die Septalkerne als die prototypischen Zellgruppen in dieser Hinsicht. »Die entscheidendsten Strukturen für negative Bekräftigung liegen im dorsalen Teil des Mittelhirns und in einer gegabelten Zone des Zwischenhirnstammes. Die entscheidendsten Strukturen für positive Bekräftigung liegen im Limbischen System und im ventromedialen Hypothalamus. Regionen positiver Bekräftigung sind um ein Mehrfaches extensiver als Regionen negativer Bekräftigung.«

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Demnach findet die in Dr. Janovs Buch Anatomie der Neurose geäußerte Ansicht Unterstützung, daß nämlich das Zwischenhirn der Ort ist, an dem Gefühle zuerst bewußt repräsentiert werden. Das läßt sich sehr direkt aus den Ergebnissen elektrodischer Gehirnuntersuchungen ableiten (Olds, Milner, Heath, Delgado, Roberts und andere; vgl.7). Diese Untersuchungen sind in den letzten Jahren von den oben genannten Wissenschaftlern sowie von anderen, die zur Erforschung von Gehirnfunktionen stereotaktische Elektroden benutzt haben, weitergeführt worden. 

Der Boden des dritten Ventrikels scheint eine wichtige »erste« Relaisstation für die Repräsentation schmerz- und lustfühlender Zustände zu sein. Das ist Teil des anatomischen und physiologischen »Substrats«, das sich mit der Art der Reaktion auf einen Reiz befaßt, das heißt damit, ob er unterstützt oder verdrängt werden soll. Das ist besonders von Belang, wenn neuartige Reize dargeboten werden. Einen weiteren Beitrag für das Verständnis der mit fortschreitendem Alter einhergehenden Verhaltensänderungen liefert das Wissen, welche Nervenbahnen wann Myelin bilden. Dieser Aspekt ist ausgiebig und sorgfältig erforscht worden, und Beginn und Dauer der Markbildung in den verschiedenen Fasersystemen sind mit beachtlicher Präzision festgestellt worden.8,9 Es besteht eine offensichtliche Beziehung zwischen der Verhaltensentwicklung und der Sequenz der Markbildung der Faserbahnen des Gehirns.

Ein »Körper/Geist-Problem« gibt es im Grunde nicht; es gibt keinen Geist ohne sein anatomisches und physiologisches Substrat. Nicht nur die tägliche Praxis der Neurologie bestätigt diese Aussage immer wieder, sie wird auch durch ganz einfache Beobachtungen am Leben selbst veranschaulicht. Bei sehr starkem Hirn-Trauma, Elektroschock, hohem Fieber etc. verlieren Menschen ihr Gedächtnis. In bestimmten Bereichen des Gehirns treten Funktionsstörungen auf, sofern eine Attacke stark genug ist.

Die Erforschung der Markbildung im menschlichen Gehirn ist bedeutsam, weil die Funktionstüchtigkeit eines beliebigen Systems des Gehirns, wie des visuellen oder des vestibulären Systems, verhaltensmäßig nahezu eins-zu-eins mit dem Grad (der Dicke) und dem Ausmaß (Abstand) der Markbildung, die in einer beliebigen Bahn stattgefunden hat, korreliert. 

Es ist kein Zufall, daß ein Kind die ihm angeborene Möglichkeit zur Ausdehnung (in der Haltung von Körper und Gliedmaßen) etwa zur selben Zeit (fünfter bis achter Monat; Langworthy, zitiert nach Yakovlev8) realisiert, wie die vestibulären Bahnen Mark bilden. Die Entwicklung dieses Subsystems ist die Grundlage für unser angemessenes Verhältnis zur Schwerkraft, es hat zwischen dem vierten Monat und einem Jahr voll Myelin ausgebildet und vermittelt — zusammen mit anderen sich entwickelnden Bereichen des Gehirns — die Fähigkeit, zunächst sich umzudrehen, dann aufrecht zu sitzen und schließlich zu stehen. 

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Ebensowenig ist es ein Zufall, daß das Explorationsverhalten eines Säuglings mit der Embryologie des kindlichen Nervensystems völlig korreliert (eins-zu-eins). So erkundet das Neugeborene zunächst kaum etwas anderes als Mund, Oberkörper und Genitalien. Mit etwa dreieinhalb bis vier Monaten beginnt es, weitere Erkundungen anzustellen: die Zehen, die Ohren, das ganze Körperäußere wird untersucht, die Finger (linke und rechte Hand) spielen miteinander. Das Kind nimmt den Raum der Körperwand zunehmend wahr und anschließend dann den Raum jenseits seines eigenen Körpers.

Mithin kann man verletzt (in primärtheoretischem Sinne) werden und schmerzliche Erinnerungen haben, die entsprechend einem »Zeitplan« damit übereinstimmen, welche Bereiche des Gehirns in einem gegebenen Stadium der Entwicklung angemessen funktionsfähig sind. Man würde in Anbetracht des oben Gesagten intuitiv vermuten, daß ein Mensch, der unter Brustschmerzen oder verschiedenen Arten von Kopfschmerzen leidet (besonders unter solchen, die durch Vasodilatation der Blutgefäße der Schädeldecke oder der Gesichtshälften erzeugt werden), zu einem späteren Zeitpunkt der Kleinkindphase ein Trauma gehabt hat als jemand, dessen psychosomatische Krankheit in Form eines Ulkus auftritt. Das folgt aus der Überlegung, wo hinsichtlich der »Röhren« des Körpers diese Symptome angesiedelt sind. Es folgt auch aus den oben genannten entwicklungsbedingten Kriterien, das heißt daraus, welche Bereiche des Gehirns zu einem gegebenen Zeitpunkt angemessen funktionsfähig waren.

