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3.  Politik und Mimesis - Die mediale Ästhetik der Erlebnisgesellschaft  

 

Nicht alles ist möglich,
aber der Schein von allem. 
Friedrich Hebbel  

Drei sind, die da herrschen auf Erden:
die Weisheit, der Schein
und die Gewalt.
Johann Wolfgang von Goethe 

Es macht den Deutschen nicht viel Ehre, daß
<einen anführen>
so viel heißt als
<einen betrügen>
 Georg Christoph Lichtenberg 

wikipedia  Mimesis 
(meist) Einschüchterung
durch Körpergesten

 

    Der Verschnitt von Schein und Sein    

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Der im 6. Jahrhundert v.u.Z. lebende und zeitweilig am Hofe des wegen seines sagenhaften Reichtums berühmten Königs Kroisos (Krösus) politisierende Grieche Äsop schärfte seinen Mitbürgern hin und wieder durch Fabeln den Blick für die praktischen Probleme der Politik. In einer seiner Fabeln spricht Äsop die aus einer Ästhetisierung des Politischen resultierende Gefahr an. Er erzählt folgende Geschichte:

«Als die Vögel darüber berieten, wer König unter ihnen sein solle, beanspruchte der Pfau, man solle ihn wählen wegen seiner Schönheit. Als nun die Vögel dazu geneigt waren, sagte die Dohle: Aber wenn du König bist und der Adler uns verfolgt, wie willst du uns schützen?»

Manchmal hat man der Fabel noch den Nachsatz angefügt: «Daß die Herrscher sich nicht durch Glanz, sondern durch persönliches Gewicht auszeichnen müssen, lehrt die Fabel.» Wahrscheinlich zeugt bereits dieser Kurz­komm­entar, der bezeichnenderweise zu Beginn der Antike und später noch einmal am Anfang des Mittelalters auftaucht, davon, daß der Erzähler der Fabel nicht ganz sicher war, ob seine Zuhörer über die Gefahr Bescheid wußten, welche aus einer Politik für sie erwachsen könnte, die den ästhetischen auf Kosten des sachlichen Gehalts politischer Handlungen übertreibt. Und sich damit letztendlich - unter Vernachlässigung ihres «Kerngeschäfts» - im Prozeß der Inszenierung des Scheins verliert. Immerhin war für Äsops Zeitgenossen das Problem vielleicht noch neu! 

In antiker wie in biblischer Tradition taucht der Gedanke des Scheins — der Täuschung und Selbsttäuschung, der Lüge im außermoralischen Sinn, also des Fiktiven — als Instrument philosophischer Kritik erstmalig in der Zeit nach Homer auf. Im homerischen Zeitalter waren Geschichte und Mythos, Natur und Geisteswelt noch voneinander ungeschieden. Spätestens in dem Augenblick allerdings war die ursprüngliche sinnlich-geistige Totalität in Fiktion und Realität auseinandergefallen, als Xenophanes mit seiner negativen Theologie (das heißt, mit der Umschreibung des Göttlichen durch Verneinung des Menschlich-Vorstellbaren) die landläufigen Vorstellungen seiner Mitmenschen als anthropomorph in Frage stellte. Wenn wir den überlieferten Fragmenten glauben dürfen, so geschah das, indem er die Götter selbst zur Fiktion erklärte, und zwar im Sinne einer Projektion. Er sagt:

«Wenn aber die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten 
Und mit diesen Händen malen könnten und Bildwerke schaffen wie Menschen,
so würden die Pferde die Götter abbilden und malen in der Gestalt von Pferden, 
Die Rinder in der von Rindern, und sie würden solche Statuen meißeln,
Ihrer eigenen Körpergestalt entsprechend.»

Derselbe Gedanke findet sich im Alten Testament, und zwar dort, wo das zweite Buch Jesaja die kultische Verehrung von Götzen als Verehrung bloßer Objekte verhöhnt, die durch Menschenhand geschaffen wurden. Äsops Fabel vom Pfau und der Dohle ist im Hinblick auf diese Phase der Religionskritik zweifellos ein klassisches Stück säkularisierter Theologie. Sie holt die Kritik an den Göttern in die Niederungen des Politischen herunter. Der Kritik der Götter folgte die Kritik der «Stellvertreter Gottes». In der Metamorphose der antiken Pfauensymbolik markiert der Einspruch der Dohle diesen Einschnitt. Denn bevor der Pfau zum Symbol der Eitelkeit wurde, war er wegen seines Radschweifes ein Sonnensymbol, im Fernen Osten ebenso wie in Griechenland, wo er der Juno heilig war.

Aber unser Rückblick auf die Anfänge philosophischen Denkens zeigt auch: Das Wirkliche und das Fiktive, Sein und Schein stehen einander durchaus nicht zu allen geschichtlichen Zeiten in scharfer Frontstellung gegenüber. Mag sein, es hat irgendwann einmal ein «goldenes Zeitalter» der Fiktionsfreiheit gegeben. Mag sein, es gab Zeiten der klaren Trennung von Fiktion und Wirklichkeit — oder wenigstens ein Bewußtsein solcher Trennung. 

In Zeiten aber, in denen Fiktion und Realität nurmehr als Legierung vorkommen, in denen — wie in der unsrigen — die Wirklichkeit gewissermaßen mit Hilfe der elektronischen Medien durchfiktionalisiert wird, wer könnte da den Schein des Politischen weiterhin allein als Fiktion kritisieren? 

Und was wäre innerhalb solcher Verhältnisse Politik wert, wenn sie im Reich der Fiktion machtlos wäre?

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Es ist klar: Gerade im Hinblick auf die Hypertrophie des Scheins, die nur allzu unvollkommen die Bedürftigkeit des derzeit amtierenden Herrschaftspersonals verdeckt, kriselt es heute im repräsentativ-demokratischen System in Deutschland und damit im Berufsbild des Politikers.

Stellen wir die Frage aber richtig, dann geht es von vornherein nicht um die bloße Entlarvung des Scheins als solchen. Eher schon geht es zunächst einmal um Gelassenheit gegenüber den politischen Fiktionen. Um eine Haltung also, die um den «Silbernen König» und seine Herrschermacht weiß, ohne jedoch der luziferischen Verführungskraft dieses Herrschers bedingungslos zu verfallen. Und die durchaus die Hybris des Fiktionalen in unserer Zeit überall dort vorführen kann, wo diese das Politische zur Nullität degradiert und damit genau die Gefahr heraufbeschwört, vor der Äsops Dohle mit ihrem Einspruch warnen will.

   Bilder- und Erlebnisproduktion als Hauptaufgabe politischer Tätigkeit   

Der Fiktionalismus ist im Politischen wahrscheinlich immer nur ein sekundäres Problem. In dem Maße, wie die Leidenschaften des politischen Lebens ausgebrannt sind und die Interessen der Akteure sich zwecks Aufrechterhaltung des Status einer Erlebnisgesellschaft solidarisieren, verändert sich das Erscheinungsbild des Politischen in dieser Richtung.

In Gesellschaften solchen Zuschnitts besetzt die Stelle des Politikers, der die Geschichte noch in Person verkörpern will, der ihr Gerichtetsein als Einzelwille repräsentiert und ihre organische Logik als Charakter darstellt, ein gänzlich anderer Typus. Der Politiker ist nicht mehr länger politisches Wesen. Er ist nicht mehr Tatsachenmensch, und erst recht ist er nicht mehr Streiter für eine bessere Welt oder gar Aktions­zentrum im Strom eines historischen Geschehens.

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Er ist Spieler und Schauspieler. Zu den privatwirtschaftlichen Antworten auf die Steigerung des Erlebnis­hungers innerhalb der Gesellschaften des Westens gesellt sich die mimetische Aktivität der Politiker, die als Animateure des Allgemeinen ihre «Botschaften» launig unters Volk bringen.

Sobald das politische System einmal dieses Stadium seiner Entwicklung erreicht hat, wird es zu einem Spiegelkabinett, in dem das Volk sich im Treiben seiner Repräsentanten selbst wiedererkennen muß, und es ist bittere Einsicht mit dabei, daß es das, was es zu sehen bekommt, zunehmend als abstoßend empfindet. Denn so borniert ist das Volk selten, daß es sich für nachahmenswert hält. Nicht, weil unsere Politiker zu wenig «bürgernah» sind oder dem Volk entfremdet wären, ist ihr Ansehen heutzutage auf den Nullpunkt gesunken. Nicht die «Arroganz der Macht» ist hier länger das Problem. Sondern Leutseligkeit der Macht.

