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6   Ein hoffnungsloser Kampf ?  

Gruhl-1987-Schlusswort

 

   Die Karawane der Blinden zieht weiter   

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Die Umweltprobleme unserer Welt verfolge ich nun schon seit 1970 intensiv. Die Zeitungen am Morgen und die Fernseh-Nachrichten am Abend mußten seitdem Jahr für Jahr immer mehr Spalten und Sendezeiten den Umweltschäden und -katastrophen widmen. Aber die Politik hat sich davon kaum beein­flussen lassen. Nur für die direkt Betroffenen ist es übel; doch wie viele sind schon direkt betroffen? 

Auf der anderen Seite erleben wir eine tagtägliche Kriegsberichterstattung von der Wirtschaftsfront. Sie konzentriert sich auf das sogenannte <wirtschaft­liche Wachstum>: 3% — 3,5% — 2,8% — 1,9%. Berichte und Zahlen werden gefärbt und gefälscht wie bei jeder Kriegs­bericht­erstattung. Meldungen von einer weiteren Front kommen stündlich und öfter über die Lautsprecher, die Berichte über den Verkehr sprechen von Stauungen, Umleitungen, Unglücks­fällen und nennen - wie im Krieg - die Zahl der Toten und Verwundeten.

Die große Masse ist mit den Politikern der einhelligen Meinung, daß »Umweltschutz« zwar ein neues Ressort sei, aber eben eines unter vielen. Ein solches soll das Land vor den Folgen schützen, die von allen übrigen Ressorts verursacht werden. Doch diese Folgen lassen sich nicht wieder­gutmachen.

Darum wird jeder Umweltminister zur Witzfigur, solange die anderen Minister ihre Arbeit als um so erfolgreicher erachten, je mehr Folgen sie in die Welt setzen: der Wirtschaftsminister, der Verkehrsminister, der Minister für Forschung und Technik, der Minister für das Bauwesen, der Minister für Verteidigung und schließlich auch der Minister für Landwirtschaft und Forsten. Und da ja die Minister für Finanzen, für Soziales und alle anderen darauf erpicht sind, daß ihnen die erstgenannten mehr Geld in ihre Kassen holen, sind sie Verbündete der ersten Riege.

Der allgemeine Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis lautet längst, daß mit einer passiven Umwelt­schutz­politik nichts erreicht werden kann, daß vielmehr eine ökologische Gesamtpolitik nötig ist, um die Natur vor dem Kollaps zu retten. Doch diese Überlebensfrage spielt noch in keinem Land der Welt eine Rolle. Sie ist zu allumfassend, als daß irgendwo Parteien oder Gruppen auch nur den Versuch gewagt hätten, sie ernstlich aufzugreifen. Sie schaffen es ja doch nur mühselig, sich durch die Alltagsproblemchen hindurchzuwursteln. Sie riskieren schon gar nicht, ihren Wählern reinen Wein einzuschenken.

Und die große Menge läßt sich gern betrügen. Das bewies die Wahl zum Deutschen Bundestag am 25. Januar 1987 wiederum drastisch. Was bedeuten schon die geringen Wählerwanderungen angesichts der Weltlage?

Selbst die <Grünen> haben sich angewöhnt, die Lappalien in den Mittelpunkt ihrer Streitereien zu rücken und die entscheidenden Probleme auszuklammern. Sie wagen es vor allem nicht, ihren Wählern ehrlich zu sagen, daß Einschränkungen ins Haus stehen, daß wir alle bescheidener leben müssen, damit andere überhaupt leben können. Und die anderen - das sind auch unsere eigenen Kinder und Enkel, die künftigen Generationen insgesamt.

Obwohl neue Bedrohungen aufgetaucht sind: die Vergiftung der Böden, das Absterben der Wälder, das Schwinden der Ozonhülle um unseren Planeten — auch diese konnten die Menschen nicht zu einer veränderten Zielsetzung bewegen, die eine Überlebenspolitik ermöglichen würde.

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So zerrinnen die Grundelemente des Lebens auf diesem Planeten in beängstigendem Tempo zu nichts. Ja, man nimmt sogar in Kauf, über Nacht vernichtet zu werden. Für diesen Holocaust hat man flugs einen vernied­lichenden Namen gefunden: »Restrisiko«. Und das nach Tschernobyl! Erstmals wurde dort bewiesen, daß nicht nur eine Totalverseuchung der unmittelbaren Umgebung, sondern eine großflächige Teilverseuchung bis zu 2000 Kilometer Entfernung entsteht. 

Dabei war die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl keineswegs eine besonders große! Die leichtere Bauweise hatte nämlich zur Folge, daß die Umhüllung schnell durchbrochen und das radioaktive Material mit geringem Druck in die Atmosphäre geschleudert wurde. Nur drei Prozent des radioaktiven Reaktorinhalts wurden freigesetzt. So entwichen zum Beispiel nur 16 Kilogramm Cäsium. Diese Menge genügte jedoch, um große Teile Skandinaviens zu verseuchen und die dortigen Rentierherden zu vernichten, um Heu und Milch in Rumänien, Ungarn, Österreich, Süddeutschland und der Schweiz zu verstrahlen und auch noch den Tee in der Türkei. 

Cäsium 137 hat eine Halbwertzeit von 30 Jahren, ist also nach 300 Jahren wieder verschwunden. Cäsium-134 hat eine Halb­wert­zeit von 2 Jahren, ist also nach 20 Jahren wieder verschwunden. Aber wenn die Politiker so wahnwitzig sein sollten, den Schnellen Brüter in Kalkar in Betrieb zu setzen, dann wird dieser als normale Ladung 1500 Kilogramm Plutonium in sich haben. Plutonium-239 hat aber eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren, ist zudem weit giftiger als Cäsium. Dennoch ist zur Zeit die Bundes­regierung und auch der »Bundes­umweltminister« bereit, den Schnellen Brüter in Kalkar mit eineinhalb Tonnen Plutonium zu beladen. Dabei ist bekannt, daß ein solcher Reaktor viel schwieriger zu steuern ist als die bisherigen Leicht­wasser­reaktoren.

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Im dicht besiedelten Mittel- und Westeuropa würden schon bei einer Katastrophe in der Größenordnung von Tschernobyl Millionen ihre Heimat verlieren, da diese auf Jahrzehnte oder Jahrtausende unbewohnbar und für die Erzeugung von Nahrung unbrauchbar werden würde. Ähnliche Mengen Plutonium müßten sich in Wackersdorf in der Verarbeitungs­anlage und in Hanau ansammeln, wenn das Atomprogramm fortgesetzt wird.

Damit sind nur einige Bruchteile der »Restrisiken« angedeutet, die von verantwortungslosen Regierungen gewagt werden, um nicht zugeben zu müssen, daß sie jahrzehntelang über einhundert Milliarden Deutscher Mark in eine mörderische Technik investiert haben, und um zweitens ihre ohnehin schwachsinnige Wachstums­theorie aufrechtzuerhalten. Lieber wird das Risiko der Auslöschung allen Bürgern zugemutet. Und ein deutscher Bundeskanzler, der zugleich Vorsitzender einer Partei ist, die sich Christlich-Demokratische Union nennt, stellt die dummdreiste Behauptung auf, daß ein solches »Restrisiko ethisch zu verantworten« sei. Ich hatte bereits am Anfang des Jahres 1986 auf dem Bundestreffen der Ökologisch-Demokratischen Partei in Nürnberg erklärt: 

»Ein verantwortungsloser Krieg endete mit Kriegsverbrecher-Prozessen. Der gegenwärtige Krieg gegen die Natur ist auf die Dauer viel verheerender! Ich könnte mir leicht denken, daß an seinem Ende Umwelt­verbrecher-Prozesse anstehen werden. Und wieder werden sich alle als unschuldig einstufen.«

Bei den Regierungsparteien in Bonn hat Tschernobyl nicht einmal zu einer kurzen Besinnungspause geführt. Dagegen erklärte in der Sowjetunion inzwischen der Vizepräsident der Sowjetischen Akademie der Wissen­schaften, Jewgeni Welichow, zugleich Berater Gorbatschows, daß die Katastrophe von Tschernobyl ihm die Augen geöffnet hätte, welche Folgen erst ein nuklearer Krieg haben würde. Die Militärs könnten dies allerdings immer noch nicht verstehen.

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Nach dem neuen Kurs des Generalsekretärs Gorbatschow sieht es so aus, als würde die Sowjetunion eine überraschend offene und flexible Rolle in der Weltpolitik zu spielen beginnen, während westliche Regierungen und Parteien ihre Altersstarrheit unbedingt beweisen wollen. So schnell können sich in der Geschichte die Positionen verschieben. Um aber das stets einkalkulieren zu können, ist ökologisches Verständnis vonnöten; alles fließt! 