Dr. Janovs Konzept der psychischen »Überlastung« scheint sehr brauchbar zu sein. Wenn man es auf ein Beispiel anwendet, etwa auf eine Verletzung aufgrund der Kritik eines anderen Menschen, so läßt sich sagen, daß es sich vermutlich um eine »Überlastung« durch ein (Primär-)Trauma handelt, das sich nach dem zweiten oder dritten Lebensjahr ereignet hat, einfach weil es dabei um eine mit (psychischem) Schmerz verbundene Vorstellung geht. »Grade von Neurose« stehen vermutlich innerhalb des Körpers in einem konzentrischen Verhältnis, von der Mitte nach außen führend, und sobald Reize dem extrapersonellen Raum entstammen, können vielleicht Gedanken oder begriffliche Vorstellungen allein ausreichen, um eine »Überlastung« zu erzeugen, und zu neurotischer Symptombildung führen. 

Es gibt eine geordnete Abfolge der Reifung und Entwicklung funktional angemessener Fähigkeiten von Gehirn und Körper, die von innen nach außen verläuft. Die Verarbeitung schmerzhafter Reize der frühesten und frühen Kindheit wird jeweils von den Bereichen des Gehirns übernommen, die entsprechend dem Reifungsstadium adäquat funktionsfähig sind. Ein Erwachsener ist in allen drei fundamentalen Körperzonen adäquat funktionsfähig, ein Säugling nicht. Ein Säugling ist zunächst nur in den Viszera adäquat funktionsfähig, später dann in der Körpermuskulatur und bei geräuscherzeugenden Handlungen, und erst sehr viel später in bezug auf den extrapersonellen Raum und die Begriffsbildung. 

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Daraus folgt, daß Symptombildung bei Neurosen das Reifungsstadium widerspiegelt, auf dem man ein (Primär-) Trauma erlebt hat. Ein frühes Trauma wird im Hinblick auf viszerale Funktionen (beziehungs­weise Funktionsstörungen) registriert und später manifestiert. Ein etwas späteres Trauma wird sich in Haltungs-, Muskel- und Sprachstörungen äußern, ein Trauma, das sich nach Erlangen der Sprache ereignet, in einem gestörten interpersönlichen Leben.

Was nun die Frage nach unmittelbar mit der Geburt verbundenen Erinnerungen betrifft, so muß man jenen, die davon ausgehen, daß das Gehirn eines Neugeborenen »zu primitiv« für derartige Operationen sei, die Frage entgegenhalten: »Zu primitiv wofür?« Ein Gehirn, das wirklich zu primitiv wäre, könnte nicht einmal anabole Viszeration vermitteln und würde folglich zum Tod führen. Ein normales Neugeborenes mit einer normalen anabolen Viszeration ist ein Aktionssystem mit einer beachtlichen Vielfalt von Fähigkeiten und Anlagen. Das sagt schlüssig etwas darüber aus, welche Bereiche des Gehirns zu diesem Zeitpunkt bereits angemessen entwickelt und voll funktionsfähig sind. Dabei handelt es sich vorwiegend um jene, die für die Nutzbarmachung von Energie zuständig sind und, soweit es erforderliche Bewegungen betrifft, vorwiegend mit der Bewegung von Zellen befaßt sind.4 (Allerdings ist auch bei einem Neugeborenen bereits eine gewisse körperliche Motilität im Zusammenhang mit Kontraktionen der Körperwand vorhanden.) 

Über die Markbildung im Gehirn um die Zeit der Geburt schreibt Dr. Yakovlev folgendes: 

»Bei der Geburt sind die meisten der angeborenen Fasersysteme der neuronalen Aggregate in der Mantelzone von Rückenmark und Hirnstamm markhaltig. Im Verlauf der postnatalen Entwicklung des Nervensystems entfalten sich Reifungsprozesse hauptsächlich (wenn auch nicht ausschließlich) im Randbereich der Neuralachse, also im zerebralen Kortex. Dieser Randbezirk entwickelt sich zur kortikalen Platte mit einem charakteristischen Muster neuronaler Anordnung.«8

Einfach gesagt, zeugen am Ende der Schwangerschaft entwicklungsbedingte Kriterien von einem funktions­fähigen inneren Hirn, einem teilweise funktionsfähigen mittleren Hirn und einem äußeren Hirn, das seine endgültige Funktion gerade zu entwickeln beginnt. Rezeptoren und Effektoren innerhalb des Körpers und innerhalb der Körperwand befinden sich zum Zeitpunkt der Geburt auf einer hohen Ebene der Funktionsfähigkeit; mithin gibt es keinen Grund, a priori die Auffassung zu verwerfen, daß ein Neugeborenes signifikante körperliche Reize registrieren kann. Das ist um so eher möglich, sofern es sich dabei um viszerale Reize handelt — um Hunger, Durst, Atemprobleme, viszerale Schmerzen etc.; es trifft aber auch dann noch zu, wenn es sich um Reize handelt, die die Hautoberfläche betreffen (Kälte, Nässe, Hitze, Schmerz etc.).