Wo Politiker sich heute ihrem Wähler-Volk repräsentieren, sei es nun in der TV-Show <Wetten, daß...>, in der ein leibhaftiger Wirtschaftsminister die Lieblings­schwimmerin der Nation huckepack durchs Studio schleppt, oder im Kintopp, wenn dort die Ministerpräsidenten von Niedersachsen und Schleswig-Holstein in den Filmen <Der Landarzt> und <Der große Bellheim> als Kleindarsteller posieren, unentwegt setzen die politischen Tausendkünstler ihr ganzes Darstellungsvermögen zur Unterhaltung ihrer erlebnishungrigen Wählerschaft ein. 

Und bei Bedarf dienen sie sogar als Blitzableiter angestauten Unmuts. Sie lassen sich mit Eiern und Tomaten bewerfen oder den Eingang zum Bundestag versperren, ohne je ihr mildes und verständnisvolles Lächeln zu verlieren.

Über die Selbstpräsentation hinaus beobachten wir einen Trend zu demonstrativen Ersatzhandlungen. 

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Hier ist der Kopfsprung des Bundesministers Klaus Töpfer (1988) in den Rhein bei Mainz bleibendes Muster für jede Art Symbolpolitik. Der Minister im Rhein, mit Neoprenanzug, Schwimmflossen und signalfarbener Badekappe bewehrt, um sich herum eine Armada von Rettungsbooten, über sich den Hubschrauber und vor sich ein halbes Hundert Journalisten. Da war einer, der hatte das Bild gefunden, das für sich selbst spricht. Wer hätte da weiterhin daran denken wollen, daß Chemiekonzerne mit behördlicher Genehmigung an demselben Tag weitere Kilogramm Blei und Tonnen Chlorid in den Rhein kippten? 

 

Wo das Politische vom Mimetischen überwältigt und von der Ästhetik der Erlebnisgesellschaft ausweglos umstellt ist, hebt sich jede Politik schließlich in reiner Rhetorik und im Entertainment auf, erwächst politischer Rang aus der mediengerechten Aufbereitung, der Prominenz, die den Politiker jeweils auszeichnet. Zugleich entwickelt sich die Repräsentation von der Vertretung anderer zur Darstellung des Amtes. 

Immer weniger entscheidend für den Erfolg der politischen Karriere ist die profunde Sachkenntnis, währenddessen der gekonnte Umgang mit Presse, Funk und Fernsehen geradezu überlebensnotwendig sein kann.

In der abendlichen Talk-Show können wir die Ergebnisse der medial bedingten Auslese bewundern und hören, wie die Spezialisten für's Allgemeine zum x-ten Mal «die Wirtschaft» im Brustton tiefster Überzeugung dazu aufrufen, das als bittere Notwendigkeit Erkannte schleunigst zu tun — Arbeitsplätze, Investitionen im Osten, Umweltschutz und so weiter und so fort. Bemerkenswert an derlei Dauerverlautbarungen ist, daß stets so gut wie keinerlei Vorschläge zur Optimierung des eigenen politischen Tuns enthalten sind — stattdessen wird durch die Bank die Prosperität der Ökonomie als Staatsersatz und sozialer Friedensspender beschworen.

Politische Effizienz bemißt sich in diesem Zusammenhang natürlich nicht mehr an nachvollziehbaren guten oder schlechten Ergebnissen distinkter Politiken, als vielmehr an dem mimetischen Vermögen des jeweiligen Spitzenpolitikers, so oft wie möglich das Bild eines Mannes vorzuführen, «der weiß, wo's langgeht».

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Für sich genommen reicht auch das natürlich nicht aus. Wir können uns heute ohnehin nicht mehr recht vorstellen, wie es ein Mann wie etwa August Bebel geschafft hat, noch um die Jahrhundertwende in politischen Massenversammlungen mit einer siebenstündigen Rede das offene Ohr seiner Hörer zu erreichen. Freilich, das war noch vor der elektronisch-optischen Orgie!

Seitdem die Talkshow und die Podiumsdiskussion erklärtermaßen zum eigentlichen Ort des Politischen avancierten, ist, je nach Geschmack und Laune des Publikums, der amüsante oder der mehr konfrontative, aggressive Schlagabtausch gefragt. Pointierende Statements, überzeugende Gestik, quicke Witzigkeit sind bei derlei Scheingefechten im allgemeinen erfolgreicher als politische Seriosität.

Die Spannweite dessen, was zwischen zwei Schnitten der Regie zur Darstellung gebracht werden kann, könnte man vielleicht grob personalisieren unter Hinweis auf zwei namhafte Ost-Politiker: Der Bogen reicht ziemlich genau von Gregor Gysi bis zu Wolfgang Thierse. So verschieden ihre Äußerungen zu ein und demselben Thema sein mögen — für beide aber gilt dieselbe eiserne Regel: Nicht das Argument rechnet sich, sondern der Eindruck! Wer wirken will, muß sich sprachlich-gestisch wie ein Bild plazieren, damit er wahrgenommen wird.

Sicher, vom Kopfsprung Klaus Töpfers bis zur «Schnappschußpräsidentschaft» eines Ronald Reagan, der jeden seiner öffentlichen Auftritte wie einen Werbespot durchkomponieren ließ, bleibt eine Nasenlänge Rückstand.13

Aber es kann kein Zweifel daran sein, daß die politische Klasse in Deutschland den festen Willen hat, in diesem Punkt den Anschluß nicht zu verpassen. Ob sie so gute Schauspieler wie Ronald Reagan in ihren Reihen hat, steht dabei auf einem anderen Blatt.

13)  Die «Schnappschußpräsidentschaft» Reagans hat natürlich ebenfalls ihre Vorbilder. Thomas Dewey war in den USA der erste Präsidentschaftskandidat, der die Hilfe einer PR-Agentur für sich in Anspruch nahm. Dwight D. Eisenhower stützte sich bereits auf ein — allerdings geheim gehaltenes — Television Planning Board, dessen Aufgabe darin bestand, Ereignisse für Fernseh­auftritte regelrecht zu inszenieren. Die Fernsehdebatten zwischen John F. Kennedy und Richard M. Nixon bildeten später den Einstieg zu völlig neuen Formen einer medial basierten Wort-Politik.

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   Die Medien als vierte Gewalt   

 

Innerhalb solcher Verhältnisse spielt sich für die Mehrheit Politik zunehmend nur noch «im Kopf ab, als eine Flut von Bildern, mit der Zeitungen, Illustrierte, Fernsehen und politische Diskussionen sie überschütten. Diese Bilder schaffen ein bewegtes Panoptikum aus einer Welt, zu der die Massen praktisch niemals Zutritt haben, die sie aber schmähen oder bejubeln dürfen...» (Murray Edelman).

Die elektronischen Medien erzwingen die «Pose des Politikers» vor der Aufnahmeapparatur. Dadurch verliert jede Politik ihre Gediegenheit. Die Sucht der neuen Medien nach mehr Aktualität erzeugt zudem einen Beschleunigungsdruck, dem ohnehin nur der Politiker standhalten kann, der von vornherein auf politische Ideen verzichtet. 

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Wer in dreißig Sekunden darlegen soll, wie er die Verödung der ostdeutschen Werkstättenlandschaften stoppen will, kommt nicht daran vorbei, gedanken­leere Satzhülsen von einem Zuschnitt aneinanderzureihen, wie sie Erhard Eppler in seinem Buch <Kavalleriepferde beim Hornsignal: Die Krise der Politik im Spiegel der Sprache> aus intimer Kenntnis der Materie zu Papier gebracht hat.14  

Natürlich ist die Sprechblasen­produktion der Politiker nichts prinzipiell Neues. Aber die Ausstoßquote hat unter dem Druck der Medien mittlerweile ein beängstigendes Volumen erreicht.

Hinzu kommt: 

Seit der Wahl-Bürger als Adressat der Bilderflut des Politischen selber zum bestens und professionell beobachteten Beobachter geworden ist, schließen sich — systemtheoretisch gesprochen — Publikums­erwartungen und Politikerhandeln immer öfter kurz zu einem «selbst-referentiellen System». Das aus der Sekundärbeobachtung abgelesene Bild der Publikumserwartung bestimmt das Handeln und Denken der Politiker. Die wiederum bestärken die Erwartungen und so weiter und so fort.

Man wird sich natürlich davor hüten, den Techniker in den Sendeanstalten für den Verfall und das Verschwinden des Politischen allein verantwortlich machen zu wollen. Daß das Fernsehen und überhaupt die Medien das Politische in Unterhaltung auflösen, stimmt ja nur an der Oberfläche und auch nur so lange, wie Politik nicht in den ihr angemessenen Rang eintritt.

14)  Zum Beispiel: 
«Ich gehe davon aus, daß die Entwicklung der Lage die Lösung der Probleme erleichtert, aber auch eine Herausforderung darstellt, denn die unverzichtbare - unabdingbare - Voraussetzung für die Akzeptanz unserer Politik ist es, daß wir...». 
Wie Kavalleriepferde beim Hornsignal ganz von alleine in Reihe und Glied antreten, reihen sich unter solchen Voraussetzungen die Sprachschablonen aneinander. 