Große Teile der deutschen Bevölkerung haben im Frühling und Sommer 1986 gemerkt, daß sie von den offiziellen Stellen getäuscht worden waren. Eine neue Welle von Bürger­initiativen bildete sich spontan. Besorgte Mütter, Ärzte, Rechtsanwälte und andere Berufsgruppen nahmen die einlullenden Beschwichtigungen nicht mehr hin. Sie protestierten in Zeitungsanzeigen und mit Unter­schriften­sammlungen. Wir von der Ökologisch-Demokratischen Partei halfen dabei mit, indem wir ein umfangreiches Flugblatt in einer Auflage von einer halben Million druckten und verteilten: »Gegen die Lügen vor und nach Tschernobyl«.

Auch die christlichen Glaubensgemeinschaften wurden immer wacher, was nicht nur die entschiedenen Äußerungen des Kardinals Höffner bewiesen.  wikipedia  Joseph_Höffner (1906-1987)

Meinen persönlichen Protest und die Argumente, die ich schon im Deutschen Bundestag viele Male vorgetragen hatte, faßte ich nach Tschernobyl in dem Buch <Der atomare Selbstmord> zusammen, zu dem mich der Herbig-Verlag in München ermuntert hatte, wobei ich den Titel keineswegs als Übertreibung betrachte. Die Plutoniumwirtschaft wird die Welt auch ohne Atomkrieg zugrunde richten.

War die Mitgliederzahl unserer Partei bis zum Frühjahr 1986 rückläufig gewesen, so nahm sie seitdem kontinuierlich zu. Vor allem der bayerische Landes­verband verstärkte sich vor und nach der Landtagswahl vom 12. Oktober 1986.

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Aber die 36.000 Wähler genügten wieder nicht für eine Erstattung der Wahlkampfkosten. Wie uns schon die Europa-Wahl 1984 an den Rand der Existenz gebracht hatte, so standen wir erneut vor leeren Kassen, und das drei Monate vor der Bundestagswahl. Doch als die süddeutschen Landesverbände ihre jeweils nötigen 2000 Unterschriften schnell aufgebracht hatten, verstärkten auch unsere Freunde in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen ihre Bemühungen mit Erfolg. Die Wendigkeit einer kleinen Partei­organisation erlaubte es, in wenigen Wochen ein Wahlprogramm und ein Flugblatt zu entwerfen, zu drucken und zu verteilen. Viele wachgerüttelte Bürger halfen uns dabei, aber auch die Parteibeitritte nahmen weiter zu.

Anfang Dezember hatte mich Franz Alt angerufen: Die ARD-Konferenz habe nach wochenlangem Tauziehen endgültig beschlossen, am 5. Januar die kleinen Parteien in einer Sendung vorzustellen, und er selbst werde die ÖDP präsentieren. Unser Wagnis, eine Woche vor Weihnachten eine eindrucksvolle Kundgebung in Landshut zu organisieren, gelang. Die Resonanz auf die Fernsehsendung und auf unseren viermal gesendeten Wahlspot war phänomenal. Über 6000 Anfragen nach näheren Informationen liefen allein in Bonn ein und wurden von unseren Helfern prompt bedient. 1.200.000 Flugblätter konnten neben anderem Material aus den einlaufenden Spenden bezahlt werden. Mit 109.152 Wählern erreichten wir zwar wieder keine Erstattung der Wahlkampfkosten, doch die Welle der Zustimmung schwoll weiter an. Die Zahl der Eintritte stabilisierte sich bei 200 im Monat. Damit könnten wir in einem Jahr über die Schwelle springen, die schon zehn Jahre früher genommen werden sollte. 

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Die etablierten Parteien haben die Bedingungen hochgeschraubt, um unter sich zu bleiben. Im Grunde sind von einer neuen Partei drei Hindernisse zu überwinden.

Davon ist nur das letzte, die Fünf-Prozent-Sperre deutlich sichtbar. Davor liegt noch die Hürde, daß die kleinen Parteien bei den Wahlgeldern leer ausgehen, während die großen immer fetter werden. Die weitere Hürde ist psychologischer Art. Der Wähler meint, eine »verlorene Stimme« abgegeben zu haben, wenn die von ihm gewählte Partei keine Sitze im Parlament bekommt. Es ist ihm schwer klarzumachen, daß sein sichtbarer Protest viel wirksamer ist als das Verschwinden in der Masse der Mitläufer zu einem bösen Ende.

So bleiben politökonomische Gangsterbanden in allen Breitengraden des Planeten geschäftig, die Natur zugunsten ihrer kurzfristigen Gewinne zu vermarkten. Und der Wähler, soweit er überhaupt die Wahl hat, bestärkt sie mit seiner Stimme in ihrem makabren Geschäft. Er wählt unverdrossen das »kleinere Übel«, ohne zu merken, daß gerade dies das größte Übel ist.

 

Wer das 20. Jahrhundert erlebt hat, noch dazu als Deutscher, der ist Zeuge zweier historischer Großaktionen geworden. In meiner Jugend war es der National­sozialismus, der ein <Drittes Reich> für 1000 Jahre begründen wollte, welches dann schon nach zwölf Jahren in Schutt und Asche versank. Die Diskussion über die Frage, wie denn ein solcher Größenwahn die Massen mitreißen konnte, produziert noch heute Gebirge beschriebenen Papiers. 

Und das — die Ironie der Geschichte scheint es so zu fügen —, während gleichzeitig die Massen längst einer Lehre nachlaufen, die noch ein gutes Stück törichter ist als die damalige, nämlich der Lehre vom »ständigen wirtschaftlichen Wachstum«. Törichter schon aus dem Grund, weil sich die Haltlosigkeit einer solchen Theorie naturwissenschaftlich nachweisen läßt. Und sie ist unvergleichlich verhängnisvoller, weil sie endgültige Zwangs­lagen herbeiführt, die nachträglich nicht mehr korrigierbar sind. Schon darum nicht, weil diesmal die ganze Menschheit von dieser totalitären Ideologie süchtig geworden ist.

»Wenn aber die ganze Welt verrückt ist, wer will sie dann umkehren?«, so lautet eine Laotse zugeschriebene Weisheit. Nirgends existiert eine Macht, welche die internationale Irrlehre, der inzwischen auch Rot-China erlegen ist, besiegen könnte. Sie kann daher — wenn überhaupt — nur von innen heraus überwunden werden, und da wissen wir Deutschen aus eigener Erfahrung, daß solches schwerlich gelingt. Bisher erwies sich der erbitterte Kampf gegen das »wirtschaftliche Wachstum« als ebenso aussichtslos wie der von Widerstands­kämpfern gegen Hitler — mit dem durchaus eingestandenen Unterschied, daß wir unser Leben nicht aufs Spiel zu setzen brauchten. Andererseits sind wir wenigen heute verdammt, zuzusehen, wie sich die Befürchtungen Stück um Stück erfüllen, während sie 1945 in einer einmaligen Nieder­lage ihren schnellen Abschluß fanden.

Die bisherigen großen Kontroversen der Menschheit, wovon die letzte, die zwischen Sozialismus und Kapitalismus, noch anhält, sind im Begriff, von einer entscheidenden Kontroverse abgelöst zu werden: dem beginnenden Kampf zwischen den Zerstörern und den Bewahrern unserer Erde. Die Zerstörer behaupten immer noch, sie müßten für den »Fortschritt« über Leichen gehen. Das ist im Westen nicht anders als im Osten. Doch die technizistische Denkweise, welche an die Machbarkeit aller Dinge glaubt, erweist sich jetzt als wirklichkeitsfremde Hybris. Der »Mythos der Maschine«, der modernen Göttin des demokratischen Westens wie des kommun­istischen Ostens, die den Menschen in ihren Bann geschlagen hat, ist jetzt zu entlarven; denn sie versklavt nicht nur den Menschen radikaler, als das je eine Religion vermochte, sie verlangt auch die Opferung der Natur insgesamt.

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   Bestätigungen   

Von allen Wissenschaften hat in den letzten zwei Jahrzehnten keine derart viele neue Ergebnisse vorgelegt wie die natur­wissen­schaftliche Ökologie. Sie fördert unablässig neue Verzweigungen in der vernetzten Welt der Lebewesen zutage, womit die Vielzahl der Komponenten, die gerade auch der Mensch für sein Leben nötig hat, unfaßbare Größen­ordnungen erlangt. Mit Hilfe des Rasterelektronen­mikroskops, das hunderttausendfach vergrößert, gelingt es, immer tiefer in die Strukturen der Lebewesen einzudringen und die gegenseitigen Abhängig­keiten aufzudecken. 

