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   Teil 6 

 "Guarda e passa" 

(Sieh' hin und geh'vorüber)

 Leben in der Gegenwart  

Geulen-2023-Fall

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Im Inferno erlebt Dante die endlosen Qualen der Menschen. »Der Du hier eintrittst, lass alle Hoffnung fahren.« Sein spiritueller Führer, Vergil, sagt: »Guarda e passa« - »Sieh' hin«, sie sind bei sich und ihrem endlosen Leid. Du kannst nur bestehen, wenn du bereit bist, das Inferno zu ertragen. Und er sagt: »Passa« - »Geh vorüber«, verbrenne nicht am Inferno.

Die höchste Form des Menschseins ist nicht, sich zu opfern, sondern das Leiden der Menschen zu teilen.    wikipedia  Vergil  -70 bis -19

Unsere Bereitschaft zur Empathie ist begrenzt. »Wenn wir alle Leiden der Menschen ertragen müssten, könnten wir nicht leben.« (Primo Levi) Die Angst vor dem Ende allen Lebens werden wir nur ertragen mit der Bereit­schaft, der Wirklichkeit zu begegnen.

Wenn die Hoffnung schwindet, ist unser Leben nicht sinnlos; im Gegenteil.
Wir haben die Gegenwart, und wir brauchen nichts als die Gegenwart:
Unser Leben von der Geburt bis zum Tod, unsere Liebe zur Erde, die Zeit des Glücks und den Trost des Leidens, die Einsamkeit des Abschieds und das Enigma des Sterbens.

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Über dem Eingang steht geschrieben: »Der Du hier eintrittst, lass' alle Hoffnung fahren.« Auf einer Barke nähert sich Dante dem Inferno, dem Weltenbrand, den Verdammten dieser Erde. Er wendet sich ab von ihren Qualen, und Vergil, sein spiritueller Führer sagt: »Guarda e passa«(1) - »Sieh' hin«, sie wissen nichts von Dir, sie sind allein in ihrem endlosen Leid, du kannst nur bestehen, wenn du bereit bist, das Inferno zu ertragen.
Und er sagt: »Passa« - »Geh' vorüber«, die höchste Form des Seins ist nicht, sich zu opfern, sondern das Leiden der Menschen zu teilen.

Als vor 10.000 Jahren die überlieferte Geschichte der Menschheit begann, lebten auf der Erde etwa fünf Millionen Menschen, zunächst als Sammler, dann als Jäger, schließlich wurden sie sesshaft, bebauten Äcker und begannen Vieh zu züchten. Seitdem haben sich Gruppen, Stämme, Völker und Ethnien autonom entwickelt. Ihr Leben und Arbeiten, ihr Handel und ihre Kriege waren bis zu den Eroberungen der Großmächte Europas auf einen überschaubaren Raum begrenzt.

Nach 250 Jahren Industrialisierung ist der parataktische Lauf der Geschichte beendet. Kein Mensch wird von den Folgen der Erderwärmung verschont. Nukleare Waffen und die Kriegsführung der Cyber­intelligenz sind die äußerste Konsequenz: Wenn Hyperschallraketen in wenigen Stunden jeden Ort der Erde treffen können, wird es in Zukunft nur eine Geschichte geben.

War Hitler - wie Albert Camus sagt - im letzten Jahrhundert die »reine Geschichte« (»l'histoire à l'état pur«),(2) so sind die nuklearen Waffen die reine, unverfälschte Geschichte der Zukunft.


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Eine Zeitlang schien uns der Gedanke zu trösten, die Lenker der großen Mächte würden keinen Atomkrieg führen, weil der auch ihr eigenes Volk zerstören würde. Dass Männer es sind, die Geschichte machen, gründet auf dem Konzept des homo faber, des westlichen Menschen als Lenker der Geschichte, und zugleich auf der deutschen Philosophie und Historiographie, die den Menschen als Subjekt der Weltgeschichte definiert.

Man wird schwerlich behaupten können, dass der Staatsmann Hitler, wäre er in den Besitz der Bombe gelangt, diese aus Verantwortung gegenüber dem deutschen Volk nicht eingesetzt hätte. Das gleiche gilt für die Führer kleiner Staaten und terroristischer Organisationen, die waffenfähiges Nuklearmaterial besitzen und sich jeder internationalen Kontrolle ihrer Arsenale entziehen. Die Behauptung, die Groß­mächte können diese Akteure hindern, ihre Waffen einzusetzen, ist wirklichkeitsfremd und naiv; jeder James Bond-Film enthält mehr Wahrheit.