* (d-2015:) E.Eppler bei detopia

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Zwar ist es richtig, daß mit der sukzessiven Auflösung der parlamentarischen Demokratie in ein außer­parlament­arisches Parlando die Kontrolle der Macht ebenso wie die Auswahl des Herrschaftspersonals aus den besagten Gründen unter die Fuchtel der Telekraten gerät. Sie sind es, die — als ominöse vierte Gewalt — durch die mediale Bearbeitung der Öffentlichkeit auch den größten Einfluß auf die Rekrutierung der jeweiligen Parteianhängerschaft und den Stimmenfang oder das Ansehen eines Politikers nehmen. Sie entscheiden, wer als der jeweils nächste Kanzlerkandidat überhaupt ernsthaft in Frage kommt, indem sie die Aufmerksamkeit der Vielen auf Personen ausrichten, die sie ins Rampenlicht stellen.

Durch die Verleihung selektiver Publizität verteilen die Medien politische Macht allerdings eher, als daß sie diese selbst hervorbringen. Mit jeder Kampagne werden oberflächlich politisierte Lager der Anerkennung oder Ablehnung vergattert. Aber — und darin liegt das Neue — die Entscheidung für oder gegen einen Politiker, für den Beginn oder Abbruch einer Telekampagne, wird kaum noch nach politisch-inhaltlichen Notwendigkeiten getroffen. Sinkt die Fernseh­einschalt­quote, ist das Ende der Debatte gekommen. Hier ist der Unterschied zum klassischen Pressefeldzug offenkundig.

Die aus solchem Treiben hervorgehende mimetische Konstitution politischer Wirklichkeiten ist überdies keinesfalls als Resultante eines ausgesprochenen Manipulations­potentials elektronischer Medien zu verstehen. Auf die Erzeugung von «falschem Bewußtsein» durch gezielte Propaganda kann die Erlebnisgesellschaft in der Regel durchaus verzichten. Allerdings verwandeln die elektronischen Medien alles, was vor ihre Kameraaugen kommt, zu einem Präparat ihrer Techniken. Und der Politiker, der sich auf sie einläßt, setzt sich automatisch dem aus, was Walter Benjamin schon in den dreißiger Jahren die «Auslese vor der Apparatur» genannt hat. 

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Mit herkömmlicher Propaganda hat das jedoch nur wenig zu tun. Vielmehr sind «die Besitzer von Medien [...] immer bemüht, dem Publikum das zu geben, was es will, denn sie spüren, daß ihre Macht im Medium liegt und nicht in der Botschaft oder dem Programm»  (H. M. McLuhan).

Unter den «Typen der politischen Figuren» hatte übrigens schon Max Weber den Journalisten am Jahrhundertanfang eine prominente Stelle eingeräumt. Neben der Parlamentssession war für ihn «nur der Zeitungsbetrieb kontinuierlicher politischer Betrieb überhaupt». Auch die diesem Betrieb anhaftende Tendenz zur «absoluten Verflachung» und zur Züchtung «politischer Indifferenz» hat Weber frühzeitig gesehen. Was Weber nicht sehen konnte, war, daß der Presse-, Funk- und Fernsehjournalismus einmal die Magnetnadel der öffentlichen Aufmerksamkeit total auf Amüsement polen könnte. Daß er, wie Mephistopheles hinter der Maske des Zoilo-Tersites versteckt, seine nihilistische Gesinnung ungeniert in der Weise publizieren könnte, wie es GOETHE im <Faust> mit den Worten ausdrückt:

«Doch, wo was rühmliches gelingt,
 es mich sogleich in Harnisch bringt. 
Das Tiefe hoch, das Hohe tief, 
Das Schiefe grad, das Grade schief, 
Das ganz allein macht mich gesund, 
so will ich's auf dem Erdenrund>>

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    Politikverdrossenheit als Zeitsignatur    

Die mediale Narkotisierung des Wähler-Volks erzeugt nicht nur Zustimmung. Sie provoziert zugleich eine allgemeine Allergie vor dem Politischen. Wie eine kontraproduktive Energie, oder besser: wie eine körpereigene Form der Abwehr breitet sich im sozialen Organismus der Ekel vor der politischen Klasse aus und schlägt immer öfter in einem Wahlverhalten zu Buche, welches der politischen Klasse die Legitimation vorenthält. Der Nicht-Wähler (der nicht selten seine präzise politische Meinung hat) formiert sich durch schlüssiges Verhalten zur Quasi-Partei.15)

Dennoch bleibt die allerortens diagnostizierte Politikverdrossenheit ein zwiespältiges Phänomen. Zwar signalisiert schon der Titel der angebotenen Diagnose, die jedermann auf Anhieb überzeugt, daß die Wahl-Bürger allmählich des aktuellen Politspektakels überdrüssig werden. Ob in dieser seelischen Verfassung aber die Chance für einen anderen Anfang liegt, dürfte durchaus fraglich sein.

Denn was besagt schon die pauschale Verurteilung der Politiker hinsichtlich der tatsächlichen Struktur der sich in dieser Verurteilung aussprechenden enttäuschten Erwartungen? Die Enttäuschung könnte beispielsweise ihren Grund darin haben, daß die durch das Spektakel Politik erwartete Unterhaltung nicht gelungen ist. 

15)  Selbst die Werbung will auf die Ausbeutung dieser Gefühlslage nicht mehr länger verzichten. So köderte zum Beispiel die neu gestartete Zeitung «Die Woche» in der «Zeit» Nr. 10/1993 potentielle Leser mit einer halbseitigen Anzeige, auf der nichts weiter abgebildet war als ein Porträt des SPD-Spitzenkandidaten. Quer über das Foto-Gesicht Björn Engholms aber war der Satz gedruckt: «Der Neue im Schmierentheater. Was sagt <Die Woche> dazu?»

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Sei es vielleicht deshalb, weil die für den programmierten Erlebniszweck hergerichtete Situation (das Fernsehstudio oder die Wahlveranstaltung), in die wir uns begeben haben, nicht professionell genug arrangiert worden war. Der Grund könnte auch darin liegen, daß der Politiker, der seinen Auftritt hatte, letzten Endes doch ein Langweiler gewesen ist. Und verständlicherweise breitet sich Enttäuschung natürlich dann aus, wenn allzu offensichtlich wird, daß die Symbolpolitik des zukünftigen Kanzlerkandidaten, der zuvor als moralischer Saubermann und Opfer seine Karriere gemacht hat, keinerlei Realitätsbezug aufweist (oder wenn sich herausstellt, daß der betont klassenkämpferisch auftretende Gewerkschaftsboß in Wirklichkeit ein gewiefter Börsianer ist — an Beispielen herrscht kein Mangel).

Angesichts derartiger Offenbarungen fühlt sich das Wähler-Volk in seiner Bereitschaft, einen vorteilhaften Schein zu akzeptieren, mit Recht düpiert. Der bedürftige Schein zerbricht in diesem Fall. Und der «nackte Kaiser» wird zur Fehlbesetzung auf der politischen Bühne. In dieser Funktion dient er dann noch als Anlaß für das übliche Glaubwürdigkeitsdebatten-Ritual, welches im Ergebnis immer wieder darauf abzielt, die Verpflichtung des politischen Personals zu unterstreichen, «nach einer festen Convention zu lügen, schaaren-weise in einem für alle verbindlichen Stile zu lügen», wie NIETZSCHE es einmal ausgedrückt hat.

Bemerkenswert ist, daß in solchen Debatten und Reinigungsritualen zumeist diejenigen Politiker besser abschneiden als die Glaubwürdigkeitsapostel, die von Beginn ihrer Karriere an gar nicht erst den Versuch gemacht haben, vor dem Publikum aus Moralkatalogen zu zitieren. Wer freiwillig die Rolle des «politischen Schurken» spielt, kann sich für gewöhnlich mehr Skandale leisten als die andern.

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  Der Sophist als Urbild des Simulations-Politikers. Die Freiheit der Wahrnehmung  

Mißtrauische Zeitgenossen mögen in dem Verhalten der Politiker weiterhin das sehen wollen, was man gemeinhin Verstellung nennt. Also ein beim Volk sich anbiederndes Tun, hinter dem die «feindliche Absicht» der Mächtigen lauert. Sozusagen die Fuchsnatur, die Machiavelli seinem Fürsten anrät, der ja stets milde, menschlich und aufrichtig «scheinen» soll, aber erforderlichenfalls das Böse zu tun weiß.16

Mag sein, daß im großen Karnevalszug des Politischen noch dieser oder jener Wolf im Schafspelz mitläuft, der auf seine Stunde wartet! Tatsächlich haben wir es bei der mimetisch konstituierten Politik jedoch mit etwas ganz anderem zu tun: mit einer Umstülpung des PLATONschen «Idealstaats». Platons Staat wollte ja auch nichts weiter sein als die Mimesis des «schönsten und besten Lebens». 