Wir werden zwar nie erkunden, was die Welt »im Innersten zusammenhält«, aber wir besitzen erdrückende Beweise darüber, wie gefährdet die Lebens­gemein­schaften der Pflanzen-, Tier- und Mikrowelt sind. Es kostet große Anstrengung, um nur die wesentlichsten Ergebnisse aus der Fülle der Einzelheiten herauszufiltern und damit ein Weltbild zu gewinnen, das mit den neuesten Forschungsergebnissen Schritt hält. 

Selbst die hektischen Jahre von 1975 bis 1980 haben meine Bemühungen nicht unterbrochen, weitere Erkenntnisse zu verarbeiten und die Entwicklung weltweit zu beobachten. Ich trug mich ohnehin mit dem Plan, die Konsequenzen meines ersten Buches in einem zweiten darzulegen, wofür mir nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag genügend Muße zur Verfügung stand. Dabei bin ich auf überraschende Vordenker gestoßen.

Vier Wochen nach Erscheinen von <Ein Planet wird geplündert>, am 22. Oktober 1975, veröffentlichte der <Observer> einen Artikel des britischen Welthistorikers Arnold Toynbee mit der Überschrift <Nach dem Überflußzeitalter>. Darin heißt es unter anderem: 

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»In den sogenannten <entwickelten> Religionen — Europa, Nordamerika, der Sowjetunion und Japan — wird es kein <Wachstum> mehr geben. Noch mehr: Die Entwicklung wird sogar umgekehrt verlaufen. Ein ständiges wirtschaftliches Wachstum wird zukünftig durch die fortwährende wirtschaftliche Rezession ersetzt. Wie werden die Industrieländer auf diese gewaltige Herausforderung reagieren ?... Diese Völker werden erfahren, daß sie sich in einem permanenten Belagerungszustand befinden, in dem die materiellen Lebens­bedingungen so bescheiden wie während der beiden Weltkriege sein werden. Die bescheidene Lebensweise während der Kriege war vorübergehend, die zukünftige indes wird von Dauer und zunehmend ernster sein. Was geschieht dann? 

Wenn die <entwickelten> Völker durch die Ereignisse gezwungen werden, die unerbittlichen neuen Tatsachen anzuerkennen, werden sie sich zunächst durch unnützen Widerstand selbst Schaden zufügen. Und da sie weder die <unterentwickelten> Völker noch die Natur unter ihre Gewalt zu bringen vermögen, werden sich die Menschen in den <entwickelten> Ländern untereinander attackieren: In jedem der belagerten <entwickelten> Länder wird man bitter um die verminderten Ressourcen ringen. Damit wird eine bereits schlechte Wirtschaftslage lediglich verschlimmert, so daß dem irgendwie Einhalt geboten werden muß. Ließe man den Dingen freien Lauf, würde dies zur Anarchie und einer drastischen Minderung der Bevölkerung, zu Hungersnot und Seuchen, den historischen Bevölkerungs-<Killern>, führen...« 

Doch Toynbee verkündet auch den überraschend positiven Aspekt einer solchen Entwicklung: 

»Eine Gesell­schaft, die sich materiell beugt, kann sich geistig aufrichten ... Der Verlust unseres Überflusses wird außerordentlich unbequem sein, und es wird uns gewiß schwerfallen, damit fertig zu werden. Aber irgendwie mag das <Glück im Unglück> bedeuten, falls wir uns dieser ernsten Lage gewachsen zeigen.«

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Diese »ernste Lage« ist bis heute noch nicht eingetreten. Sie hat sich unter anderem dadurch verzögert, weil die in »Entwicklung« befindlichen Länder eine derartige Bevölkerungsexplosion erleben, daß sie zum Verschleudern ihrer Rohstoffe zu niedrigen Preisen gezwungen sind, damit ihre anschwellenden Menschen­massen notdürftig ihr Leben fristen können. Das heißt aber im Klartext, daß die Plünderung unseres Planeten zu Billigstpreisen, auf Kosten der Zukunft fröhlich weitergeht. Und was die verheerenden psychischen Folgen in den reichen Völkern der Erde betrifft, so hat schon Winston Churchill das Verdienst, im Jahre 1932 auf die Tatsache zunehmender Unzufriedenheit gerade unter denjenigen, die im Wohlstand leben, hellsichtig hingewiesen zu haben.

Aus Amerika schickte mir der an der Louisiana State University lehrende Ökonom Herman Daly ein für den Kongreß der Vereinigten Staaten angefertigtes Gutachten und später seine Bücher. Darin erfüllt er längst fällige Erwartungen. Erstens ordnet er die Ökonomie den Bedingungen unter, die auf diesem Planeten unweigerlich vorgegeben sind. Zweitens begreift er die Ökonomie als Mittel zu einem Zweck, der niemals in ihr selbst liegen kann. Drittens stellt er all unser Tun unter einen metaphysischen SINN.

 

Lewis Mumford, ein ebenfalls in den USA lehrender, umfassend gebildeter Soziologe, hatte den Irrweg der technischen Zivilisation schon in den sechziger Jahren aufgedeckt. Sein Buch, <Der Mythos der Maschine>, fiel mir erst 1978 in die Hände. Er beschreibt die Entstehungs­geschichte und das gegenwärtige Endstadium unseres technischen Zeitalters und hegt die hoffnungs­volle Erwartung auf einen Sieg der Ideen, die statt den Maschinen dem Leben dienen. Doch auch er läßt offen, ob die Zeitgenossen jemals bereit sein werden, die Mühen und Opfer auf sich zu nehmen, die für solch eine ganzheitliche Erneuerung erforderlich sind.

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Von der Psychologie des Menschen her untermauert Erich Fromm die neue Weltsicht. Auf sein Buch <Haben oder Sein> habe ich mich in meinen Vorträgen ebenso oft berufen wie auf Mumfords Werk. Zweieinhalb Jahre vor seinem Tode konnte ich noch den bereits kränkelnden Erich Fromm in Locarno besuchen. — Leider weilt auch E.F. Schumacher nicht mehr unter den Lebenden, den ich 1975 auf der Burg Ludwigstein persönlich kennenlernte. Des weiteren beeindruckten mich die Alterswerke von Günther Anders und Hans Jonas.

Oft habe ich mich gefragt, warum unter den Wissenschaftlern, die uns neue Erkenntnisse über den Menschen und seine Geschichte eröffnet haben, so ungewöhnlich viele jüdischer Herkunft sind. Meine Erklärung lautet: Kein Volk hat so wie das jüdische über Jahrtausende hinweg wieder und wieder die schlimmsten Verfolgungen erdulden, die schwersten Leiden über sich ergehen lassen müssen. Solche unablässigen Schicksalsschläge führen entweder zur Vernichtung oder zur Abhärtung des Körpers und Schärfung des Geistes. Wie jüdische Geistigkeit an den Erfindungen der Neuzeit ausgiebig beteiligt war, so ist sie nun auch sensibler für die heraufkommenden Gefahren als die derjenigen Völker, welchen nicht im entferntesten die Prüfungen auferlegt gewesen sind wie jenen um den Erdball gehetzten ewigen Juden. Hier ist der ausgewählte und kumulierte Scharfsinn der Jahrtausende am Werke — und es kann nicht überraschen, wenn dieser anderen Völkern oft unheimlich geworden ist.

 

Vor dem Ende des zweiten Jahrtausends hat also nicht nur der technische Fortschritt an Geschwindigkeit zugenommen, sondern auch dessen Entzauberung. Angesichts der Bedrohungen unterzieht man sich zunehmend der Mühe, nicht nur die Gewinne, sondern auch die Verluste zu bilanzieren. Dabei ergibt sich die schlichte Tatsache, daß die Einführung vieler Produkte mit so viel Kosten verbunden ist, daß sie sich nicht einmal ökonomisch rentieren.

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Dafür ein Beispiel, das jeder kennt. Das Fahrrad konnte die Geschwindigkeit der Fortbewegung auf das Dreifache mit einem unwahrscheinlich geringen Aufwand an Rohstoffen erhöhen; die Antriebsenergie liefert der radelnde Mensch selbst. Das Auto hat zwar die Geschwindigkeit der Fortbewegung nochmals um das Sechsfache erhöht, es erfordert aber schon für seine Produktion einen phantastischen Aufwand an Rohstoffen, Energie und menschlicher Arbeitskraft. Um einen Menschen vorwärts zu bewegen, muß das Zehnfache seines Körpergewichts mit entsprechender Fremdenergie transportiert werden. Ökonomisch ist das auf keinen Fall! 

Dies kann schon damit bewiesen werden, daß jeder Sechste in unserer gegenwärtigen Volkswirtschaft in den Branchen tätig ist, die durch den Autoverkehr erforderlich geworden sind. Nimmt man aber die ökologische Bilanz hinzu, dann sind allein in der Bundesrepublik Deutschland jährlich um fünf Millionen Tonnen Kohlenmonoxyde, eineinhalb Millionen Tonnen Stickoxyde und eine halbe Million Tonnen organische Verbindungen als rote Zahlen zu verbuchen, die nicht nur zum Waldsterben führen.

