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Teil 3 

 Hundert Jahre Krieg

 Leben und Sterben in der Ukraine

Geulen-2023

 

80-105

Der Reichtum und das Schicksal der Ukraine ist Cernozem. Mehr als die Hälfte des Landes besteht aus der humusreichen »Schwarzen Erde«. Jahrhundertelang war die Ukraine von Russland und anderen Staaten besetzt worden; alle kamen wegen des Weizens, der »Kornkammer«, der fruchtbaren Erde.

Als in Russland 1917 die Zaren verjagt wurden, schien der Traum des ukrainischen Volkes nach Unabhängigkeit wahr zu werden. Aber wenige Jahre später wird die Ukraine von der Sowjetunion überfallen. Durch die Zwangs­kollektivierung bricht die traditionelle Kulakenwirtschaft zusammen. Dem folgenden Hungergenozid fallen über vier Millionen ukrainische Bauern zum Opfer. In den dreißiger Jahren werden zwei Millionen Ukrainer deportiert, als »Spezialsiedler« nach Sibirien und als Zwangsarbeiter in die sowjetischen Gulags. Drei Jahre später überfällt die Deutsche Wehrmacht die Ukraine und ermordet innerhalb von zwanzig Monaten über acht Millionen Menschen, darunter zwei Millionen galizische Juden.

Nach der Auflösung der Sowjetunion erklärt sich die Ukraine endgültig für unabhängig. Im völkerrechtlichen Vertrag von Budapest verpflichtet sich Russland 1994, »die Souveränität der gegenwärtigen Grenzen der Ukraine zu respektieren«; die Ukraine gibt ihre großen Bestände an Nuklearwaffen an Russland ab. 2022 greift Russland die Ukraine wieder an und besetzt die Reaktoren und Brennstofflager von Saporischschja. Atomare Anlagen sind bei militärischen oder terroristischen Angriffen Geiseln in den Händen der Aggressoren.

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   I    Mutter Heimat         II-      III-      ^^^^ 

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Immer wieder war die Ukraine von fremden Staaten besetzt worden, seit dem 17. Jahrhundert gehörte sie teilweise zum Russischen Reich, zur Habsburgermonarchie und zur Sowjetunion. Nach den Napoleon­ischen Kriegen luden die siegreichen Großmächte Preußen, Österreich-Ungarn, Russland und Großbritannien zum Wiener Kongress ein, um die Neuordnung Europas zu verhandeln. An den Tischen des Kongresses, der die europäische Geschichte bis heute entscheidend prägen sollte, saßen Kaiser, Könige, Fürsten und Diplomaten; die Ukraine, heute mit einer Fläche von 603.000 Quadrat­kilometern der größte Staat auf dem Territorium Europas, saß nicht mit am Tisch und wurde schließlich wie alle slawischen Staaten und Völker dem Russischen Reich zugeschlagen.

Durch die jahrhundertelange Fremdherrschaft gab es keine historische Kontinuität der ukrainischen Nation, aber es gab das Volk und die ukrainische Sprache, die sich seit dem späten Mittelalter entwickelt hatte und heute von 37 Millionen Ukrainern gesprochen wird. Und als Reaktion auf die russische Übermacht entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhundert die panslawische Wider­stands­bewegung.

Dichter wie Taras Sevcenko haben das historische Gedächtnis des ukrainischen Volkes, seine Sprache und seine Identität in Gedichten und Romanen bewahrt.(1) Er hatte zehn Jahre in den Lagern des Zaren verbracht und steht als ukrainischer Nationaldichter für den Widerstand gegen die ewige Vorherrschaft der Russen. Das patriotische Gedicht »Noch ist die Ukraine nicht gestorben« von Pawlo Tschubynskyj wurde zur Vorlage der ukrainischen Nationalhymne. »Wir, Brüder, werden Herren im eigenen Land sein.«


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Nach dem Ersten Weltkrieg scheint sich der Traum des Volkes zu erfüllen. In Russland hatte die Februar-Revolution die verhassten Zaren verjagt, in der Ukraine nehmen die Bauern die Äcker des Adels in Besitz, und das Parlament ruft die Ukrainische Volksrepublik aus.

Die Zeit der Freiheit währte nicht lange. Kaum war die Ukraine souverän, beanspruchte Lenins Sowjetstaat ukrainisches Territorium. Zwischen 1917 und 1920 wird der junge Staat systematisch destabilisiert. Die Ukrainische Volksrepublik war am 7. November 1917 gegründet worden, am 29. April 1918 wird sie durch den Ukrainischen Staat ersetzt, am 1. November 1918 durch die Westukrainische Republik, am 10. März 1919 durch die Ukrainische Sozialistische Republik. Im September 1920 besetzt die Sowjetunion Kiew. An den folgenden Friedensverhandlungen in Riga wird der junge ukrainische Staat nicht beteiligt. Die Ukraine verliert ihre völkerrechtliche Subjektivität und wird zur Sowjetrepublik. Den Vertrag von Riga unterschreibt die Sowjetunion 1922 auch im Namen der Ukraine, die damit zum Signatarstaat ihrer eigenen Annexion wird.