16)  Elias Canetti hat das Urbild dieser Form politischer Mimesis dingfest gemacht in dem Jäger, der sich an seine tierische Beute heranmacht: 

«Das Heranmachen als Freund, in feindlicher Absicht — in alle späteren Formen der Macht eingegangen —, ist eine frühe und wichtige Art der Verwandlung. Sie ist oberflächlich und bezieht sich auf die äußere Erscheinung allein, auf Fell, Hörner, Stimme, Gang. Darunter, unberührt, unberührbar, in tödlicher Absicht, die durch nichts zu beeinflussen ist, steckt der Jäger. 
Diese extreme Trennung von Innerem und Äußerem, die verschiedener gar nicht sein könnten, hat im Maskenwesen seine Vollkommenheit erlangt. Der Jäger hat sich und seine Waffe ganz in der Hand. Er beherrscht aber auch die Gestalt des Tieres, das er darstellt. Über beides hat er in jedem Augenblick Gewalt. Er ist sozusagen zugleich zwei Geschöpfe und hält, bis er sein Ziel erreicht hat, an beiden fest. 
Der Fluß der Verwandlungen, deren er fähig wäre, ist zum Stillstand gekommen: Er steht auf zwei scharf umgrenzten Orten, der eine im anderen, dieser von jenem deutlich abgesetzt. Es ist dabei wesentlich, daß das Innere hinter dem Äußeren streng verborgen bleiben muß. Das Freundlich-Harmlose ist außen, das Feindlich-Tödliche innen. Das Tödliche verrät sich erst in seinem endgültigen Akt.»

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Allerdings traute Platon nur dem Gesetzgeber die Fähigkeit zu, eine Staatsverfassung darzustellen, die der Idee einer solchen nahekommt. In der Nachahmung der darin normierten Lebensform sollte sich die Polis bilden. Darum antworten die Organisatoren des Idealstaats den Tragödiendichtern, die Zugang zu ihrem Staat verlangen:

«Wir selbst sind Dichter einer nach Kräften möglichst schönsten sowie auch besten Tragödie. Unsere ganze Staatsverfassung ist sonach Nachbildung des schönsten und besten Lebens, welche Nachbildung wir wenigstens für die echteste Tragödie erklären.»

Und: Sie untersagen es den Dichtern, auf dem Markte ihre Buden aufzuschlagen und «durch ihre schöne Stimme ausgezeichnete Schauspieler auftreten zu lassen», die öffentlich zur Menge über die verfassungs­mäßig gewünschte Ordnung «so ziemlich das Gegenteil» dessen sagen, was die Idee einer Verfassung vorschreibt. 

Entsprechend knapp fallen die Platonschen Verhaltensmaximen für die politische Klasse aus, die sich durch diszipliniertes Verhalten von den gescholtenen Schauspielern unterscheiden soll: «Allein die Darstellung des Männlichen, Besonnenen und Guten ist den Wächtern erlaubt.» Sie sollen sich nicht wie Streitsüchtige aufführen, «einander beleidigend und verspottend und beschimpfend im Rausch oder auch nüchtern, und was sonst solche in Worten und Taten untereinander und gegen andere begehen.» Damit sie nicht «von der Nachahmung das Sein davontragen.»

Platons häufig gescholtene Kunstfeindlichkeit richtete sich also nicht gegen die Kunst schlechthin. Auf dem Prüfstand seiner Dialoge steht vielmehr einerseits die Mimesis der politischen Klasse, man könnte auch sagen: der Stil ihres Regiments. Drastisch gesprochen, behauptet Platon ja nichts weiter, als daß derjenige Politiker, der sich dauernd wie ein Hanswurst aufführt, schließlich einer sein wird, sobald er sich darstellerisch genügend lange darin einübt («von der Nachahmung trägt er das Sein davon»).

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Andererseits will Platon die «sophistische Kunst des Scheins», die «Trugbildnerei», entlarven. Mit seiner «streitsprecherischen Kunst» bearbeitet der Sophist nach Auffassung Platons die Öffentlichkeit. Zustimmung erhält er nicht wegen seiner Ziele, sondern weil er die Menschen mit Hilfe seiner «Trugbilder aus Worten» durch die Ohren bezaubert. Die mittels seiner sophistischen Kunst erzeugte Zustimmung aber schlägt unverdientermaßen in Machtgewinn um.

Heute erkennen wir in Platons Sophisten das Urbild des Politikers, der ein Meister der Simulation ist. Wir dürfen diesen Typus nur nicht verwechseln mit den Stümpern der Branche, die natürlich in der Mehrheit sind. Und schon gar nicht dürfen wir unterstellen, daß die heutigen Bildmacher des Politischen Betrüger sind, wenn sie ihr Handwerk gekonnt verrichten. Sehen wir sie stattdessen als Funktionäre eines Bild-Mobilmachungsunternehmens an, welches in letzter Instanz auf die ästhetische Ersatzvornahme der herkömmlichen politischen Wirklichkeit hinausläuft, kann von Betrug und Täuschung ohnehin nicht mehr gesprochen werden. 

Denn ein solches Unternehmen ordnet sich schließlich zwanglos in die allgemeine Bewegungsrichtung der westlichen Zivilisation ein. «Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild», wie MARTIN HEIDEGGER in seinem mit Recht berühmten Vortrag vom 9. Juni 1938 gesagt hat. Erst im Rahmen dieses Vorgangs wird der Mensch zur Bezugsmitte des Seienden. Wird er zum Subjekt in dem spezifischen Sinne, wie er «als Grund alles auf sich sammelt». Wenn das der Fall ist, können wir auch von einem «Weltbild» sprechen, wobei das Wort Bild hier keinesfalls nur das Abbild von etwas meint und auch kein sonstiger Abklatsch von etwas ist, sich also nicht auf ein «Gemälde vom Seienden im Ganzen» reduziert, sondern sagen will: 

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«Wo die Welt zum Bild wird, ist das Seiende im Ganzen angesetzt als jenes, worauf der Mensch sich einrichtet, was er deshalb entsprechend vor sich bringen und vor sich haben und somit in einem entschiedenen Sinne vor sich stellen will. Weltbild wesentlich verstanden, meint daher nicht ein Bild von der Welt, sondern die Welt als Bild begriffen. Das Seiende im Ganzen wird jetzt so genommen, daß es erst und nur seiend ist, sofern es durch den vorstellend-herstellenden Menschen gestellt ist.»

 

Ein solches «Weltbild» kannte das Mittelalter nicht und nicht die Welt der Griechen. Im Mittelalter ist das Seiende noch das ens creatum. In einer durch den Schöpfergott geschaffenen Ordnung hat alles seinen festen Rang und Namen. Für das Griechentum aber war das Seiende «das Aufgehende und Sichöffnende, was als das Anwesende über den Menschen als den Anwesenden kommt, das heißt über den, der sich selber dem Anwesenden öffnet, indem er es vernimmt».

Hier wird das, was ist, nicht erst dadurch seiend, daß der Mensch es anschaut, es sich vor-stellt nach Art der subjektiven Perception. Erst der neuzeitliche Mensch setzt sich selbst als «die Szene, in der das Seiende fortan sich vorstellen, präsentieren, das heißt Bild sein muß». Damit ist die Voraussetzung dafür gegeben, so könnte man den Gedankengang Heideggers radikalisieren, daß der Mensch zu einem Gefäß wird, in welches sich die elektronisch erzeugten Bilder ergießen. Aber: Es gehört zur Paradoxie dieses Vorgangs mit dazu, daß, gerade weil die Neuzeit die Welt zum Bild macht und das Vernehmen des bilderlosen Wesens abschneidet, der Mensch nicht mehr zu echter Anschaulichkeit fähig ist.

Heutzutage ist die Einsicht in den Verschleiß des politischen Utopismus Platons natürlich ebenso schnell dahingesagt wie diese Einsicht billig zu haben ist. Nur sind wir eben im Hinblick auf die Beantwortung der Frage, mit welcher politischen Form wir die Selbstläufigkeit der Technik beantworten sollen, bislang um keinen Schritt weitergekommen. 

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Noch immer hegen wir ja die Hoffnung, wir könnten die Technik — einschließlich der elektronischen Medien — wie ein Werkzeug «in den Griff bekommen» und mit ihrer Hilfe den geschundenen Globus sanieren. Und zwar denken wir das, und genau darin liegt der Widerspruch, obwohl wir den Politikertypus, der dieser Hoffnung noch am ehesten entsprechen könnte — dies wäre wohl der Politiker aus der Schule Platons — mehrheitlich längst abgewählt haben.