Der Mensch selbst wird vom Krebs und anderen Krankheiten befallen und opfert dem Verkehr direkt über zehntausend Tote und das Vielfache an Verletzten. Bezieht man auch noch die psychischen Belastungen aller Menschen ein, die sich durch Lärm, Streß, vergiftete Luft und das Städte und Landschaften zerstörende Straßennetz ergeben, dann schließt die Gesamtbilanz des Kraftfahrzeugs mit einem erschreckend negativen Endergebnis.  

Aber nicht nur das hier angeführte Auto, sondern unzählige Produkte dessen, was die Menschen den »Fortschritt« zu nennen belieben, münden in eine ökonomisch-ökologisch-psychologische Negativbilanz. 

Aus den beliebig vermehrbaren Beispielen muß gefolgert werden: Es ist ein Grundgesetz dieser Welt, daß positive Entwicklungen bei ihrer Übertreibung ins Negative umschlagen.

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Somit erweist sich der vielgepriesene »Fortschritt«, sobald er unter die Lupe genommen wird, zu großen Teilen als fauler Zauber. Diese Überlegungen führen uns aber zu einem positiven Ergebnis: Würden wir den materiellen Aufwand einschränken, dann hätte das für unser Leben weit geringere Auswirkungen als vermutet. Nur solange wir lediglich Gewinne bilanzieren, Verluste aber wegradieren, bleibt der »Fortschritt« positiv. In unzähligen Bereichen sind aber heute die Verluste weit größer als die wahren Gewinne.

Ich leite daraus ein irdisches Grundgesetz ab, das besagt: Alle Vorteile in dieser Welt müssen unvermeidlich mit Nachteilen erkauft werden — man muß letztere nur suchen, zumal, wenn sie erst zu späteren Zeiten oder auch an entfernten Orten sichtbar werden. In dieser Erkenntnis liegt eine positive Botschaft meiner Lehre! Aber es gibt noch eine zweite: Die irdischen Gleichgewichte sind so beschaffen, daß der Überfluß ebenso schwere Probleme mit sich bringt wie der Mangel — und daß zunehmender Überfluß schließlich genauso in Katastrophen führt wie endloser Mangel. 

Der Rückzug aus dem, was wir heute »Wohlstand« nennen, wird keineswegs von den Schrecken begleitet sein, die von den Pessimisten an die Wand gemalt werden. Das ist der überraschende Trost, den uns die Lehre vom »irdischen Gleichgewicht« bereitstellt. Die Schlußfolgerung ergibt sogar: Der Mensch gedeiht in mäßiger Not besser als im übermäßigen Wohlstand. Er braucht Erschwernisse und Prüfungen in seinem Dasein, weil gerade ihre erfolgreiche Bewältigung Glück und Zufriedenheit schafft. Eine weitere Bestätigung dafür fand ich später in den Worten des amerikanischen Schriftstellers Thomas Wolfe:

»Das Leben ist selbst mit Kummer und Qual gut. Ein Leben ohne Mühsal, Gram und Härte kommt in guten Zeiten allgemeiner Wohlfahrt einem wertlosen, langweiligen, uninteressanten Leben gleich. Nur ein Leben, das alles einschließt, gute und schlechte Zeiten, Leid sowohl als auch Glück, ist reich und lebenswert.«

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Es scheint aber, daß eine durch Wohlstand verwöhnte, gleichsam drogensüchtige Gesellschaft eine solche Lehre nicht annehmen wird, wie der Süchtige auf die berauschende Wirkung der Droge nicht verzichten will.

Das Fatale ist: In jeder Epoche wähnen die Menschen des jeweiligen Kulturkreises, daß die Geschichte nur in der ihnen geläufigen Weise weitergehen könne. Sie halten es für undenkbar, daß die Verhältnisse sich umkehren und — die Geschichte dennoch weitergeht! Hätte ein Deutscher im Jahre 1945 vorausgesagt, daß 40 Jahre später auf zwei Einwohner ein Auto kommen würde, daß Getreide, Zucker, Butter und Wein in lästigem Überfluß vorhanden sein würden — er wäre für verrückt erklärt worden! Umgekehrt können sich die Wohlstandsbürger von heute nicht vorstellen, daß in einer Epoche höchster Not und Armut, wie wir sie bei Kriegsende und danach hatten, das Leben dennoch weiterläuft — ja, daß eine solche Zeit sogar Vorzüge aufzuweisen hat!

Schon in der Einleitung zu <Ein Planet wird geplündert> habe ich zwölf Irrtümer aufgeführt, die offenbar auch weiterhin die Hirne vernebeln. Doch unter denjenigen, die meine Sicht der Dinge akzeptierten — und das waren so wenige nicht —, schienen viele zu glauben, daß der Menschheit schon für den Fall das Ende bevorstünde, wenn der materielle und quantitative »Fortschritt« abgeschnitten sei. Welch weiterer Irrtum!

Die heutige Mehrheit ist der Meinung, entweder geht alles glatt weiter wie bisher oder, wenn das nicht läuft, dann sei die Total­katastrophe unvermeidlich. So faßten eben die meisten die Verkündung der »Grenzen des Wachstums« als Welt­unter­gangs­prophetie auf, weil sie sich gar keine andere Lebensweise vorstellen können als die derzeitige.

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Für den historisch Denkenden ist dagegen eine solche Auffassung schlichtweg lächerlich, denn diese Einschätzung orientiert sich an falschen Daten. Ich halte es mit dem britischen Sozial­reformer Robert Owen, der schon im vorigen Jahrhundert äußerte: 

»Sollte es sich erweisen, daß manche Ursachen des Übels durch die neuen Kräfte, die der Mensch zu erwerben im Begriff ist, nicht zu beseitigen sind, dann wird er erkennen, daß es sich um zwangsläufige und unvermeidliche Übelstände handelt, und dann werden kindische und nutzlose Klagen eingestellt werden.« 

Inzwischen wird immer deutlicher, daß in unserer irdischen Welt die »zwangsläufigen« und »unvermeidlichen« Übelstände hingenommen werden müssen, denn sie gehören genau wie segensreiche Tatbestände zu den Lebensbedingungen. Aber werde das die Menschen je in ausreichendem Maße begreifen? 

Nur wer den Ausweg aus der Krise in der Verstärkung der Anstrengungen in der bisherigen Richtung sieht, hätte Grund zu verzweifeln, denn damit würden eben die größten Katastrophen unausweichlich. Der Ausweg aus einer Sackgasse liegt nicht im Niederwalzen aller Mauern. Allerdings hoffen die Fanatiker des Fortschritts immer noch, die Welt durch »bessere«, »effektivere« und »schnellere« Maßnahmen der von ihnen erdachten Bestimmung zuzuführen. Doch die von Menschen ersonnenen Pläne und Taten werden unsere irdische Welt nie einem ausgeklügelten »endgültigen« Zustand näher bringen.

Denn Täter werden nie den Himmel zwingen; 
Was sie vereinen, wird sich wieder spalten, 
Was sie erneuern, über Nacht veralten, 
Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.

So beurteilt der Dichter Reinhold Schneider von einer höheren Warte die rührend naiven menschlichen Bemühungen. Dennoch versuchen Wissen­schaftler und Politiker ihre babylonischen Türme immer riskanter zu bauen.

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Und es ist schon makaber, wie die lebenden Generationen für ihre Turmbauten die Erde so lange ausplündern, bis den Nachkommen nur noch die Wüste übrigbleibt. Und kein Gott fährt hernieder, sie daran zu hindern.

Das Ergebnis dieser weiteren Überlegungen schrieb ich in dem Buch <Das irdische Gleichgewicht> mit dem Untertitel <Ökologie unseres Daseins> nieder. Zu meiner Überraschung ergab sich beim S. Fischer Verlag, obwohl selbst derzeit noch jeden Monat mehrere hundert Taschenbücher von <Ein Planet wird geplündert> nachgefragt werden, ein langwieriges Gezerre um mein zweites Manuskript. 

Es schienen wohl bestimmte Vorstellungen zu bestehen, was ich zu schreiben habe. So bat ich um Auflösung des Vertrages, und Hans Erb nahm das Buch in seinen Verlag, den er schon als Geschäftsführer des Ullstein-Taschenbuch-Verlages gegründet hatte. Ich fühlte mich ihm doppelt verbunden, weil er sich aufgrund der Selbständigkeit seines Denkens und Handelns ebenfalls einen schweren Kampf aufgebürdet hatte. Als er auch noch mit einem gefährlichen Tumor ringen mußte, blieb der Tod am 5. Dezember 1985 Sieger.