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Es mag sein, daß die meisten menschlichen Erinnerungen im Kortex kodiert sind, aber die Behauptung, subkortikale Erinnerungen gäbe es nicht, würde beobachteten, modifizierbaren Verhaltensweisen von Tieren mit geringem oder keinem Kortex widersprechen. Lashley (zit. in 1) hat festgestellt, daß Ratten mit abgetragenem visuellem Kortex ebenso schnell wie Ratten mit intaktem Kortex in dem von Lashley konstruierten Versuchsapparat visuelle Helligkeitsgrade zu unterscheiden lernten; damit wurde subkortikales Lernen selbst bei solch einfachen Säugern demonstriert. Dieses Experiment weist ebenfalls das Prinzip funktionaler Repräsentation auf verschiedenen Ebenen im Nervensystem nach.

Bedeutsam für die Bildung kortikaler Erinnerungen ist der Fornix — ein wichtiges subkortikales Projektionssystem, von dem man annimmt, daß es bei der Integration kortikaler Erinnerungen eine entscheidende Rolle spielt; er weist »einfärbbares Myelin im zweiten postnatalen Monat auf; die Markbildung nimmt im dritten und vierten Monat mit rascher Beschleunigung zu«.8

Viszerale Reize haben bei allen menschlichen Aktivitäten auf allen Altersstufen eine überdurchschnittlich große Bedeutung. Dr. R. B. Livingston schreibt: »Eine Priorität physiologischer Ziele betrifft Atemkontrolle, Temperaturregelung, Wasserausgleich, Ernährung, Schlafversorgung — in der genannten Reihenfolge — und des weiteren Sexualität, Ästhetik, Neugierde und Freiheit (als Fehlen von Einschränkung). Unbefriedigte Bedürfnisse stellen die Prioritäten aller anderen Ziele in Frage.« (7, S. 502)

Diese Sätze besagen etwas über die Bedürfnishierarchie. Viszerale Bedürfnisse sind dringlicher als somatische, die ihrerseits wieder dringlicher sind als soziale, an begriffliche Vorstellungen gebundene Bedürfnisse. Ein Beispiel: Ein Student, der eine Arbeit zu schreiben versucht, kann nicht bequem sitzen, wenn er sehr durstig oder sehr hungrig ist oder eine sehr volle Blase hat; noch kann er seine Arbeit schreiben, wenn seine Körperstellung und -haltung übermäßig unbequem sind.

Biologisch trifft es wahrscheinlich zu, daß es genaugenommen keine »Körperwand-Bedürfnisse« oder »intellektuellen Bedürfnisse« gibt. Sie sind nur vermeintliche Bedürfnisse. In »biologischem« Sinne sind kognitive »Bedürfnisse« und solche, die die Haltung betreffen, in der Tat »abgeleitet«. Sie sind Re-Repräsentationen von Bedürfnissen des inneren Hirns (des Zwischenhirns). So gibt es beispielsweise kein »Bedürfnis zu schreiben« als solches, kein »Bedürfnis zu malen«, kein »Bedürfnis, Musik zu komponieren«. Mit anderen Worten, die abgeleiteten »Bedürfnisse« des Menschen sind nichts anderes als Verfeinerungen der Grundbedürfnisse, die wir mit anderen Wirbeltieren gemein haben. Schreiben und Kreativität sind Reaktions­möglichkeiten menschlichen Bestrebens, nicht aber basale, biologische Bedürfnisse. 

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Das bedeutet, daß sich menschliche »Bedürfnisse« in den Jahrmillionen der Evolution nicht grundlegend verändert haben. Gewandelt haben sich lediglich die Wege, die der Mensch beschritten hat, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Wege sind im Lauf der Zeit so verfeinert worden, daß die Menschen zu dem Glauben gelangt sind, sie hätten eine eigene, eigenständige Existenz.

Auf Grund der Tatsache, daß EEG-Aufzeichnungen nahelegen, daß das Gehirn eines Neugeborenen oder des Säuglings »elektrisch unfertig« ist, könnten einige Menschen argumentieren, daß ein solches Gehirn »elektrisch zu unfertig« sei, um Geburtserinnerungen oder frühe postnatale Erinnerungen zu registrieren. Doch auch diesem Argument muß man wieder die Frage entgegenhalten: »Zu unfertig für welche Aktivitäten?« Ein Neugeborenes kann saugen, schreien, urinieren, Stuhl entleeren, husten, aufschlucken, würgen, keuchen und sich erbrechen. All diese Reaktionen sind verbunden mit charakteristischen (wenn auch etwas schwierig zu beschreibenden) Gefühlszuständen. Sofern diese Reiz-Situationen aversiv sind (wie schweres Würgen, Husten oder Erbrechen), dann sind sie von höchster persönlicher Relevanz und werden mit großer Wahrscheinlichkeit in das Gedächtnis integriert werden.