Zugleich aber sind wir nicht bereit, über einen anderen Anfang mit uns reden zu lassen. Zwar debattieren wir noch wie vor hundert Jahren über «Pressefreiheit», werfen jedoch die Frage nach einer «Freiheit der Wahrnehmung» angesichts ihrer offenkundigen Gefährdung durch die Industrialisierung des Sehens und die Verschmutzung unserer Weltwahrnehmung gar nicht erst auf. Unter den gegebenen Verhältnissen wäre es doch längst an der Zeit, analog zur Senkung des Geräuschpegels im öffentlichen Raum auch eine Senkung der Ausstrahlungsintensität von Bildern zu verlangen. 

«Den eigenen Augen nicht mehr zu trauen» könnte im Hinblick darauf, daß das Fernsehen das Auge in eine Zwangsjacke steckt, nicht mehr nur Ausdruck des Staunens über das sein, was wir sehen. Mindestens ebenso könnte eine solche Grund-Einstellung gegenüber einer «Welt als Bild» zum Kennzeichen einer politischen Mündigkeit werden, welche sich der Vormundschaft des elektronischen Bildes widersetzt.

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   Das Porträt des Königs als Requisit inszenierter Staatsmacht   

 

Natürlich sind wir auch als Simulatoren politischer Willenskraft letztlich nur Nachahmer. «Ut aliquid fieri videatur» — mit diesen Merksatz rückte schon Livius Politik in die Nachbarschaft des Showgeschäfts.     wikipedia  Liste_lateinischer_Phrasen/U 

Das Gefühl, auf einer Bühne vor Zuschauern zu agieren, hatten Politiker zu allen Zeiten. Vielleicht einmal abgesehen von Sparta und den Ordens­gründungen — Preußen in seinen guten Tagen sollte man ebenfalls dieser Reihe historischer Gestaltungen zuschlagen — hat es wohl kaum Staaten gegeben, in denen Politiker die Platonschen Maximen allzu ernst genommen hätten. Besonders der Barock zeichnete sich durch ein übersteigertes Bühnengefühl aus. Handeln vor den Augen der — speziell höfischen — Öffentlichkeit war seinerzeit zunächst erst einmal Handeln auf einem Schauplatz und damit Schauspiel.

Mimesis war Inszenierung des Staates. 

Insofern ist das politische Leben auch hier alles andere als schlichte empirische Realität und kaum von den Bildern zu trennen, die es bestimmen. Dennoch zeigt der geschichtliche Vergleich, wie sich die damalige Welt nicht nur was die Menge der zirkulierenden Bilder anbelangt von unserer Bilderwelt grundlegend unterscheidet. Bilder hatten damals noch ihre Bedeutung. Warum war das so?

Mimesis zum Beispiel unter Ludwig XIV., das ist die aufs höchste gesteigerte Kunst der Verfügung über symbolische Macht, wodurch die Autorität des Königs überhaupt erst erzeugt wird. Der politische Körper des Königs, der durch seine bildliche Repräsentation und textliche Beschreibung auf den natürlichen Körper des Königs gepfropft wird, ist in dieser Epoche primär ein mimetisch erzeugtes und im Hinblick auf seine Wirksamkeit gegenüber den Untertanen überzeugendes politisches Markenprodukt im damaligen Europa, welches in einen Kreislauf aus Symbolen zwischen der Herrscherfigur und den Franzosen planmäßig eingespeist wird.

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Dramatiker und Porträtisten setzen die Ereignis-Welt planmäßig in eine Welt der Symbolik um, der sich auch der König selbst paßgerecht fügen mußte. Nichts wurde insoweit dem Zufall überlassen: Jede Stunde hatte ihre vorgeschriebene Beschäftigung, die zugleich eine Beschäftigung mit dem politischen Körper war. Niemand anderes durfte Ludwig ein Taschentuch reichen als der Vorsteher der Taschentuchabteilung; selbst die Prüfung seines Stuhlgangs war Sache einer speziellen Hofcharge; um ihm ein Glas Wasser zu geben, mußten vier Personen tätig werden.

Fragen wir allerdings danach, wie das Theater von Versailles auf diejenigen wirkte, die außerhalb des höfisch-symbolischen Superdiskurses ihre Tage verbrachten, kann die Wirkung bei aller Anstrengung nur eine begrenzte gewesen sein. Denn die Menschen sahen ihr ganzes Leben lang immer dieselben Bilder: das Porträt des Königs auf den Münzen, Kirchenbilder, hinzu kamen noch ein paar bebilderte Flugschriften und für die, die des Lesens mächtig waren, gab es Bilder in Büchern. Allerdings hatten diese wenigen Bilder, und darin liegt der entscheidende Unterschied zur Moderne mit ihrer Bilderflut, noch ihre Bedeutung für die Menschen. Ihre Magie war ungebrochen. Referenzlosigkeit der Bilder — das wäre unter den gegebenen Umständen ein Fremdwort gewesen. Bilder konnten sich nur dann als solche bewähren, solange sie Abbild dieser oder einer «höheren» Welt waren.

 

ALEXANDRE DUMAS erzählt von der Macht dieser Bilder in seiner Geschichte von der <Eisernen Maske>. Die Erzählung handelt von König Ludwig XIV. und seinem Bruder. Aus Gründen der Machterhaltung hatte der König seinen Bruder, der ihm auf frappierende Weise ähnelte, entführen lassen. Dadurch sollte verhindert werden, daß der Bruder Ansprüche auf den Thron stellen konnte. Man kannte schließlich das königliche Porträt. Jeder Bewohner des Reiches hielt die umlaufenden Münzen in seiner Hand.

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Der brüderliche Doppelgänger mußte also schon deshalb von der Bildfläche verschwinden, weil nur so die Gefahr gebannt werden konnte, daß dieser die «Macht der Bilder» für sich ausschlachten konnte. In Dumas' Erzählung wird dem Bruder des Königs aus diesem Grunde die eiserne Maske aufgesetzt, die er selbst im Dunkel des Kerkers nicht abnehmen darf. Schließlich hätte sichtbar werden können, daß es einen potentiellen zweiten König gab, den man dem regierenden hätte vorziehen können. Hinzu kommt natürlich: Der Bruder des Königs durfte seine Maske auch deshalb niemals ablegen, weil sonst das auf Münzen zirkulierende Bild die machtpolitischen Machenschaften hätte offenbaren können. Mit Hilfe des Bildes hätte man leicht das tatsächliche Geschehen verifiziert. Dementsprechend verhalten sich alle am Geschehen Beteiligten. Die einen wollen mit der eisernen Maske, indem sie diese vor das Gesicht des königlichen Bruders setzen, die Erfahrung des wirklichen Zustands verhindern. Er, der sein wahres Gesicht nicht zeigen darf, will aber die Maske ablegen, damit die Wahrheit von allen gesehen wird.

Das Bild hat hier noch einen intimen Realitätsbezug. Im Gegensatz dazu kann uns die Bilderwelt in der Moderne, gleichgültig ob es sich nun um Kanzlerbilder oder andere Porträts des Politischen handelt, nicht mehr über die politischen Zustände aufklären. Die Erfahrung dieser Bilder sagt nichts mehr über die Sphäre des Tatsächlichen aus. In ihrer Beliebigkeit sind diese Bilder in jeder Hinsicht austauschbar. Sie sind in einer Werbesendung genauso gut verwertbar wie in einem politischen Magazin.

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    Beamtenherrschaft gegen die Leidenschaft des Politikers    

Wer sich ein zeitgemäßes Bild der hierzulande wirkenden politischen Entscheidungsmechanismen machen will, der ist vermutlich gut beraten, wenn er die letzten zentralistischen Gesellschaftsvorstellungen verabschiedet und sich - positiv formuliert - stattdessen die Gesellschaft lieber als eine Art neuronales Netz mit dezentralisierten Entscheidungen vorstellt, in dem die Orte politischer Kontrolle zumeist nurmehr wie Relais funktionieren. 

Mochte in einer hierarchisch differenzierten Gesellschaft wie der staatssozialistischen ein Generalsekretär für sich noch in Anspruch nehmen, gemeinsam mit seinen Sarotniki im Politbüro für das Ganze der Gesellschaft zu stehen. In einer funktional differenzierten Gesellschaft wie der Bundesrepublik ist ein solcher Anspruch deplaziert. Hier gibt es nurmehr ein politisches Teilsystem! Das reklamiert zwar immer noch in Gestalt seiner Vertreter medienwirksam seine Zuständigkeit für das gesellschaftliche Ganze. Gleichwohl kann es diese Zuständigkeit allein unter der paradoxen Bedingung ausüben, daß es sich selbst konsequent durch seine eigenen partikularistischen Spielregeln weiter entprofiliert. Woraus zwangsläufig die Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf Gesamtverantwortung und der begrenzten Handlungsmöglichkeit eines selbstrefentiellen Systems resultiert.