Beim Quellenstudium zum <Irdischen Gleichgewicht> entstand eine Sammlung ökologischer Texte früherer Denker und Dichter. Diese <Zeugnisse ökologischer Weltsicht aus vier Jahrtausenden> veröffentlichten wir 1984 unter dem Titel <Glücklich werden die sein...>, der einer Tagebuchaufzeichnung Leonardo da Vincis entlehnt ist, die vollständig so lautet: »Glücklich werden die sein, die den Worten der Toten Gehör schenken, gute Werke lesen und beachten.«

Darin ist auch meine erste Rede im Deutschen Bundestag enthalten. Die Sammlung schließt mit einer aktuellen Betrachtung: <Unsere Erde vor dem Jahr 2000>. Darin habe ich unsere welthistorische Situation aus meiner Sicht, die Jahr für Jahr neue Bestätigungen erfährt, zusammengefaßt.

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   Letzte Fragen  

Seit der Mensch zu denken anfing, begann er auch zu irren. Darum ist die Weltgeschichte zugleich das Schlachtfeld seiner Irrtümer. Doch die Folgen der Irrtümer blieben in all den früheren Jahrtausenden begrenzt; die Zerstörungen beschränkten sich auf einige Landstriche und waren selbst dort nie total. Seine Utopien verlegte der Mensch bevorzugt ins Jenseits. Die Weltgeschichte ist voll von religiösen Lehren, die sich oft gegenseitig blutig bekriegt haben. Dieses Jahrhundert war dagegen beherrscht von materiellen Illusionen und den Großversuchen zu ihrer Verwirklichung.

Wenn es auch die meisten immer noch nicht aufgegeben haben, ein Paradies auf dieser Erde einzurichten, so leben wir doch schon in den Jahren gründlicher Desillusionierung. Es werden allerdings immer genügend da sein, die selbst Gott spielen wollen, auch Nobelpreisträger befinden sich darunter. Mit der Menge der Fachwissenschaftler nimmt die Zahl derer zu, die mit ihrem eng begrenzten Horizont den Menschen vorgaukeln, die Welt in Ordnung bringen zu können. Und die große Masse vertraut den »Spezialisten«, weil sie in der Sache nicht folgen kann, und man sagt ihr ja auch immerzu, daß sie gar nicht mitreden kann: in der Kernspaltung, in der Kernfusion, in der Gentechnologie, um nur die unheilträchtigsten Abenteuer zu nennen. Doch es gibt bereits unzählige Bereiche, in deren Materie nur wenige Bescheid wissen, so daß diese alle übrigen auch leicht täuschen können.

Immerzu wurde mir in diesen Jahren die Frage gestellt: »Was sollen wir tun?«  

Das Fatale daran ist: Die technokratischen Zeitgenossen erwarten technologische Antworten, keine ökologischen. Sie wünschen einen möglichst perfekten »Plan« zur Rettung der ganzen Welt, während uns doch gerade die großartigen Pläneschmiede in die Sackgasse geführt haben, in der wir uns nun gefangen sehen!

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Dennoch erhofft sich die Masse der Verführten immer noch Durchbrüche nach vorn! Sie hält es immer noch für »fortschrittlich«, im Wettrennen zum Abgrund zu siegen — während doch die Rettungschance nur darin besteht, einfach stehen zu bleiben!

Historische Erfahrungen beweisen, daß es offensichtlich nicht genügt, die Illusionen zu entlarven, von denen die Völker so betört sind, daß sie blindlings zu einem apokalyptischen Ende drängen. Die Vernunft richtet so wenig aus, daß die Menschen sogar zur Wahrheit noch »verführt« werden müssen. 

Vielleicht bekommt die grimmige Wahrheit dann ihre Chance, wenn alle anderen Auswege blockiert sind. Die opportunistischen Politiker werden allerdings auch dann noch Schlupflöcher in Aussicht stellen, und die Menge wird ihnen lieber in die Falle folgen, statt den letzten offenen Ausweg zu wählen, wenn der ihr unbequem erscheint. Bisher ist es jedenfalls nicht gelungen, die Menschen zu überreden, zunächst einmal für ihr Überleben zu sorgen.

Wenn wir nur die falschen Ziele aufgeben und die Gefahren wenigstens umschiffen würden, statt geradewegs in diese hinein­zusteuern, dann wäre schon viel gewonnen. Darum sind jetzt Warner nötiger denn je, wenn auch Kassandrarufe die Geschehnisse nur begleitet, doch kaum jemals gewendet haben. 

Die Marktschreier aber lärmen und bieten neue Utopien alter Machart an. Die Karawane lechzt nach »Lösungen«. Und sie werden angeboten von den Unzähligen, die wieder einmal »die Wahrheit« gefunden haben wollen. Doch: »Der Mensch ist so lange weise, als er die Wahrheit sucht, wenn er sie aber gefunden haben will, wird er ein Narr.« Das wußte ein Paul Winkler schon 1685. So muß jeder tiefsinnige Betrachter darüber lächeln, wenn immer wieder ein endgültiger Zustand der Welt angekündigt wird. Auch der Dichter weiß es besser: »Wir ordnens. Es zerfällt. Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.« (Rilke)

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Der menschliche Geist bleibt rastlos, er denkt sich immerzu Neues aus. Hinter den Erscheinungen sucht er nach dem Sinn, wenngleich er ihm in den Jahr­tausenden, aus denen Schriftliches vorliegt, nicht nähergekommen ist. Nach wie vor gilt, was das Gilgamesch-Epos, das älteste, welches uns überliefert ist, schon vor viertausend Jahren aussprach: »Gilgamesch, wohin läufst du? Das Leben, das du suchst, wirst du sicher nicht finden!« Das heißt letzten Endes: Die sterblichen Menschen werden zu keiner Gewißheit gelangen, sie werden stets erneute Fragen aufwerfen, solange sie diesen Planeten bewohnen.

Eine Frage, die mir auch immer wieder gestellt wird, lautet: Liegt es nicht im Wesen des Menschen, daß er stets vorwärtsdrängt? 

Der Mensch ist sicherlich ein Wesen, das von einer metaphysischen Unzufriedenheit umgetrieben wird. Diese veranlaßte ihn, unablässig über den Sinn der Welt und des Lebens zu grübeln. Entwürfe religiöser Verehrung und künstlerischer Gestaltung hoben den Menschen über sich hinaus. Erst in den letzten zwei Jahrhunderten schlug die metaphysische Unzufriedenheit in materielle Ungenügsamkeit um. Von Europa ausgehend infizierte die neue Sucht die Völker.

Der Menschen Streben geht seitdem nicht mehr dahin, das Jenseits zu suchen, sondern sich im Diesseits immer bequemer einzurichten, was eben die Technik jetzt möglich macht. Der Mensch wurde zum Macher und wähnte, auch Herrscher der Welt zu sein. Zwar zog sich durch die Menschheits­geschichte längst eine Kette symbolischer Höhepunkte titanischer Hybris: der Biß in den Apfel der Erkenntnis, der Turmbau zu Babel, das Feuer des Prometheus. Doch alle diese Taten zogen die Strafe eines Gottes nach sich. Seit der Erfindung des Schießpulvers, des Motors, der Elektrizität eskalierte das Tun der Menschen in vier Jahrzehnten zur Atomspaltung und zur Genmanipulation. Da Gott schweigt, bleibt als Regulativ des entfesselten Menschen nur noch die Selbst­zerstörung.

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Die sich überschlagenden Ereignisse bekommen nun eine apokalyptische Dimension. Aus seinen irdischen Grenzen wollte der Mensch seit jeher ausbrechen, in eine metaphysische Idealwelt vorstoßen, ja unsterblich sein. Nun steht er an der Pforte eines metaphysischen Schicksals, das er sich allzeit ersehnte, weil er sich mit dem irdischen nicht begnügen mochte — und wird erschreckend gewahr, daß sein Vorstoß ins Metaphysische auch das Ende seines natürlichen Lebens bedeuten kann. Das läßt sich auch mythologisch auffassen: Noch nie hat sich ein sterbliches Wesen die Rolle eines allmächtigen Gottes ungestraft angemaßt! So gesehen wären wir heute die lebenden Zeugen einer Rebellion, wie sie schon dem biblischen Erzengel Luzifer zugeschrieben wurde.

Der neuzeitliche Mensch erscheint als schwerbewaffneter Revolutionär in der Entwicklungsgeschichte des Lebens. Und Revolutionäre haben noch nie das Leben geschont, weder fremdes noch eigenes. Der revoltierende Mensch verfügt inzwischen über derart gewaltige Machtmittel, daß er die fast 4000 Millionen Jahre andauernde evolutive Entfaltung des Lebens auf unserer einzigartigen Erde kurzerhand abbrechen kann.