Ein Säugling steht vom Augenblick der Empfängnis an in einer Beziehung zu seiner äußeren Umwelt. Die extrauterine Umwelt ist im Vergleich zu der intrauterinen Umwelt relativ unfreundlich. Externe Reize rufen, wenn sie hinlänglich widrig sind, zwangsläufig eine Reaktion hervor, selbst bei einem Neugeborenen. Diese Reaktionen sind am angemessensten in den Viszera, weniger angemessen in der Körperwand und am wenigsten angemessen bezüglich des Raums jenseits des Körpers.

Schreien, Würgen, Keuchen, Erbrechen etc. sind »einfache« Reaktionen, allerdings sind sie organismisch; der ganze Körper ist daran beteiligt. Sie treten nicht isoliert oder in einem Vakuum potentiellen Ausdrucks auf, sondern sind in Verhaltensmuster einbezogen, die über Leben oder Tod des Individuums entscheiden können. Diese Reaktionen sind die »Beschützer« anaboler Viszeration, von der wiederum jegliches Leben und alle Aktivitäten des Lebens abhängen.

Was die Fähigkeit eines Erwachsenen betrifft, seine Geburt oder Begebenheiten der ersten drei Lebensjahre zu beschreiben, so ist dazu operational lediglich die Benutzung des (später gelernten) Sprachvermögens erforderlich, um das Wiedererleben visueller, auditiver taktiler und schmerzhafter Episoden, die früher erlebt wurden, darstellen zu können. Allein die Tatsache, daß ein Neugeborenes nicht sprechen kann, bedeutet noch nicht notwendigerweise, daß es vor der Sprachentwicklung gelegene Erinnerungen nicht registrieren und speichern kann. Gedächtnis ist eine selektive Funktion, und von den Kriterien für die Fähigkeit, sich Erinnerungen angemessen ins Gedächtnis zurückzurufen, weiß man bislang nur sehr wenig; man kann nicht argumentieren, daß sehr frühe Erinnerungen unmöglich seien, nur weil die meisten Menschen sich an ihre Geburt, an das Säuglingsalter und an die erste Kleinkindzeit nicht erinnern können.

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Aus bislang vorliegenden Untersuchungen über Gedächtnisspeicherung geht hervor, daß man Erinnerungen bezüglich solcher Reize speichert, die von größter persönlicher Bedeutung sind. Es ist jedoch allgemein bekannt, daß wir mehr speichern, als wir abrufen können. Dr. Janovs Beobachtungen legen nahe, daß einer der Parameter, die den Abruf von Erinnerungen entscheidend einschränken, psychischer Schmerz ist.2,3

Er schreibt, daß sich das Erinnerungsvermögen bei Patienten während und nach der Primärtherapie merklich verbessert, insbesondere das Erinnerungsvermögen für sehr frühe Erinnerungen.2,3 Eine andere das Erinnerungsvermögen beeinflussende Variable wird durch die als Apraxie* bekannten Störungen angedeutet, bei denen Menschen motorische Reaktionen auf verbale Anweisungen nur unter Reizbedingungen größerer Intensität ausführen können, als es normalerweise erforderlich ist. 

(Ein Mensch beispielsweise mit Sprachdominanz in der linken Hemisphäre kann nach einem Schlag auf dieser Seite möglicherweise nur fähig sein, »ein Streichholz auszupusten«, wenn ein angezündetes Streichholz unmittelbar vor seinen Mund gehalten wird; er ist offenbar unfähig, das gleiche aufgrund nur einer verbalen Anweisung hin zu tun oder aufgrund eines Reizes, der aus verbaler Anweisung und einem imaginären Streichholz besteht.) 

Interessant ist, daß unter Apraxie Leidende immer dann am angemessensten auf einen dargebotenen Reiz reagieren, wenn die Reaktion sich Strukturen bedient, die nahe der anatomischen Mittellinie liegen. (Unter Apraxie Leidende können besser sitzen und stehen als salutieren oder als einen Schraubenzieher halten etc.)

Diese Beobachtungen unterstützen die primärtheoretische These, daß sich beim Säugling motorische Reaktionen der Mittellinie als erste entwickeln. Einfach gesagt, werden motorische Reaktionen der Mittellinie sehr früh im Leben gelernt und integriert, sie werden mit größerer Permanenz und Dauerhaftigkeit gelernt als später gelernte und integrierte Verhaltensmuster, und sie bleiben selbst nach schweren kortikalen Gehirnläsionen weiterhin nachweisbar bestehen. 

Wir kommunizieren mit Lauten, noch ehe wir Worte sprechen. Wir sprechen Worte, ehe wir deren Bedeutung kennen. Die prototypischen Verhaltensmuster sind die ältesten, in der anatomischen Mittellinie gelegenen. Wie bereits oben gesagt, stellt der Bereich der Mittellinie des Körpers zur Zeit der Geburt ein funktionsfähiges Aktionssystem mit einem angemessen funktionsfähigen Bereich des Nervensystems (innerstes Neuropilem) dar, das dessen Aktivitäten vollauf integriert. 

 

Apraxie: Unfähigkeit, sinnvolle und zweckentsprechende Bewegungen auszuführen, bei erhaltener Funktionstüchtigkeit des Bewegungs­apparates (Anm. d. Übers.)