In einer solchen Lage wird nicht nur die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative fragwürdig. Auch der Staat als das vormals entscheidende Macht-Instrument in den Händen der politischen Klasse verliert zunehmend an Gewicht. Wie weit dessen Bedeutungsverlust zwischenzeitlich fortgeschritten ist, bringen die Politologen immerhin metaphorisch schon sehr schön auf den Punkt. Von der «schmächtigen Figur» des Staates, der «Erosion von Staatlichkeit», ja, selbst vom «Absterben des Staates» kann man da hören. 

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Gemeint kann damit allerdings nur sein, daß der Staat seine originären Aufgaben (zum Beispiel die Schutz- und Ordnungsfunktion) kaum mehr erfüllt. Denn daß er währenddessen zugleich ziemlich erfolglos in beinahe allen sozialen Bereichen herumwurstelt, ist augenscheinlich.

Man darf dabei in allem ja nicht übersehen, daß zur vulgären Ästhetisierung der Politik in Deutschland die traditionelle Verbeamtung addiert werden muß. Vor solchem Hintergrund macht es zweifellos Sinn, sich noch einmal Max Webers Rede über <Politik als Beruf> in Erinnerung zu rufen, und sei es nur, um sich klarzumachen, wie weit die Denaturierung der Politik seit Webers Zeiten vorangeschritten ist. Bekanntermaßen hat Max Weber scharf differenziert zwischen Politikern und Beamten:

«Denn Parteinahme, Kampf, Leidenschaft — ira et Studium — sind das Element des Politikers. Und vor allem des politischen Führers. Dessen Handeln steht unter einem ganz anderen, gerade entgegengesetzten Prinzip der Verantwortung, als die des Beamten ist. Ehre des Beamten ist die Fähigkeit, wenn trotz seiner Vorstellungen die ihm vorgesetzte Behörde auf einem ihm falsch erscheinenden Befehl beharrt, ihn auf Verantwortung des Befehlenden gewissenhaft und genau so auszuführen, als ob er seiner eigenen Überzeugung entspräche: ohne diese im höchsten Sinn sittliche Disziplin und Selbstverleugnung zerfiele der ganze Apparat. 

Ehre des politischen Führers, also: des leitenden Staatsmannes, ist dagegen gerade die ausschließliche Eigenverantwortung für das, was er tut, die er nicht ablehnen oder abwälzen kann und darf. Gerade sittlich hochstehende Beamtennaturen sind schlechte, vor allem im politischen Begriff des Wortes verantwortungslose und in diesem Sinn: sittlich tiefstehende Politiker...»

Max Webers Unterscheidung gewinnt zwangsläufig von dem Augenblick an ihre volle Bedeutung für die Charakteristik des Politischen in Deutschland, seit hierzulande mit dem Tod von Herbert Wehner, Franz J. Strauss und Willy Brandt, um nur drei bekannte Namen zu nennen, das letzte personale Urgestein aus dem politischen Unterbau herausgebrochen ist.

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Übrig geblieben ist die Beamtenherrschaft.17 Durch deren Tun entsteht aber ein «politischer Raum», in dem das, was Max Weber unter der «Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates» verstehen wollte, logischerweise kaum mehr vorkommt.

Anders gesagt: 

Wo Politiker bereits Amtsträger sind — gleichgültig, ob als Gewerkschaftsfunktionäre, Parteivorständler oder verbeamtete Staatsdiener — oder wo sie dieses werden wollen, überall dort ist es sinnlos, an ihr Tun die Elle des leidenschaftlichen Politikers Weberscher Prägung anlegen zu wollen.18) 

 

17)  Nach seiner Meinung befragt, antwortet schon in Schillers <Wallenstein> der schwedische Unterhändler Graf Wrangel: «Ich hab' hier bloß ein Amt und keine Meinung.» Knapper kann man nicht zusammenfassen, was Max Weber sagt. Und nirgendwo sonst in Europa als in Deutschland hätte Gustav Wrangel die bohrende Fragerei eines der mächtigsten Männer seiner Zeit derart leicht parieren können.

18)  Friedhelm Farthmann, Vorsitzender der SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen, antwortete auf die Frage, warum Politiker häufig so nichtssagende Antworten geben: 

«Dafür gibt es im wesentlichen zwei Gründe. 
Erstens: Nach der Festigung der Demokratie in der Bundesrepublik und der gegenseitigen Annäherung der großen politischen Gruppen in den meisten Grundsatzfragen betrachten viele Politiker der jüngeren Generation ihre politische Aufgabe vor allem als berufliche Chance. Ihnen geht es weniger um eine politische Mission, sondern mehr um ihre eigene Karriere. Deshalb sind sie bei allen politischen Äußerungen vor allem bestrebt, unangreifbare Positionen zu beziehen, die keinen Widerspruch auslösen bei innerparteilichen Gruppen oder mächtigen Verbänden. 
Zweitens: Diese Tendenz wird noch verstärkt durch einen Journalismus, der immer gnadenloser und unverhohlener auf Sensation setzt. Manchen Journalisten geht es nicht in erster Linie darum, die wirkliche Meinung des betreffenden Politikers zu referieren, sondern ihn durch geschicktes Fragen zu einer unbedachten oder zumindest ausdeutbaren Äußerung zu bewegen. Die Politiker reagieren darauf mit übergroßer Vorsicht [...], und heraus kommt die typische nichtssagende Politikersprache, die die Leute allmählich nicht mehr hören können.»  

wikipedia  Friedhelm_Farthmann  *1930 

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Da, wo Beamtennaturen vorherrschen, können «Parteinahme, Kampf, Leidenschaft» bestenfalls noch simuliert werden. Realiter bestimmt hier die innere Bereitschaft zur uneingeschränkten Dienstbarkeit in der Autopoiesis, also der Selbstgestaltung und Selbstregulierung des politischen Systems, alles Tun.

In welchem Umfang und in welcher sozialen Tiefenschicht dabei so etwas wie FOUCAULTS <Mikrophysik der Macht> realisiert wird, das steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt. De-Zentralisierung der Macht bedeutet zunächst zwar durchaus, daß alle vormodernen Formen bürokratischer Macht in dem Maße verdrängt werden, wie der «Liberalismus» diese aufweicht. 

«Man kann darin aber», wie Jean Baudrillard hervorhebt, «genauso gut eine Art Revanche des Staates in Not sehen, welcher die bürgerliche Gesellschaft [...] auslöscht, in dem er sich mit ihr vermischt, der jedes Molekül dieser Gesellschaft neutralisiert, indem er es programmiert und für seine eigenen Ziele verantwortlich macht. Der durchscheinende, abtrünnige, politisch abwesende Staat wacht noch über die transparente, von Medien eroberte, sozial abwesende bürgerliche Gesellschaft.» Mit selbst nur geringer Phantasie dürfte es übrigens heute nicht mehr schwer fallen, sich über die Formen-Welt klar zu werden, die auf die Verwässerung des staatlichen Gewaltmonopols folgt. 

*detopia:   Baudrillard    

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   Schwindender Gestaltungsrest im sich selbst regulierenden Gesellschaftssystem   

In ihrer ganzen Bedeutung geht die Simulation von Politik in Deutschland heute jedenfalls bei weitem über «die flatterhafte Geschwätzigkeit [...] dies bare Gegenteil einer wahrhaften Wirklichkeit des Staats» (HEGEL) hinaus: Sie reicht bis in das Innerste des politischen Realitätsprinzips, bis in die staatlichen Institutionen selber. 

Der Bundespräsident, die Nummer eins deutscher Politik, dessen Amt grundgesetzlich keinen politischen Spielraum offenhält, ist insoweit die institutionalisierte Ohn-Macht in Person. Lediglich auf sein Sprachvermögen gestellt, hebt sich in seiner Person Politik gänzlich in Rhetorik auf. Ist der Amtsträger darüber hinaus wie Roman Herzog gleichzeitig eine höchst respektable und sehenswerte Persönlichkeit, funktioniert seine in der Regel folgenlose Ehrlichkeit und Redlichkeit bestens als Charismatik-Simulation.