Kann es aus unserer derzeitigen Weltsituation einen Weg zurück in den Stand der Unschuld geben? Friedrich Nietzsche hat diese Frage erwogen. 

»Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei? Weil sie die Menschen unglücklicher machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten mehr Glück: täuschen wir uns nicht! — Sondern unser Trieb zur Erkenntnis ist zu stark, als daß wir noch das Glück ohne Erkenntnis oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! 

Die Unruhe des Entdeckens und Erratens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde — ja, vielleicht sind wir auch unglücklich Liebende! Die Erkenntnis hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen; wir glauben aufrichtig, daß die gesamte Menschheit unter dem Drange und Leiden dieser Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müßte als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden hat. 

Vielleicht selbst, daß die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntnis zugrunde geht! — auch dieser Gedanke vermag Nichts über uns! Hat sich denn das Christentum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut? Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister? Ja, wir hassen die Barbarei — wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntnis! Und zuletzt: wenn die Menschheit nicht an einer Leidenschaft zu Grunde geht, so wird sie an einer Schwäche zu Grunde gehen: was will man lieber? Dies ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande?« 

So geschrieben im Jahre 1881. Ich sehe nun jedoch den entscheidenden Unterschied zwischen der Erkenntnis und ihrer materiellen Anwendung. Könnte uns die Erkenntnis vielleicht auch darüber belehren, was wir nicht tun dürfen, obwohl wir dazu in der Lage wären? Könnten wir zu einem weisen Verzicht fähig werden? Müssen wir mit all unseren Kräften weiter daran arbeiten, sogar schwer arbeiten, um die nun möglich gewordene Selbstvernichtung so schnell es nur geht herbeizuführen? Das »müssen« wir offensichtlich nicht! Es ist zwar — in langen Zeiträumen gedacht — so gut wie sicher, daß unser Planet einmal ohne Menschen, ja sogar ohne jedes Lebewesen seine Bahn ziehen wird.

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Das Unbegreifliche am Verhalten des derzeitigen Menschen ist jedoch, daß jeder Beitrag zur Plünderung unserer Lebensgrundlagen immer noch als verdienst­voll gilt, ja bejubelt wird. Denn nicht nur die atomare Vernichtung bedroht das Leben, schon die ganz normale friedliche Arbeit von Milliarden Menschen, so wie sie heute üblich ist, wird unsere Erde in eine Wüste umwandeln. Das primäre politische Ziel ist es immer noch, für eine exponentiell zunehmende Zahl von Erdenbewohnern »Arbeitsplätze zu schaffen«. Die Natur soll weichen, Hunderttausende von Arten, ohne die das ökologische System des Planeten nicht mehr lebensfähig ist, werden in zwanzig Jahren ausgerottet sein. Dann werden die Lebensplätze des Menschen, nicht nur seine Arbeitsplätze, verloren sein.

Wie soll sich die Natur eines Geschöpfes erwehren, welches sämtliche übrigen Wesen unterjocht und ausrottet, seine eigene Art aber maßlos vermehrt? Der atomare Holocaust würde sich nicht nur gegen Menschen richten, weil an der Strahlung alle Lebewesen zugrunde gehen. Man sieht, der Mensch ist viel brutaler als die Natur; denn er hat keine Hemmungen, die anderen Arten in seinen Untergang hineinzureißen. Die Natur »denkt« nicht mit dem Bewußtsein, welches der Mensch hat; aber sie hat ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten. Was sich nicht in Millennien bewährt hat, wird wieder ausgemerzt. Darin muß die Natur, um ihren Fortbestand insgesamt zu sichern, unerbittlich bleiben. Welch verborgene Zusammenhänge es auch immer sein mögen, das Arsenal der Natur gegen die außer Rand und Band geratene Vermehrung der Menschen ist noch nicht ausgeschöpft; derzeit erscheint Aids auf dem Kampfplatz. Anpassen oder zugrunde gehen! So lautet das ökologische Ultimatum, welches dem Menschen von der Natur gestellt ist.

In jeder Art seid ihr verloren —
Die Elemente sind mit uns verschworen,
Und auf Vernichtung läuft's hinaus.

Dieses Fazit läßt Goethe am Ende seiner Faust-Tragödie durch den Mund Mephistos ziehen. 

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Im jetzt zu Ende gehenden zweiten Jahrtausend nach Christi Geburt geht es nicht mehr darum, mehr oder weniger »besser« zu leben, sondern zu überleben. Da die Welt noch niemals in solch schwindelige Höhen eskalierte wie in diesem Jahrhundert, steht ihr auch ein tieferer Sturz bevor. Das ist das Gesetz der Geschichte, vor dem sich die meisten fürchten, weil sie nicht wissen, daß gerade die Not neue Chancen birgt.

Das Überleben ist nicht immer und überall der höchste Wert. Der Natur ist das einzelne Geschöpf gleichgültig, und auch das Verschwinden einer Gattung berührt sie nicht sonderlich.

Wie die Natur die Wesen überläßt
dem Wagnis ihrer dumpfen Lust und keins
besonders schützt in Scholle und Geäst:
so sind auch wir dem Urgrund unseres Seins nicht weiter lieb; 
er wagt uns. 
(Rilke)

Das einzelne Lebewesen kann geopfert werden oder opfert sich auch hier und da selbst. Doch nur so lange, wie alle Voraus­setzungen des Lebens erhalten bleiben, kann weiteres Geschehen, das wir Menschen hinterher Geschichte nennen, stattfinden. Und nur so lange, wie unsere Gattung am Leben bleibt, können wir auch eine kulturelle Erbschaft weitergeben, über Inhalte unseres Daseins streiten und Werte setzen. In der Wiederholung vollzieht sich der Fortgang der Geschichte. Ein letztes Ziel ist nicht auszumachen.

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  Versöhnter Rückblick  

Ich darf wohl, wenn auch mein Lebensweg noch nicht beendet ist, schon feststellen, daß er eine Bahn genommen hat, die mir nicht an der Wiege gesungen wurde: aus dem engen Horizont des Dorfes in den weiten des Planeten mit gelegentlichen Ausblicken in die Unendlichkeit. Man könnte zu der Meinung kommen, hier sei eine weise lenkende Führung am Werk gewesen. Ich müßte jedoch schildern, welch lächerliche Gering­fügigkeiten des öfteren über Leben und Tod entschieden haben.

So hat es sich auch ergeben, daß ich nur einigen Wenigen Dank schulde, diesen allerdings um so mehr. Ich habe sie hier und da genannt. Der bei weitem höchste Dank gehört meiner Frau, die nunmehr über vierzig Jahre die längste Wegstrecke mit mir gegangen ist. Die ersten zwanzig Jahre ist unser gemein­sames Leben ein ständiges Ringen und Improvisieren gewesen, um uns nur der Bedrängnisse zu erwehren.

Es gehört zu den gelungenen Fügungen, daß wir den gleichen mühevollen Weg von Anfang an zu beschreiten hatten: Aus der heimatlichen Dorfschule im Kreis Bautzen über Berlin nach Barsinghausen — von da nach Bonn — und schließlich ins Berchtesgadener Land, das mir als der ferne prächtige Garten der Königin Berchta schon im achten Lebensjahr in den Deutschen Sagen begegnet ist. Marianne hat stets für die bergende Heimstatt gesorgt, so daß ich mir unbeschwert meine äußeren Ziele setzen konnte. Sie umsorgte die Familie und fand ihre Erfüllung in der leiblichen wie geistigen Förderung unserer Kinder, ohne sie zu verwöhnen oder zu gängeln. So erwarben sie sich ihre Eigenständigkeit ganz natürlich, ohne auf die heute üblichen Absonderlichkeiten zu verfallen. 

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Die Beurteilungen der Weltgeschehnisse, die jeder aus unserer Familie für sich gewonnen hat, liegen dicht beieinander. Und so stehen wir auch in der derzeitigen bedrohlichen Weltsituation mit übereinstimmenden Ansichten zueinander. Wenn auch die tieferen Ursachen unserer Einverständnisse unergründlich bleiben mögen, so mag doch eine darin zu finden sein, daß die Kinder als Zeugen des elterlichen Ringens die harten Heraus­forderungen des Daseins auf dieser Erde realistisch einzuschätzen lernten. Und wir sind von Beginn in der gemeinsamen Liebe zur Natur verständigt.

Die letzten zwei Jahrzehnte haben mich weiter in der großen Welt herumgeführt, als es sich der Jüngling hinter dem Pflug auf väterlicher Scholle je erträumen konnte. Auf den vielen Reisen nächtigte ich in alten Schlössern und in Luxushotels ebenso wie in engen Miets- oder auch Alternativwohnungen mit sagenhafter Unordnung. Nun sehe ich in der gegenständlichen Welt kaum noch Regionen, auf die ich neugierig wäre — wohl aber im raum- und zeitlosen Reich der Gedanken.