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Saugen, Schlucken, Atmen, Würgen, Keuchen, nach Luft schnappen, Schreien, Verdauen, Erbrechen und Ausscheiden gehören zu dem Repertoire der einem Neugeborenen zur Verfügung stehenden Aktivitäten. Zusätzlich gilt auch eine gewisse Funktionsfähigkeit des mittleren Neuropilem als erwiesen, insofern Neugeborene schreien, wenn ihre Haut zu kalt oder zu warm ist oder wenn sie traumatisiert werden. Neugeborene bewegen ihren ganzen Körper relativ selten und wenn, dann meistens als Reaktion auf aversive Reize wie Hunger, Durst, nasse Windeln oder leichte Traumata wie beispielsweise ein versehentlicher Nadelstich; das zeugt von einer recht starken axialen muskulären Reaktivität. 

Wie Dr. Purdon Martin in seinem Buch über Basalganglien und Körperhaltung schreibt, ist Dr. Andre Thomas der Nachweis gelungen, daß Neugeborene die Fähigkeit haben zu »gehen«, sofern die auslösenden Reize angemessen sind, eine Fähigkeit, die in Beziehung zu der bereits weiter oben erwähnten Apraxie steht. Die offensichtliche Funktion des Nervensystems, unsere Reaktionen zwischen unserer internen und externen Umwelt zu integrieren, beginnt keineswegs mit der Entwicklung der Sprache, sondern sehr viel früher, nämlich in utero. Man denke nur an die Integration eines Schluckaufs oder der Gesamtkörperbewegung, zu der es bekanntermaßen während der Schwangerschaft kommt, oder der noch bekannteren Schlag- und Stoßbewegungen eines Kindes im letzten Drittel der Schwangerschaft.

Kann ein Kind, bei dem aufgrund einer Nabelschnurkompression ein vorübergehender Atemstillstand eintritt, eine Erinnerung daran ausbilden? Die Berichte von Primärpatienten lassen vermuten, daß derartige Erinnerungen in der Tat vorhanden sind.2,3 Die Beziehung eines solchen Ereignisses zu Asthma oder zu Stottern steht im Einklang mit der im Neugeborenen vorhandenen Funktionsfähigkeit neuronaler Strukturen, die die Funktion der Trachea [Luftröhre], der Atmung und der Larynx [Speiseröhre] integrieren. Jeder Teil des Körpers ist durch das Nervensystem in integrierte Funktionen eingewebt. Es wäre unsinnig zu sagen, die Trachea »erinnere« eine momentane Strangulierung bei der Geburt, aber es gibt neuroembryologische Anhaltspunkte, daß die Einheit von Trachea und Nervensystem eines Neugeborenen ein reaktives, angemessen funktionsfähiges System ist; ein System, das potentiell fähig ist, von einem äußerst intensiven Reiz zu »lernen«. 

Ein Kind, das gerade geboren wird, kann nicht aufschreien: »Ich ersticke«, doch das Erlebnis selbst wird wahrscheinlich im Nervensystem des Kindes repräsentiert. Als Erwachsener, der sich der später erlernten Sprache bedient, könnte dieser Mensch durchaus Zugang zu der Repräsentation eines solchen Ereignisses haben. Die Strukturen der Mittellinie haben Rezeptoren für die ihnen adäquaten Reize. Ein schmerzhafter oder aversiver Reiz hat für den Organismus eine maximale biologische Relevanz, und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, daß eine Reaktion auf und eine »Erinnerung« an das, was »schmerzt«, auftritt. 

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Wenn Kinder nicht laut schreien würden, sobald sie etwas ernsthaft schmerzt oder sobald sie mit einem Reiz konfrontiert werden, der sie töten könnte, dann würden sie nicht überleben. Reaktionsbereitschaft ist ein Charakteristikum des Verhaltensrepertoires eines Neugeborenen. Strittiger ist die Frage, ob ein äußerst schmerzhafter Reiz während oder nahe der Geburt Grundlage für eine bleibende Erinnerungsspur sein kann. Die Beobachtungen an Menschen, die sich der Primärtherapie unterzogen haben, lassen darauf schließen, daß ein Geburtstrauma tatsächlich erinnert und später wiedererlebt werden kann und daß es somatisch durch bestimmte Grade viszeraler Dysfunktion repräsentiert werden kann, insbesondere wenn man später mit einem verwandten oder ähnlichen Reiz erneut konfrontiert wird.

Im ersten Lebensjahr entwickelt sich eine zunehmende Funktionsfähigkeit des mittleren und äußeren Neuropilem und der ihnen (räumlich) verwandten Motilitäten, die von ihnen integriert werden. Das funktionsfähigste Körper-Gehirn-System ist jedoch noch immer das innere, um die anatomische Mittellinie gelegene: dasjenige, das phylogenetisch wie auch ontogenetisch als erstes voll entwickelt ist. Die Enterorezeptoren und die Reaktionen auf ihre (adäquate) Reizung sind zum Zeitpunkt der Geburt hinlänglich funktionsfähig, und es ist anzunehmen, daß die Funktionsfähigkeit dieses reaktiven Reaktionssystems sich in den ersten Monaten des postnatalen Lebens (weiter) entwickelt. 

Bewußtheit und Reaktionsbereitschaft eines Säuglings entfalten sich »aus der Mittellinie heraus«4: Ein Säugling erkundet seinen Mund vor seinen Fingerspitzen, seine Fingerspitzen vor einem Spielzeug und ein Spielzeug in unmittelbarer Nähe vor einem entfernten Spielzeug. Alle drei Neuropileme setzen ihren Reifungs- und Wachstumsprozeß nach der Geburt fort, aber das innere ist als erstes voll entwickelt, ist als erstes reaktiv und integriert seine Verhaltenskomponenten (Endokinese4) als erstes.