Oder denken wir an die Bundeswehr. Nachdem über vier Jahrzehnte Unsummen für deren Rüstung und Unterhaltung aufgebracht worden sind, um dadurch einer angeblich übermächtigen Bedrohung aus dem Osten wirksam Paroli bieten zu können, hören wir nun aus dem Munde deutscher Generale, die Truppe sei derzeit nicht einmal fähig, gemeinsam mit den Verbündeten an kleineren Kampfeinsätzen teilzunehmen. Man muß Kampfeinsätze der Bundeswehr nicht befürworten. Aber fragen muß man doch wohl nach dem überraschenden Eingeständnis militärischer Impotenz durch die Generalität: Ist die Bundeswehr hiernach noch etwas anderes als eine ziemlich kostspielige Simulationsveranstaltung militärischer Kampfkraft? 19)

19)  Die Frage ist nicht rhetorisch gemeint. Der im Juni 1993 durch den Rechnungsprüfungsausschuß des Bundestages vorgelegte Bericht enthält deutliche Hinweise, daß die Bundeswehr zu einer Simulationsveranstaltung geworden ist. Man kann in dem Bericht zum Beispiel nachlesen, daß neu in Dienst gestellte Panzer bis zu fünfzehn Jahre nicht einsatzfähig gewesen sind. Die für ihre Einsatzfähigkeit erforderlichen elektronischen Rüstsätze waren nicht vorhanden.

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Das alles hat Folgen für ein angemessenes Politikverständnis. Politik, gleich welche, kann nämlich einerseits auf die Schrumpfung eingreifender Praxis gar nicht anders als mit einer Konservierung ihrer Rituale antworten. Andererseits ist sie geradezu gezwungen — und an dieser Stelle erscheinen die elektronischen Medien als Retter in der Not — Zeichen ihrer Ähnlichkeit hervorzubringen. Denn im Unterschied zur klassischen Politik, die Freund und Feind definieren wollte, die Strategien verfolgte, die Opfer verlangte, die also noch scheitern konnte, sind Simulationspolitiken nurmehr Antworten auf ein kollektives Verlangen nach Zeichen der Macht.

 

Wo Politik neben der Wirtschaft, dem Recht, der Wissenschaft, der Religion oder dem Erziehungssystem nicht mehr — sicherlich auch nicht weniger — als ein eigengesetzlich operierendes Funktionssystem der Gesellschaft unter anderen ist, empfiehlt es sich, die Erwartungen an staatliches Handeln klein zu halten. Und seitdem oftmals wirkliche Ziele gar nicht mehr von Bedeutung sind, zu deren Realisierung Politiker einst Macht erstrebten und gebrauchten — seien es nun nationale oder menschheitliche, soziale oder ökologische Ziele — lastet, wie der Einigungsprozeß in Deutschland zeigt, der Fluch der Nichtigkeit noch auf den äußerlich stärksten politischen Erfolgen.

Nach einer nur wenige Monate andauernden Wiederbelebung der Politik als Wille und Repräsentation in der Wendezeit war in Deutschland das Beziehungsfeld des Politischen sehr schnell wieder zur Normalität des Nichts zurückgekehrt. War schon die Integration der neuen Bundesländer in den politischen Verband der Republik mehr dem Automatismus der Währungsunion geschuldet, als daß man darin ein Ergebnis planmäßiger Politik hätte ausmachen können, so zeigt sich im Durcheinander des Wiederaufbaus erst recht, daß die Entscheidungsspielräume für Politiker inzwischen zunehmend gegen Null tendieren. Die Praxis bestätigt hier allemal die schlichte Feststellung, «daß die Politik viel können müßte und wenig können kann.» (Niklas Luhmann)

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Am Beispiel des Einigungsprozesses wurde überhaupt in vieler Beziehung deutlich, in welcher Größenordnung der «kleiner werdende Gestaltungsrest» von Politik derzeit noch ausgemessen werden kann. Wer hier Macht gebrauchen wollte, konnte noch in bescheidenem Maße zum Beispiel eine staats­interventionist­ische Politik im Gegensatz zu einer Politik staatlicher Abstinenz bei der Lösung der Probleme in den Neuen Bundesländern zur Wahl stellen. Man konnte also gewissermaßen zwischen dem «Modell Japan» und dem «Modell USA» hin- und herpendeln.

Hinzu kommt, daß jede Kraft, die auf der Ebene des gesellschaftlichen Ganzen Akzente verschieben will, dazu ohnehin nur zwei Mittel einsetzen kann. Beide aber müssen paßgerecht zum vorhandenen Rechtssystem und Wirtschaftssystem angewandt werden. Sie kann erstens Gesetze durchbringen unter der Voraussetzung ihrer Paßfähigkeit zur bestehenden Rechtsordnung. Wie beschränkt die tatsächlichen Möglichkeiten insofern sind, kann man gut am Jahre andauernden Parteien-Hick-Hack um die Lösung der DDR-Eigentumsfragen auf der Grundlage des Prinzips «Rückgabe vor (beziehungsweise nach) Entschädigung» ablesen. 

Wer hier Änderungen des Einigungsvertrages wollte, wurde nicht nur kurzerhand zum Feind des Grundgesetzes erklärt, er mußte zugleich mit einem Bußgang nach Karlsruhe rechnen. Das bestehende Rechtssystem reagiert nun einmal nur in dem Maße verträglich auf gesetzgeberische Eingriffe, soweit sich diese einigermaßen widerspruchsfrei an das Bestehende anpassen. Was nichts anderes heißt, als daß die rechtserheblichen Aktivitäten der Politik abgestimmt und durch Wechselbezug legitimiert werden müssen. Sondergesetze für den Wiederaufbau in den Neuen Bundesländern werden in den Altbundesländern deshalb ohnehin kaum als «Recht», sondern im wesentlichen nur als Interessenwahrnehmung begriffen, ebenso die Schaffung von Sonderinstitutionen wie etwa einer «Kammer» mit besonderen Befugnissen für den Aufbau Ost.

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Zweitens kann Politik — theoretisch — noch mehr Geld als bisher in den Aufbau Ost pumpen. Sofern sie weiß, wie sie ihre dadurch eintretende Zahlungs­unfähigkeit ausgleichen kann. Anders gesagt: Politik kann mit Macht an der Steuerschraube drehen oder Kredite aufnehmen. Und hier zeigten bereits die Polemik um die «Steuerlüge» und die Debatte über die «Zwangsanleihe», wie hoch die Trauben hängen. Von der bereits vorhandenen immensen Staatsverschuldung, die bald mit einem Zinsdienst von mehr als zweihundert Milliarden Deutscher Mark pro Jahr rechnen muß und der Frage, ob die Wirtschaft einen solchen Geldentzug überhaupt verkraften kann, einmal ganz abgesehen. Es zeigt sich also, daß die Politik nicht für das einstehen kann, was die Wirtschaft tun muß. Die aber investiert nur da, wo sie sich Gewinne versprechen darf.

Angesichts derart enger Grenzen für politisches Handeln muß die den klassischen Begriff von Politik prägende Leitentscheidung einer repräsentativen Person naturgemäß hinter den Selbstregulierungs­mechanismen in den unterschiedlichsten Teilsystemen der Gesellschaft verschwinden. Nichts anderes bedeutet «Sachzwang»: Allemal sind die wesentlichen Entscheidungen in der Politik durch die Selbstregulierungsmechanismen der genannten gesellschaftlichen Teilsysteme vorentschieden — man könnte darin durchaus die systemtheoretische Variante von Hegels «Vernunft des Wirklichen» sehen.

Schrumpfen die Entscheidungsspielräume derart zusammen, geraten Politiker zwangsläufig in Verlegenheit. Wie will man sich da vor dem Wähler-Volk unterscheiden? Zu guter Letzt bleibt einem in solcher Lage gar nichts anderes übrig, als das Pro und Contra zur Autobahnvignette zur Fiktion einer Fundamentalalternative hochzustreiten — gerade so als ginge es dabei um Sein oder Nicht-Sein Deutschlands.

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   Krisenmanagement: Eskamotage der Politik   

Zusammenfassend kann man sagen: Seit der Erlebniswert der Politik deren Gebrauchswert in den Schatten stellt, seit die ganze Welt zum Studio der Anstalten oder besser: zu einem medial konditionierten Theatrum Mundi, Theatrum Europaeum und Theatrum Belli und so weiter geworden ist, auf dessen Podium die einen den anderen vorführen, wie sie sich selbst und ihren politischen Aktivismus in der Schauspielhaftigkeit ihres Agierens verstehen, verdrängt alltagsästhetisches Urteilsbedürfnis unaufhaltsam die letzten Reste der politischen Urteilskraft. 

Unbedacht wenden wir dieselben Maßstäbe auf die Politik an, die wir gewöhnlich anlegen, sobald wir in eine für Erlebniszwecke zurechtgemachte Situation eintreten: etwa ins Kino gehen oder ins Theater, Fernsehen gucken und so weiter. Empfinden wir das politische Geschehen so gesehen als interessantes Angebot, als subjektiv lohnend und schön, findet es unsere Zustimmung. Anderenfalls erteilen wir dem Ganzen eine Abfuhr.