So schien mir der geeignete Zeitpunkt gekommen, meinen Weg durch das 20. Jahrhundert aufzuzeichnen, denn er reicht schon jetzt an das Ende des Jahrhunderts weit näher heran als an dessen Anfang. In dieser Zeitspanne wurde die Erde radikaler verändert als vorher in Jahrtausenden. Hugo von Hofmannsthal meinte, daß es sich bei einer Biografie darum handele, »den Geist der Epoche und den des Individuums zu beschwören und sie beide auseinander zu lösen«.

Sicherlich ist der einzelne Mensch und sein Handeln nur zu begreifen, wenn man die Geschehnisse des persönlichen Lebens mit den Ereignissen der Epoche verwoben betrachtet und sie wechselseitig zu deuten versucht. Darüber hinaus reichen die eigenen unbewußten Wurzeln weit in die Ahnenreihe zurück, und auch mit den bewußten tastet der Einzelne ergründend in fernste Vergangenheiten. Mit den ihm zugefallenen Talenten nimmt er die Probleme seiner Zeit auf, um sein eigenes Wirken vorzubereiten, soweit überschüssige Kräfte dann noch reichen.

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Eine jede Dimension wird beim einzelnen Individuum unterschiedlich ausgebildet sein, doch kaum eine wird völlig fehlen. So ausgerüstet, streift jeder sinnsuchend durch die Welt oder greift handelnd in das Geschehen ein und bemüht sich, die Handlungen und das begleitende Nachdenken möglichst zu verknüpfen. »Der Mensch wird in der Welt nur das gewahr, was schon in ihm liegt; aber er braucht die Welt, um gewiß zu werden, was in ihm liegt, dazu sind Tätigkeit und Leiden nötig«, meint Hofmannsthal an anderer Stelle.

Meine Generation hatte noch eine materiell dürftige Jugend zu bestehen, und wir lebten frühzeitig inmitten von Krieg und Tod. Dennoch kann ich rückblickend die Nachgeborenen nur bedauern, die nie erfahren konnten, wie dankbar wir in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts die unscheinbaren Geschenke des Daseins empfangen haben, die inzwischen mitleidiger Geringschätzung anheimgefallen sind. Wir haben uns unablässig bemüht, den schweren Anforderungen standzuhalten und jede Chance zu ergreifen; an beiden hat es wahrhaftig nicht gefehlt. Gerade darum kann ich heute dankbar zurückblicken und als Gnade auffassen, was zunächst als Übel erschien.

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Zu Zeiten meiner Kindertage bewegten sich die Menschen noch zu Fuß, auf dem Lande während des Sommers barfuß, allenfalls mit dem Fahrrad; nur die Eisenbahn erlaubte schon ein schnelleres Reisen bei seltener Gelegenheit. Keine fünfzig Jahre später benutzte auch ich bereits das Flugzeug mit 1000 Kilometern in der Stunde. Innerhalb von nicht einmal 100 Jahren erhob sich der Mensch über die Erde und hat schon dem Mond Besuche abgestattet.

In meinen ersten Lebensjahren mußten noch viele Dörfer Deutschlands ohne elektrischen Strom auskommen. Die Energie aus der Steckdose revolutionierte unseren Alltag inzwischen wohl am gründlichsten. Sie ermöglicht nun das gleichzeitige Schauen von Bildern aus allen Kontinenten in allen Kontinenten.

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Der Strom verlegt große Teile des Lebens in die Nächte und treibt Tag und Nacht eine Maschinenwelt an, die immer gefräßiger die Bodenschätze der Erde verschlingt. Unser Planet wurde von dichten Leitungs- und Nachrichtennetzen überzogen, und Scharen von Satelliten umkreisen ihn. Während ich die Anfänge des Computers gerade noch beruflich kennenlernte, erarbeitet unser Sohn Andreas seit Jahren Programme für Großrechner. Und in neuester Zeit dröselt der Mensch seine eigenen Erbanlagen auseinander in dem Wahn, die eigene Gattung bald auf Super­exemplare hin manipulieren zu können, obwohl er über Ziel und Sinn der natürlichen Evolution wie eh und je im dunkeln tappt. Neue Arten von Lebewesen sollen aus der Retorte entstehen, während andererseits Jahr für Jahr Zehntausende natürlich entstandener Arten, zu deren Entwicklung die Natur unzählige Jahrmillionen benötigte, ausgerottet werden.

 

Was den Menschen betrifft, so hat er sich in den verflossenen sechs Jahrzehnten immer mehr zum Roboter hin entwickelt. Dieser scheint das Idealwesen zu sein, dem sich der Weltraumfahrer schon am weitesten angenähert zeigt. Die menschliche Psyche bleibt auf der Strecke, für ein Seelenleben bleibt immer weniger Raum. Das hat zwar auch Vorteile: mechanische Logik und Zahlenlogik schaffen eine rationalere Basis des Umgangs für Individuen und Völker. Aber auch die rücksichtslosere Gewalt der härteren Maschinerie wird ins Treffen geführt. Und eine andere Diskrepanz ist stärker geworden; die meisten der Völker und Menschen folgen unentwegt ihren Gefühlen. Und so ist auch die Atombombe im Begriff, in die Macht der Gefühle zu geraten.

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Aber auch die entwickelten Völker sehen sich vom Tempo der Wandlung überrollt. Immer geringer wird die Zahl der Zeitgenossen, denen es gelingt, inmitten der rasenden Wandlungen den Überblick zu behalten. Die meisten sind längst auf der Strecke geblieben oder haben sich in abseitige schützende Nischen geflüchtet, die ihnen Geborgenheit versprachen und für kürzere oder längere Zeit auch zu gewähren vermochten. Doch viele verlieren jeglichen Halt, wie nicht nur die zunehmenden Selbstmorde gerade in den »fortgeschrittensten« Ländern beweisen. Andere beharren auf den großen oder kleinen Irrlehren, die sich im technischen Zeitalter wie Lauffeuer über die Erde verbreiten können.

Meine unersättliche Neugier war von Jugend an darauf gerichtet, die Geschehnisse zu verstehen und das Weltbild zu erweitern, um stets »auf der Höhe der Zeit« zu bleiben. Meine Vorliebe galt zunächst der Vergangenheit. Von rückwärts her suchte ich dann die Zukunft zu entschlüsseln. Daß es mir gelang, meine persönlichen Neigungen durchzuhalten, obwohl mich der bloße Daseins­kampf ununterbrochen in Atem hielt, darf ich als Gunst des Schicksals auffassen. Hätte ich nicht seit den Kindertagen einen Sinn des Lebens vorausgesetzt, dann hätte ich wohl all die Rückschläge nicht durchgestanden.

 

Nun habe ich am Gang der Geschichte, in die ich mich seit frühester Jugend vertieft hatte, eine Strecke aktiv teilgenommen. Dabei sind mir vor allem solche Vorhaben mißlungen, bei denen ich auf andere angewiesen blieb. »Viele getäuschte Hoffnungen beruhen auf überspannten Voraussetzungen über die Mitmenschen«, konstatierte einst Friedrich Nietzsche. Genau das ist es, wenn ich an die letzten Jahre denke. Ich habe den Menschen zuviel zugetraut. Heute muß ich eingestehen, daß ich zuviel erzwingen wollte. 

Die große Tragik ist, daß aber noch mehr nötig wäre, um dem Leben auf unserem Planeten Erde eine Aussicht auf Fortbestand offenzuhalten, was von Jahr zu Jahr fraglicher wird.

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Ich verfügte nicht über die naive Unbekümmertheit und auch nicht über das fanatische Sendungs­bewußtsein, das die Massen fasziniert und verführt. Ich gestehe, daß folgendes Sprichwort auf mich zutreffen könnte: »Wer die Geschichte versteht, wird nie eine Rolle in ihr spielen.« Den gefährdeten Standort der Warner markierte der Dichter Reinhold Schneider in seinem letzten Lebensjahr: 

»Diese apokalyptische Weltsicht, diese Menschen, die im unbarmherzigen Schein des Jüngsten Tages stehen, haben ihren festen Ort in der Kunst, aber auch in der Geschichte. Wenn die Welt mit der Aussage eines bedeutenden Geistes nicht übereinstimmt, so ist sie auf dem Wege zu ihr. Aber statt daß die Menschen darüber erschrecken, wollen sie hellere Töne.« 

Genau das ist meine Erfahrung: sie verlangen »hellere Töne« — mit anderen Worten: sie wollen keine Wahrheiten, sondern bequeme Täuschungen. Meine gelegentlich philosophierende Schwägerin Marianne, die noch heute auf unserem väterlichen Hof ihre Heimstatt hat, schrieb mir 1983: 

»Lieber Herbert! ... dann glaube ich, daß Du damit wohl bei den heutigen Menschen nicht ankommen wirst. Denn jeder denkt bloß, Hauptsache, ich lebe gut und so bequem wie möglich — nach mir die Sintflut. Es mag Ausnahmen geben, aber zu wenig. Da denke ich, Du plagst Dich mit Problemen herum und machst Dir das Leben schwer, und am Ende, solange Du lebst, ändert sich nichts!« 

In den letzten Jahren begegneten mir viele Zeitgenossen, die glaubten, mich wegen einer Kette von Mißerfolgen auf dem politischen Feld bedauern zu müssen. Denen kann ich ganz heiter mit Friedrich Nietzsche antworten: »Die Wahrheit zu sagen, wenn die Unwahrheit herrscht, ist mit soviel Vergnügen gemischt, daß der Mensch ihretwegen das Exil, ja noch Schlimmeres erwählt.«

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Soweit ist es allerdings noch nicht gekommen, daß wir Verkünder höchst lästiger Wahrheiten - inzwischen sind es schon viele - ins Exil gehen müßten. Wohin übrigens? Wo doch derzeit weltweit der gleiche Schwachsinn gelehrt und verehrt wird. Darum bliebe uns nur das innere Exil übrig.