Der Reifungsprozeß von Körper und Gehirn steht in offensichtlicher Beziehung zu psychosomatischen Krankheiten. Dabei handelt es sich um typische viszerale dysfunktionale Störungen, die Strukturen nahe der anatomischen Mittellinie betreffen. Spannungskopfschmerzen, Migränekopfschmerzen, neurotisches Naselaufen, neurotisches Niesen, Globus hystericus [»Kloß im Halse«], Asthma, Hyperventilation [zu starke Beatmung der Lunge], Tachykardie [»Herzjagen«] bei emotionalem Streß, gastrische Säureübersekretion, gastrische Hypermotilität, einige Arten von gastrischem und duodenalem Ulkus, ulzeröse Kolitis, Diarrhö, Obstipation und vielleicht (idiopathische) Hypertension gehören zu den viszeralen Störungen; sie umfassen einen großen Teil jener Krankheiten, die Menschen einen Arzt aufsuchen lassen. 

Das alles sind wirklich organische Krankheiten, die sich aber offensichtlich der Art nach von jenen Krankheiten unterscheiden, die sehr viel weniger in offensichtlicher Beziehung zur extrapersonellen Umwelt eines Menschen stehen. Ein Asthma-Anfall, das Wiederauftreten eines Darmgeschwürs oder ein Anfall migräneartiger Kopfschmerzen lassen ihre Beziehung zu umweltbedingtem Streß deutlich erkennen. 

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Andere Störungen könnten ebenfalls Reaktionen auf umweltbedingten Streß widerspiegeln, doch wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, dann ist diese Beziehung zumindest weniger offensichtlich. Gemeinhin werden als »psychosomatische Krankheiten« jene bezeichnet, die in einer leichter erkennbaren Beziehung zu umweltbedingtem Streß stehen, insbesondere zu Streß, der durch die emotionale Umwelt bedingt ist. 

Je mehr man über Symptombildung bezüglich der Stadien des Reifungsprozesses, in dem man ein Primärtrauma erlebte, in Erfahrung bringt, um so mehr »organische« Krankheiten wird man vermutlich der Liste »psychosomatischer« Krankheiten hinzufügen können. 

Die Hypothese lautet, daß psychosomatische Krankheiten ihren kausalen Ursprung in sehr früher Kindheit haben. Das ist eine noch nicht nachgewiesene Vermutung, denn die viszerale Reaktivität eines Kleinkinds ist der viszeralen Reaktivität eines Erwachsenen sehr ähnlich. Man sollte jedoch der unterschiedlichen Reaktionswahl bei Kleinkindern und Erwachsenen besondere Beachtung widmen. Wenn ein Erwachsener (oder in diesem Falle auch ein dreijähriges Kind) hungrig ist, wird er sich etwas zu essen suchen und verschaffen; ähnlich verhält es sich bei Durst oder anderen viszeralen Bedürfnissen. 

Das potentielle Risiko mangelnder Bedürfnisbefriedigung liegt in der Abhängigkeit der Bedürfnisbefriedigung eines Säuglings von seiner extrapersonellen Umwelt. Ein hungriger Säugling kann schreien, um die Menschen seiner Umwelt zu alarmieren, daß etwas nicht in Ordnung ist, aber dieses Signal ist nicht spezifisch (wenn auch dringlich). Zumindest muß ein Säugling eine gewisse Latenz (Zeit) zwischen Bedürfnisempfindung und Bedürfnisbefriedigung in Kauf nehmen, die oft länger ist als eine solche Latenz für ein älteres Kind oder für einen Erwachsenen. 

 

Was kann ein Säugling schon tun, wenn die Latenz zwischen Bedürfnis und Befriedigung — zufällig oder absichtlich — sehr lang ist? Mit welchem Motilitätssystem kann er reagieren? Die Antwort lautet offensichtlich: mit dem System der Mittellinie, dem viszeralen System, dem derzeit hinlänglich funktionsfähigen. Mögliche Reaktionen sind zum Beispiel eine erhöhte Produktion von Magensäure oder verstärkte gastrische Muskelkontraktionen, aber wenn der Säugling dann noch immer keine Nahrung, keine Milch erhält, dann kommt es zu einer »viszeralen Attacke«. Mit Sicherheit werden Hunger, Durst, Atemstörungen, übermäßige Wärme oder Kälte oder auch Schmerz von einem Säugling als ausgesprochen widrig und unangenehm erlebt. 

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Es zeichnet sich mithin das Prinzip ab, daß Säuglinge auf aversive Reize nur mit Schreien und viszeraler Motilität reagieren können. Sie sind von Erwachsenen abhängig, um ihre viszeralen Bedürfnisse mit den Objekten ihrer Umwelt, die geeignet sind, diese Bedürfnisse zu erfüllen, vollends zu befriedigen. In dem Maße, wie diese Bedürfnisbefriedigung ausbleibt, ist die Reaktion der Umwelt unangemessen — unangemessen insofern, als ein homöostatisches Verhältnis zwischen den Bedürfnissen und der Bedürfnisbefriedigung des Säuglings nicht aufrechterhalten wird. 