Bei einem alltagsästhetischen Interpretationsmuster solchen Zuschnitts wundert es gar nicht, daß wir selbst auf die Bedrohung unserer natürlichen Lebensgrundlagen allenfalls noch ästhetisch und simulativ reagieren. Auf die verrosteten Öltanker, die unsere Strände verpesten, antworten wir nicht mit der Bundesmarine, die den nächsten Seelenverkäufer aufbringt, der unsere Küsten gefährdet, sondern mit Umbuchungen im Reisebüro. Noch gibt es schließlich genügend saubere Strände auf dieser Welt.

Undenkbar auch, daß wir uns in Deutschland durchringen, politisch-praktisch Konsequenzen aus dem Scheitern des Versuchs zu ziehen, den Kohlendioxid-Gehalt in der Atmosphäre zu stabilisieren. 

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Zwar sprechen keinerlei Anzeichen für eine Umrüstung der Weltwirtschaft auf regenerative Energien. Dennoch gibt es keine politische Kraft, die ernsthaft darüber nachdenken und planen will, wie wir in den heraufziehenden klimatischen Umbrüchen zurechtkommen könnten, ohne in Chaos, Flüchtlingselend und Verteilungskämpfen zu versinken. Stattdessen Kongresse, Gutachten, Konferenzen — eben alles das, was man so macht, wenn man nichts machen will! Placebopolitik par excellence...20

Politiker-Handeln in der Moderne heißt also: immer erst dann zu reagieren, wenn der Problemdruck Entscheidungen unausweichlich macht. (Allgemein ähneln Politiker darin dem sprichwörtlichen Hund, den man zum Jagen in den Wald tragen muß.) Insofern ist der Politik ihr ureigenster Grundbegriff, nämlich der der vorgreifenden Aktivität, eskamotiert. Und in den Vordergrund rückt die Anpassung, die Reaktion auf die gröbsten Auswüchse des Gesellschafts­handelns.21

Was nichts anderes bedeutet, als daß der Vorrang der neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte in der modernen Politik nicht mehr vorkommt. Notwendige Veränderungen werden — wenn überhaupt — ausnahmslos mit Verspätung in Gang gebracht. In diesem Tatbestand, der sich anhand sämtlicher Gegenwartsprobleme und ihrer Bearbeitung durch die Politik leicht exemplifizieren läßt, offenbart sich die prinzipielle Schwäche westlicher Politik.

20)  Erstaunlich ist die Abgebrühtheit, mit der wir auf die Serien von Hiobsbotschaften reagieren. So hat etwa die im Auftrag der EG erstellte Analyse des <Fraunhofer Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung> schon nicht einmal mehr den sonst üblichen Sturm im Wasserglas hervorgerufen, obwohl sie durchaus zu dramatischen Ergebnissen kommt. Sie prognostiziert bereits für das Jahr 2030 eine Verdoppelung des CO2-Gehalts in der Atmosphäre und Klimaverschiebungen, Überschwemmungen sowie Verwüstungen.  

21) Gewitzte Politiker machen freilich aus ihrer Not längst eine Tugend und preisen ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum «Krisenmanagement» und zur «Schadensbegrenzung».

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Inzwischen begreifen wir langsam, daß unsere ursprünglichen Hoffnungen durch ein Politik- und Staats­verständnis genährt wurden, welches die Wirklichkeit längst dementiert hat. Politik hat heutzutage eben mit planender und entscheidender Vernunft nur noch manchmal etwas, mit opportunistischer Sichdurchwurstelei hingegen sehr oft zu tun hat. «Das Gesetz der Weltgeschichte ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des Fortwurstelns im alten Kakanien» (ROBERT MUSIL).

Jede politische Sichtweise, welche die sukzessive Metamorphose eingreifender Politik hin zu einer Politik des Als-ob nicht wahrhaben will, wird naturgemäß immer wieder zwischen Überschätzung und Enttäuschung bezüglich der konkreten Möglichkeiten von Politik hin- und hergerissen werden. Und sie wird allzu billig auf die nächsten Versprechungen hereinfallen. Aus der vormundschaftlichen Fixierung auf «Große Politik» kann man eben nur durch einen Wechsel der Perspektive herauskommen. Ein solches Manöver aber verlangt Durch-Blick im wahrsten Sinne des Wortes. 

Hatte früher und noch im Staatssozialismus der Begriff des Simulakrum (des Trugbildes, des Blendwerks, des Scheins) im Zusammenhang mit den «Arkana imperii» seine Bedeutung22), und sei es als eine falsche Vorgabe, hinter der die eigentliche Sache ganz anders oder gar eine andere Sache gehandelt wurde, so bezeichnet er heute die Sache selbst. Die (politische) Sache selbst ist nurmehr ein simulierter Zustand oder ein simuliertes Verhältnis.

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Besonders gilt das für das in Deutschland so beliebte Links-Rechts-Schema, an dem sich heuer wieder unsere politischen Profilierungskünstler aufrichten wollen, ungeachtet dessen, daß sich ihre Antworten auf die drängenden Lebensfragen voneinander unterscheiden wie Erdäpfel und Kartoffeln.

Heute enthüllt sich die Identität der «Linken» und der «Rechten» in ihrer gleichermaßen unübersehbaren politischen Impotenz. Auch hierzulande trifft das Diktum Jean Baudrillards ins Schwarze, wenn er sagt: 

«In Wirklichkeit betreibt die ganze Rechte und Linke gemeinsam die Arbeit der Differenz; sie arbeiten zusammen, um das politische Simulations­modell zu schützen; und dieses geheime Einverständnis beherrscht weitestgehend ihre wechselseitigen Strategien.»

Politiker und Wähler-Volk haben hierzulande keinen Willen und Glauben mehr, den die Politik repräsentieren könnte. Kein Wunder also, wenn das Repräsentativ­system durchdreht im Überspielen der Erkenntnis, daß nichts mehr zu repräsentieren ist.

Die vulgäre Ästhetisierung des Politischen im Spektakel, seine Verbildlichung und symbolische Totalorganisation ist symptomatisch für die auf ganzer Linie sich vollziehende Hybris des Scheinhaften, oder, um es mit einem Wort Heideggers zu sagen, <lärmende Erlebnis-Trunkenboldigkeit> des politischen Nihilismus. Man ist vollauf damit beschäftigt zu kaschieren, daß es <deutsche Politik> gar nicht mehr gibt.

Das Politische ist in Deutschland weitgehend inhaltslos geworden. In dem System simulierter Gegner­schaften und Überzeugungsversuche gibt es keinerlei politische Tatkraft mehr, sondern nur noch eine Art Medien-Sog, der uns alle in ein bodenloses Gerede <über Politik> verwickelt.

Aber dadurch, daß eine Gesellschaft nicht mehr die Kraft aufbringt, "sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt". (Carl Schmitt) Die Dauerinszenierung macht uns nur blind für das, was kommt.

Wir versinken in einem Prozeß der <Fellachisierung>, in einem "Dasein ohne historisches Bewußtsein und höheren Anspruch —, man lebt für den Tag." (Ernst Jünger). Der Nihilismus schlägt zurück auf das politische System selber. 

Dieser Zustand des politischen Lebens ist eine öffentliche Kränkung für Intelligenz und Vernunft. Eine Kränkung, die wir selbst verschuldet haben durch unsere Pfauenstreicherei innerhalb eines Unter­nehmens scheinhafter Demokratie.

Und er wird so lange anhalten, bis sich die Gestalt der politischen Öffentlichkeit von einer auf das Amüsement orientierten Genuß- und Bewußtlosigkeits­gemeinschaft hin zu einer Form der Erkenntnis- und Aktions­gemeinschaft entwickelt. Die würde die ordnenden Mächte des Scheins gar nicht einmal unterbinden wollen. Wohl aber dürfte sie zu verhindern wissen, daß der Schein zur verführerischen All-Macht hypertrophiert.

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22)  Der vatikanische Kirchenstaat zum Beispiel beruht bis zum heutigen Tag auf der Fiktion der «Konstantinischen Schenkung», das heißt dem frei erfundenen Erlaß Kaiser Konstantins an Papst Silvester I., und er ist damit das Paradebeispiel jener pia fraus, jenes vermeintlich «frommen» Betrugs, von dem es im Mittelalter nur so wimmelte. Daß es sich bei dem berüchtigten Constitutum Constantini lediglich um eine Fiktion handelte, hat aber das Papsttum nie daran gehindert, mit Hilfe dieser «Rechts»-Grundlage seinen politischen Willen zu begründen und durchzusetzen.

wikipedia  Konstantinische_Schenkung      mydict.com / Fellachisierung  (Wort von Spengler)

 

 

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Rolf Henrich  1996