Die Geschichte der letzten zweihundert Jahre lehrt uns, dass es wenig Hoffnung gibt, die Staatenlenker würden ihre Aufrüstung beenden. Die Verträge der europäischen Großmächte nach den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts sahen grundsätzlich keine Begrenzung neuer Waffen und Kriegstechnologien vor. Nach den Napoleonischen Kriegen (1815), dem Deutsch-Französischen Krieg (1871) und nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg (1919 und 1945) verteilten die Hegemone die Territorien der besiegten Staaten und bestimmten die Grenzen in Europa und den Kolonien nach ihren Interessen. Kein Friedens­vertrag konnte die Großmächte daran hindern, aufzurüsten.

Seit Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es Beispiele für erfolgreiche Verträge zur Begrenzung der Rüstung und Ächtung von Kriegswaffen, etwa das Verbot des Einsatzes und der Weitergabe chemischer und bakteriologischer Waffen durch das Genfer Protokoll (1925), die Ächtung über- und unterirdischer Nukleartests (1963-1996) sowie mehrere Vereinbarungen zur Ächtung biologischer Waffen (1972-1985).


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Es gab auch Vereinbarungen zwischen den beiden großen Atommächten zur Verschrottung bestimmter Waffentypen. Die Gründe hierfür lagen außerhalb der Militärstrategie, sie betrafen Fragen der Diplomatie, wirtschaftliche Interessen und politische Reaktionen auf internationalen oder nationalen Widerstand hin. Und die Ächtungen bezogen sich auf Waffen, die veraltet und ineffektiv geworden waren; die hegemonialen Staaten waren zur Verschrottung bestimmter Waffen und zum Verbot von Angriffstechniken nur bereit, wenn sie neue, effektivere Waffen entwickelt hatten. Aber keine der großen Nationen war bereit, ihre modernsten neuen Waffentechniken aufzugeben, nicht einmal in bilateralen Verträgen. Die Wahrheit ist: Waffen, die in der Welt sind, werden eingesetzt.

Der Ukrainekrieg hat 2022 gezeigt, dass in der Nuklearzeit völkerrechtliche Verträge mit Atommächten wertlos werden können. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hielt die Ukraine große Arsenale nuklearer Sprengköpfe. Im Jahre 1994 verpflichtete sie sich, ihre gesamten Atomwaffen abzugeben und atomwaffenfrei zu werden, Russland garantierte die uneingeschränkte Souveränität der Ukraine, die Großmächte beglaubigten den Vertrag.(3) Zwanzig Jahre später annektierte Russland, die größte Atommacht Europas, Teilgebiete der Ukraine, um schließlich 2022 mit einem kriegerischen Überfall das gesamte Staatsgebiet der Ukraine zu beanspruchen.

In der Cyberwarfare, der Kriegsführung der Künstlichen Intelligenz, ist eine Ächtung oder Kontrolle objektiv schwer möglich. Die Cyberwarfare ist virtuell und autonom, ihre Macht ist das Internet.


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Es ist zwar möglich, Zugänge zum Internet zu sperren oder Einfluss zu nehmen auf die fremden Daten. Selbst wenn die Hegemone sich ernsthaft bemühen würden: die Künstliche Intelligenz und die Cyberwarfare entziehen sich jeder Kontrolle. Erst recht lassen sich die Regeln nicht kontrollieren; die Cyberworld ist autonom, und ihre Logik besteht darin, immer neue Wege zur Erreichung ihrer Ziele zu finden.

Das Credo des Okzidents ist seit jeher die ewige Zukunft, seit der Industrialisierung der unaufhaltsame Fortschritt der Technik. Ihr vertrauen wir, sie wird unser Leben erweitern. Die Versprechen der Zukunft entschädigen uns für jeden Verlust der Gegenwart. Die Hoffnung ist es, die uns das Leben ertragen lässt. Aber Hoffnung ist keine Antwort. Das Hoffnungsmantra des Westens erinnert an den deus ex machina der barocken Opern. Die Welt ist aus den Fugen, das Schicksal wird uns vernichten - da erscheint der rettende Gott auf einer Wolke, einer Schaukel, einem fliegenden Wagen. Aber das Blatt der Geschichte wendet sich nicht wie die Blätter einer Opernpartitur.