Diese »Beschränkung« der Motilität (der viszeralen Motilität) eines Säuglings bezüglich der äußeren Umwelt ist offenbar der gemeinsame Nenner psychosomatischer Krankheiten. Erwachsene mit psychosomatischen Störungen antworten auf äußeren, umweltbedingten Streß mit manifester Dysfunktion viszeraler Motilität als Teil ihrer Gesamtreaktion.

Es zeigt sich immer deutlicher, daß die Reaktionen auf frühe psychische Traumata nicht isoliert auftreten; sie werden vielmehr durch die angemessen funktionsfähigen Bereiche des Nervensystems und die von ihnen integrierten Körperzonen vermittelt. Ein schweres frühes Trauma wird von den Viszera registriert und später als Dysfunktion der Viszera manifestiert. In dem Maße, wie das mittlere Hirn angemessen funktionsfähig wird, kann Symptombildung dann in Strukturen der Körperwand auftreten oder in bezug auf Sprache, und mit angemessener kortikaler Funktionsfähigkeit lassen sich Symptome auf Strukturen der Begriffssysteme und auf kognitive und soziale Aktivitäten beziehen. 

 

Zusammenfassung

 

Die physiologischen Veränderungen, die mit den Übergangsstadien von neurotisch zu postprimär korrelieren, geben Hinweise auf die ihnen zugrunde liegenden Mechanismen; allerdings handelt es sich dabei eher um Korrelate der Veränderung als um die eigentlichen Mechanismen selbst.

Die Natur liefert uns einige Modelle, die uns vielleicht helfen, diese Mechanismen zu verstehen. Erwachsene, die unter einer der vielen Formen von Demenz leiden — wie beispielsweise der Alzheimer Krankheit,* erwecken den Anschein, als »verlören« sie ihre Neurose und würden wieder »wie Kinder«. Demenz ist in der Tat von vielen Neurologen als »zweite Kindheit« bezeichnet worden. Solche Modelle legen nahe, daß ein gut entwickelter Kortex mithin eine hinreichende, nicht aber eine kausale Basis für Neurose ist.

Für das Verständnis der Mechanismen, die bei der Entstehung von Neurosen und deren Heilung durch die Primärtherapie eine entscheidende Rolle spielen, ist es erforderlich, auf Gehirnmechanismen einzugehen, die »alt«, das heißt phylogenetisch alt sind und welche die Entwicklung früher, primitiverer Gehirn­funktionen des Menschen betreffen.

* Unaufhaltsam fortschreitende Demenz; erblich bedingte degenerative Erkrankung der Großhirnrinde (Anm. d. Übers.)

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Die Fähigkeit, neurotisch zu werden, stellt sich nicht erstmalig mit fünf, zehn oder fünfzehn Jahren ein. Entwicklungsmäßig gesehen gibt es beim Säugling kaum Anhaltspunkte für kortikale Gehirnfunktionen, sofern man als Kriterien dafür die Sprachentwicklung, das Abstraktionsvermögen, das Kontrollvermögen für distale Bewegungen in den Fingern etc. zugrunde legt. Der Kortex ist beim Säugling anatomisch zwar vorhanden, doch ist er anatomisch (aufgrund geringer dendritischer Verknüpfungen) und physiologisch (im Hinblick auf Kriterien spontanen Verhaltens) »primitiv«. Es ist anzunehmen, daß phylogenetisch und ontogenetisch frühe Gehirnmechanismen die hinreichende Fähigkeit liefern, neurotisch zu werden. Mithin sind subkortikale Mechanismen an dem Prozeß der Neurosenbildung fast mit Sicherheit beteiligt.

Bei Menschen werden physische und psychische Abwehrmechanismen im Laufe der Entwicklung vom Kleinkind zum Erwachsenen zunehmend verästelter, verfeinerter und angemessener. Beim neurotischen Prozeß kommen ganz einfach normale Gehirnmechanismen ins Spiel.

Offenbar beinhaltet Neurose einen verzerrten Lernprozeß, bei dem Menschen infolge frühen psychischen Schmerzes Dinge meiden, denen sie sich naturgemäß zuwenden würden, und sich Dingen zuwenden, die sie naturgemäß meiden würden.

Die bei der Primärtherapie angestellten Beobachtungen lassen es mehr oder weniger zur Gewißheit werden, daß die Entwicklung dieser Annäherungs-Vermeidungs-Verzerrung von Schmerz als notwendiger und kausaler Basis abhängig ist und daß deren Umkehrung ebenfalls schmerzhaft ist.2,3 Die Funktion des Gehirns gegenüber einer schroffen Umwelt wird mithin buchstäblich fehlgeleitet, insofern sich die natürliche Beziehung zu Reizen verändert. Das bedeutet für die Gehirnphysiologie, daß Menschen unter Neurose Reaktionen zeigen, als ob sie nicht mehr unter Schmerz stünden. (Die Primärtherapie macht deutlich, daß sie sehr wohl unter Schmerz stehen, nur ist er gewissermaßen abgesondert, so daß verzerrte Reaktionen weiterbestehen können.)