Die persönliche Geschichte wie die der Welt hat mich gelehrt, daß jedes Unternehmen ein Wagnis bleibt. Doch wir müssen unsere irdische Bestimmung hinnehmen, die uns wie einst dem Riesen Sisyphus auferlegt ist: In alle Ewigkeit mußte er seinen Felsblock den Berg hinanwuchten — und ewig rollte dieser wieder zurück. Doch das war kein Fluch! Was sollte er denn tun, wenn der Block schließlich auf dem Gipfel liegen geblieben wäre? Sein Dasein hätte keinen Inhalt mehr gehabt. Wir müssen begreifen, daß dies ein noch schlimmerer Fluch wäre. 

Dieses Gleichnis gilt auch für unser menschliches Mühen, das nie ein Ende finden wird und auch keines finden darf, weil das, was danach käme, nicht mehr Leben, sondern Erstarrung und Tod wäre. Wenn einem »glücklichen Augenblick« wirklich Dauer beschieden sein könnte, dann wäre das die regungslose Ewigkeit. Leben bedeutet Wandlung, ewige Bewegung. Solange also Leben in der Zeit existiert, verläuft es in Schwingungen zwischen gegen­sätzlichen Empfindungen wie Freude und Schmerz, Glück und Leid, Hoffnung und Angst.

*

Erfüllte Augenblicke - aber eben nur Augenblicke - erlebe ich in den seltener werdenden natürlichen Landschaften. Noch beweist uns die unverwüstete Natur ihre alljährliche Schöpferkraft. Ihr könnten wir auch weiter vertrauen und auf die Wiederkehr von Saat und Ernte unser Leben gründen. Noch stehen Wälder, und noch entfalten unzählige Gärten Jahr für Jahr ihren blühenden Überfluß. Unten im hiesigen Tal — an dessen Hang ich schreibe — rauscht immer noch Tag und Nacht, über Sommer und Winter, die Ache durch die Auen — und ungerührt majestätisch überragt der felsige Block des Untersberges die umliegenden Waldeshöhen.

 wikipedia  Untersberg  1972 m    wikipedia  Ache     wikipedia  Berchtesgadener_Land

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Viele Male sind wir darübergewandert, wie wir nun bald alle Gipfel des Berchtesgadener Landes bestiegen haben. Ich nahm es als Beweis meiner unge­brochenen Kraft, daß ich die Route über die drei Spitzen des Watzmanns schaffte, deren Überquerung seit Jahren mein sehnlichster Wunsch gewesen war.

Wenn wir von dieser und jener Höhe südwärts blicken, dann zeichnet sich am Horizont der Hohe Dachstein mit seinen schneebedeckten Zinnen ab, worunter ich vor nunmehr fast fünf Jahrzehnten, als mein Leben noch jung war, entlangstreifte. Im kommenden Sommer hoffe ich ihn zu erklimmen. Seit jenen Tagen vor einem halben Jahrhundert hat mich ein gütiges Schicksal gar manches Mal davor bewahrt, in der Gefahr umzukommen. Der Tod war des öfteren nahe - und im Laufe der Zeit hat sich ein zunehmend vertrauteres Verhältnis zu ihm eingestellt; verschwunden ist die Bangigkeit, die mich in Kindestagen zuweilen überwältigte. Aber noch kann ich mich der sprießenden Natur erfreuen, wobei nun jedes zusätzliche Jahr als unverhofftes Geschenk begrüßt werden darf. Ich würde von einem glücklichen Leben sprechen, wenn nicht die alte griechische Weisheit warnte, wonach ein Mensch erst nach seinem Tode glücklich zu preisen sei.

So schreibe ich hier in der vielleicht letzten Heimstatt, von Bergen und Wäldern umgeben, in deren Mitte unser steiler Wiesen­hang noch alle Jahre wieder ergrünt, bis ihn wiederum auf Monate der glitzernde Schnee bedeckt. Noch ragen im Umkreis Buchen und Fichten hoch auf. Unter ihnen entfalten sich in jedem Frühling blühende Christrosen zu Tausenden, und die leuchtend blauen Leberblümchen folgen sogleich. Um Ostern verwandelt sich die Wiese in einen Teppich gelber Schlüsselblumen, was uns an eine heimatliche »Himmelschlüsselwiese« erinnert.

Nun halte ich Einkehr: einige Zeit zwischen den steilen Hängen der Alpen und dann wieder am sanft geneigten Waldrücken des Deisters, der zur Nord­deutschen Tiefebene hin in fruchtbaren Äckern ausläuft. Das Jahr der Natur, mit dem einst mein Vater auf seinen brotspendenden Feldern verbunden blieb, durchlebe ich nun in den Verwandlungen unseres Gartens, wo auf kleinem Raum üppige Fülle wuchert.

Der Frühling kündigt sich mit dem Gold der Forsythien an, während die Krokusse ihre weißen, gelben und blauen Kelche in die Höhe recken, bald überragt von den Tulpen. Die weißen Kirschen blühen dann zugleich mit den zartroten Pfirsichbäumchen. Bald darauf duftet der Flieder, den ich seit früher Kindheit wohl am meisten liebe. Die Knospen des Rhododendron entfalten sich, und darüber wiegen die hängenden Trauben des Goldregens im sanften Wind. Die Rosen beginnen schließlich zu blühen und zu duften, unermüdlich neue Knospen entfaltend, bis die ersten Fröste einfallen. An Duft übertrifft sie noch der Sommerflieder, der zu Recht nicht nur die Gunst der Schmetterlinge gewinnt. In unerschöpflichen Farbtönen wetteifern im Herbst die Dahlien miteinander und zugleich mit den kleineren Blüten unzähliger Stauden.

Unterdessen beginnt immer noch zur Frühzeit das Jubilieren der Vögel. Besonders die Singdrosseln schmettern ihre uner­schöpflichen Variationen unermüdlich bis in den spätdunkelnden Abend. Der schwarzen Amsel etwas traurig klingendes Lied übertönt allenthalben das Gezwitscher der vielen Arten, die nur der Kenner erkennt. 

Zur Zeit erleben wir den Frühling, es ist mein sechsundsechzigster. Die Zugvögel sind zurückgekehrt und haben bereits ihre Nester eingenommen, durch welchen Sinn geleitet? Auch Tausende menschlicher Generationen vermochten das Leben zu bewahren und weiterzugeben — und fanden darin Erfüllung genug. Heute, am 17. Mai 1987, gebar Christina unser erstes Enkelkind. So beginnt das Wagnis des Lebens immer wieder aufs neue. Und jeder einzelne Mensch vermag es zu bewältigen, aber nur wenn wir alle vorsorgen, daß uns die nährende Mutter Erde erhalten bleibt.

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   Epilog von Friedrich Nietzsche 

"Wir wollen gehört werden, denn wir reden als Warner, und immer ist die Stimme des Warners, wer er auch sei und wo sie auch immer erklinge, in ihrem Rechte; dafür habt Ihr, die Ihr angeredet werdet, das Recht, Euch zu entscheiden, ob Ihr Eure Warner als ehrliche und einsichtige Männer nehmen wollt, die nur laut werden, weil Ihr in Gefahr seid, und die erschrecken, Euch so stumm, gleichgültig und ahnungslos zu finden. - Dies aber dürfen wir von uns selbst bezeugen, daß wir aus reinem Herzen reden und nur soweit dabei das Unsere wollen und suchen, als es auch das Eure ist." 

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Schlusswort -  Herbert Gruhl 1987  Überleben ist alles  Erinnerungen, Memoiren, Biografie -- Die Karawane der Blinden