Alle Utopien haben die Menschheit ins Unglück gestürzt. Ihre Aufgabe war seit jeher, das Leiden auf Erden mit der Aussicht auf eine goldene Zukunft erträglich zu machen.

Die Versprechen der Atomphysiker und Raumforscher sind die grausamsten von allen. Beispielhaft hierfür steht Stephen Hawking, seine Bücher waren Welterfolge, und sein Genius wurde im Lande Newtons gefeiert und verehrt; als er 2018 starb, war es den Briten wichtig, ihn in Westminster Abbey neben dem großen Charles Darwin zu bestatten. Hawking prognostizierte »eine nukleare Konfrontation oder eine Umweltkatastrophe« in einem Zeitraum, der »auf der geologischen Zeitachse ein kurzer Augenblick«(4) ist. Die Gefahr eines Atomkriegs sei »die größte Bedrohung der Menschheit« und könne »jedes Lebewesen auf der Erde« vernichten.(5)

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Der Anstieg der Meerestemperatur werde die polaren Eiskappen schmelzen lassen und große Mengen von Kohlendioxid freisetzen, wir könnten ein Klima bekommen wie auf der Venus mit einer Temperatur von weit über 250°C. Und die »Künstlichen Intelligenzen« könnten bereits in naheliegender Zukunft die anthropogenen Befehle selbständig ausüben und gegen die Menschen richten.(6)

Hawking war Physiker. Zu keinem Zeitpunkt wäre ihm in den Sinn gekommen, an Staaten und Politiker zu appellieren oder der drohenden Apokalypse mit der Offenbarung des Evangelisten Johannes oder dem »Prinzip Hoffnung« entgegenzutreten. Und als Engländer hielt Hawking natürlich auch nichts von den Tröstungen der klassischen Philosophie, die der Realität mit dem Glauben an Ideale und den Geist der Aufklärung trotzen will.

Hawking sieht das alles praktisch. Es sei an der Zeit, »sich Gedanken über die Besiedlung eines anderen Planeten zu machen«; die wichtigste Option für die Zukunft sei »die Erkundung des Weltraums mit dem Ziel, alternative Planeten zu finden, auf denen wir wohnen können«. Er sieht zunächst die Besiedlung des Mondes vor, dann die Erkundung des Mars:  Er liegt in der Nähe und ist relativ einfach zu erreichen. Wir sind dort bereits gelandet und haben ihn mit einem Buggy befahren. [...] Energie könnte aus Kernenergie oder von Sonnensegeln gewonnen werden. Der Mond könnte als Stützpunkt dienen, von dem aus das übrige Sonnensystem bereist würde.(7)


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Die Genien der Raketentechnik und der Raumfahrt haben uns in den letzten Jahrzehnten einiges zugemutet. Seit den Tagen von Peenemünde wird jeder Start in den Orbit und den Weltraum der Planeten gefeiert als großer Schritt für die Menschheit, die Aura der Raketen ist ungebrochen.

Aber wollen wir wirklich im Weltall leben?

Auf dem Mond gibt es keine Atmosphäre, keinen Sauerstoff und kein Klima, das die Kälte des Alls und die Wärme der Sonne - wie auf der Erde - ausgleicht. Auf dem Mond ist es tagsüber durchschnittlich etwa 130°C heiß, nachts -160°C, die Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht betragen zwischen 250 und 300°C.

Auf dem Mars sind die Temperaturen erträglicher, sie betragen tagsüber etwa 20°C, nachts -63°C. Die Atmosphäre besteht zu über 95% aus CO2, dem 2000-fachen der Erdatmosphäre sowie aus Eisenoxid-Staub, was die rote Farbe des Planeten erklärt. Die Polkappen des Mars sind vereist, flüssiges Wasser, das vor 2 bis 3,6 Milliarden Jahren auf dem Mars existiert haben soll, ist verschwunden. Und nirgendwo gibt es Sauerstoff. Menschen könnten eingekapselt in Raumanzügen eine Zeitlang überleben, falls die Oxygen-Maschinen nicht ausfallen, aber weiteres Leben kann es im All nicht geben, keine Pflanzen und keine Tiere.