Die Fähigkeit, schmerzhafte Erinnerungen abzusondern, so daß Verhalten weiterhin verzerrt wird, erfordert aller Wahr­schein­lichkeit nach kortikale Mechanismen, da Kinder und physisch kranke oder demente Erwachsene in unterschiedlicher Abstufung ein natürlicheres, weniger neurotisches Verhältnis zu Reizen zeigen: sie wenden sich lebensunterstützenden Reizen zu und meiden schmerzhafte. 

Und das ist die Manifestation eines wichtigen klinischen Prinzips der Neurologie: Bei organischen Gehirn­störungen und Systemerkrankungen des Gehirns gehen als erstes die zerebralen Fähigkeiten verloren, die vor der Störung als letzte erworben wurden.

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Je extremer die zerebrale Attacke, um so tiefgreifender der Verlust erworbener Funktionen. Bei Erwachsenen zeigt sich das auch bei anderen Parametern kortikaler Gehirnfunktion. Attacken wie der Genuß mehrerer Cocktails, hohes Fieber oder leichte Hypoglykämie [herabgesetzter Zuckergehalt des Blutes] bringen neurotische Erwachsene zu einem natürlicheren (weniger neurotischen) Reaktionsmuster zurück. Im obigen Sinne kranke oder demente Erwachsene reagieren stärker im Einklang mit ihren tatsächlichen Bedürfnissen und weniger im Einklang mit erworbener persönlicher vorgängiger Erfahrung.

Die eigentlichen Mechanismen, die es dem Menschen ermöglichen, ein verzerrtes Verhältnis zu Reizen zu entwickeln (sich solchen zuzuwenden, die schmerzhaft sind, und solche zu meiden, die ein gutes Feeling vermitteln), sind Mechanismen, die normalerweise in normalen Gehirnen vorhanden sind, sich aber bei Neurosen verzerrt ins Spiel bringen. Es ist wahrscheinlich, daß Neurose — ähnlich Konvulsionen (Epilepsie) — etwas ist, was das Gehirn als Reaktion auf zureichende Umweltreize »machen kann«. Bei Neurose werden normale Gehirnmechanismen für verzerrte Ziele eingesetzt.

Gehirn und Körper können in ihren Reaktionen mit einer hohen Schmerzschwelle funktionieren. Die Primärtherapie senkt diese Schwelle allen Berichten zufolge.2,3 (Man könnte fragen: »Welcher Teil des Gehirns setzt die Schmerzschwelle fest?« Die Antwort würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lauten: »Das ganze Gehirn.«)

Es zeichnet sich das allgemeine Prinzip ab, daß Reaktionsbereitschaft auf Reize eine allen Kreaturen inhärente Eigenschaft ist, mit einem Nervensystem ausgestattete Kreaturen reagieren schneller und offenbar angemessener als solche ohne Nervensystem. Fische haben differenziertere Reaktionen als Quallen, Quallen differenziertere als Protozoen und so weiter. Reaktionen des Menschen sind vielleicht nicht schneller als die anderer Säugetiere, aber sie zeigen eine qualitative Fähigkeit und Selektivität, die den Reaktionen infrahumaner Säugetiere fehlen.

Nicht überraschend ist das ontogenetische, reifungsbedingte Gegenstück zu diesem phylogenetischen Fortschritt. Die Reaktionen eines Neugeborenen oder Säuglings sind anfangs sehr stereotyp, sie spiegeln artspezifisches Verhalten wider4, und mit fortschreitender Reifung des Nervensystems werden die Reaktionen individueller und beziehen sich zunehmend auf persönliche Erfahrung.

Reaktionen, die individuelle Variationen zeigen — Reaktionen auf Reize geringerer Intensität unterschiedlicher biologischer Relevanz und solche, die persönliche Erfahrung widerspiegeln —, werden bezeichnenderweise von phylogenetisch neueren Bereichen des Nervensystems, insbesondere des zerebralen Kortex, erzeugt. Die homotypischen Assoziationsfelder des Kortex sind vermutlich der diesbezügliche Bereich. 

Dieser Bereich ist der von C. J. Herrick als »sekundärer Assoziationskortex« bezeichnete, mit nahezu ausschließlich kortiko-kortikalen Verbindungen (er empfängt Fasern von der Mittellinie und von intralaminaren Kernen des Thalamus, nicht aber von Relais-Kernen des Thalamus). 

»Man kennt drei Assoziationsbereiche:
1. einen frontalen, 
2. einen anterior-temporalen und 
3. einen parietotemporal-präokzipitalen Bereich. 
Diese kortikalen Regionen sind phylogenetisch jungen Datums, sie zeigen sich besonders ausgeprägt bei den Primaten und werden später myelinisiert als die primären sensorischen und motorischen Bereiche.«
11)

Betrachtet man ontologische Reifungsmuster sowie die Neuroembryologie und deren Verhaltenskorrelate, dann erscheint es höchst wahrscheinlich, daß die Fähigkeit, psychisch krank zu werden, ein duales Bewußtsein zu entwickeln, vom Augenblick der Geburt an hinreichend vorhanden ist.

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Danksagung

Der Autor bekundet hiermit seinen Dank gegenüber seinen Lehrern Dr. Simeon Locke und Dr. Paul Yakovlev.

Literaturverzeichnis

Weitere nicht im einzelnen zitierte Quellenangaben:

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www.detopia.de     ^^^^