Hawking ist kein Stanislaw Lem und kein George Orwell. Er hat es uns erspart, seine Visionen als Science-Fiction zu verkleiden. Seine Utopien sind nichts anderes als die realistische Beschreibung der logischen und irreversiblen Konsequenz der anthropogenen Naturbeherrschung. Mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen und technischen Mitteln, mit denen wir die Erde zerstört haben werden, schaffen wir eine neue, um so glänzendere Zukunft der Menschheit im Weltall. Hawking ist der absolute Kältepol, der Triumph von Selbsthass und Nihilismus.


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Wir werden weiterhin den Lebensraum Kosmos erforschen und Roboter und Menschen in den Weltraum schicken. Wir dürfen auf einem kleinen, zunehmend verschmutzten und überbevölkerten Planeten nicht weiterhin die Perspektive nach innen und auf uns selbst kultivieren. [...] Und ich bin optimistisch, dass es uns letztlich gelingen wird, auf anderen Planeten für die menschliche Rasse bewohnbare Lebensräume zu schaffen. Wir werden die Erde überschreiten, hinter uns lassen und lernen, im Weltraum zu leben. Das ist also nicht das Ende der Geschichte, sondern ein anderer Anfang von - so hoffe ich - Milliarden von Jahren blühenden Lebens im Kosmos.(8)

Nichts ist determiniert; Nostradamus wird uns nicht helfen. Die Erwärmung der Atmosphäre ist unumkehrbar. Ein apokalyptischer Verlauf ist gegenwärtig nicht abzusehen. Die Wahrscheinlichkeit nuklearer Kriege und großflächiger Verstrahlung wird kontinuierlich größer, aber weder das Szenario, noch der Zeitpunkt eines entropischen Ereignisses lassen sich bestimmen. Es ist nicht ausgemacht, ob und wann mit den Nuklearwaffen das irdische Leben ein apokalyptisches Ende finden wird.

Was hindert uns, die Wirklichkeit zu sehen, das Leid der Gegenwart, die Katarakte der Zukunft? Im Grunde überfordert uns alles: Das Leiden jedes einzelnen Lebens auf dieser Erde, auch unseres eigenen Lebens.

Primo Levi hat es so ausgedrückt: 

Eine einzige Anne Frank bewegt uns mehr als die Tausenden anderen, die litten wie sie, aber deren Gesichter im Dunkeln geblieben sind. Vielleicht ist es so besser, wenn wir alle Leiden der Menschen ertragen müssten, könnten wir nicht mehr leben.(9)

Wir können Kriege nicht begreifen, die Zahlen der Toten, die Spiele der Herrschenden mit ihren Waffenarsenalen. Und wir können nicht leben in tiefer Angst vor der Zukunft. Die Ängste vor dem Ende allen Lebens, auch unseres eigenen Lebens, sind in der Wirklichkeit begründet; es gibt nichts zu verklären. Wie können wir die drohenden Verwerfungen ertragen, wenn die Realität alles überwältigt? Wir werden nur leben können, wenn wir bereit sind, das Inferno als letzte Konsequenz der Menschheitsgeschichte zu denken. Guarda, sieh' hin, ist die größte Kunst von allem.

Wir werden akzeptieren müssen, dass die Gefährdung des irdischen Lebens auch die Grundlagen unserer Kultur radikal in Frage stellt. Dass es ein postmortales, ewiges Leben der Seele gibt, eine Wiedergeburt der virtuellen Existenz des Menschen, setzt voraus, dass es überhaupt Leben gibt. Kann virtuelles Leben reinkarnieren in toter Materie, in Gestein, Asche und Staub, in den toten Vakuen des Alls? Wird es uns trösten, dass nach einem Ende allen Lebens unser schöner blauer Wasserplanet noch weitere Millionen von Jahren durch die Milchstraße schwebt?

Wenn unsere Hoffnung schwindet, ist unser Leben nicht sinnlos, im Gegenteil. Es ist ein Akt der Würde und der Selbstachtung gegen die Zerstörung des irdischen Lebens aufzustehen. Keine Schuld, keine Empörung, kein Blick zurück im Zorn - aber wir bekämpfen jeden, der das Leben und diese Welt bedroht.

Wir haben die Gegenwart, und wir brauchen nichts als die Gegenwart: unser Leben von der Geburt bis zum Tod, unsere Liebe zur Erde, die Zeit des Glücks und den Trost des Leidens, die Einsamkeit des Abschieds und das Enigma des Sterbens.

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Ende

 

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