Der Reichtum und das Schicksal der Ukraine ist Cernozem, die Schwarze Erde. Mehr als die Hälfte des Landes besteht aus den humusreichen Böden, die über Jahrtausende in den subtropischen Steppengebieten entstanden sind. Alle Eroberer hatten es abgesehen auf die hohen Erträge der fruchtbaren Schwarzen Erde, die »Kornkammer«. Schon während der Fremdherrschaft der Zaren musste die Ukraine den größten Teil ihrer Ernte an Russland abgeben, nach der Oktoberrevolution und den anschließenden Kriegsjahren war der Weizen der Ukraine für den Machterhalt des Sowjetstaates unentbehrlich.

Aber das Land gab das nicht her, nach dem Krieg fehlten Saaten, Dünger und Erntegeräte. Um die Erträge zu erhöhen, beginnt die Sowjetunion in den zwanziger Jahren mit der Kollektivierung der Landwirt­schaft. Für das Volk der Ukraine sind die Folgen fatal.


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Die ukrainischen Bauern werden enteignet und in Kolchosen gezwungen, nach der Kollektivierung bricht die gewachsene Kulakenwirtschaft zusammen.(2) Der folgenden Hungersnot fallen Anfang der dreißiger Jahre über vier Millionen ukrainische Bauern mit ihren Familien zum Opfer.(3)

In der sowjetischen Geschichtsschreibung der dreißiger Jahre werden für den Hungergenozid die »Kulaken« verantwortlich gemacht, sie seien die herrschende Klasse der Landbevölkerung, die Groß­bauern, die den Sozialismus bekämpften. Aber die Ukraine war nicht Russland oder Ostpreußen, die Kulakenwirtschaft wurde nicht beherrscht von wenigen Großgrundbesitzern. Die »Entkulakisierung« traf Anfang der dreißiger Jahre sämtliche Bauern der Ukraine, mehr als die Hälfte der Bevölkerung.(4) Bis heute liegt auf dem »Holodomor«, dem Hungergenozid, der stärkste Fokus der ukrainischen Leidens­geschichte.

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Während der großen Hungersnot beginnt die Sowjetmacht Anfang der dreißiger Jahre mit Massendeportationen. Insgesamt zwei Millionen ukrainische Bauern, die nicht verhungert sind, werden mit ihren Familien in Dörfern und Städten aufgegriffen und in Güterzügen über den Ural nach Zentralasien verfrachtet, um als »Spezialsiedler« in unwirtlichen Gebieten eine Kolchosenwirtschaft aufzubauen. Keiner wird den Dnjepr je wiedersehen.

Die zweite Welle der Deportationen führt für die ukrainischen Bauern direkt in die Gulags. Zwischen 1929 und 1933 werden über einhunderttausend ukrainische Bauern in die Gulags deportiert, nicht als Kriminelle, politische Häftlinge oder »Siedler«, sondern als Zwangsarbeiter. Sie werden von ihren Familien getrennt, durch Kommandos der Roten Armee abtransportiert, um mit bloßen Händen Kanäle zum Polarmeer zu bauen oder in den Bergwerken Sibiriens zu arbeiten.

  • 2 Vgl. Anne Applebaum: Roter Hunger - Stalins Krieg gegen die Ukraine, München 2019, S. 17 ff.

  • 3 Vgl. ibid., S. 352-356.

  • 4 Vgl. ibid., S. 17 ff.


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Bereits 1918 hatte Lenins Staat begonnen, das Gulag-System auszubauen.(5) Gulags waren im Wesentlichen Zwangsarbeitslager, die verschiedene Namen trugen wie Straflager, Konzentrationslager, Sonderlager, Arbeitslager. In den Gulags lebten Kriminelle, politische Häftlinge, Kriegsgefangene, arbeitsfähige Männer der ethnischen Minderheiten aus den baltischen Staaten und Weißrussland, die Matrosen von Kronstadt, deren Aufstand gegen die Diktatur der Bolschewisten im Jahr 1921 niedergeschlagen worden war, und seit Anfang der dreißiger Jahre die ukrainischen Bauern, die den Hungergenozid überlebt hatten.

Mit der Deportation ist ihr bisheriges Leben beendet.6 Der Gulag ist ein eigener Kosmos. Die Deportierten wissen nicht, wo sie sind, sie haben in den Lagern keine Namen, ihre Familien erhalten keine Nachricht. Die meisten verenden im Gulag, sie verhungern, erfrieren, sie sterben an Krankheiten oder durch ihren Freitod. Insgesamt fallen dem sowjetischen Gulagsystem zwischen 1920 und 1990 über sechs Millionen Menschen zum Opfer. Die überleben und entlassen werden, verschwinden in den Weiten Sibiriens. Wenige schaffen es, in ihre ukrainische Dörfer zurückzukehren. Aber ihre Heimat gibt es nicht mehr, die alten Bewohner waren geflohen oder verhungert, und auf dem Höhepunkt des Holodomor hatte die Sowjetunion Bauern aus Weißrussland in die entvölkerten ukrainischen Dörfer verbracht, um die verlassenen Äcker zu bestellen.(7)

  • 5 Vgl. Alexander Solschenizyn: Der Archipel Gulag, Frankfurt/M. 2008, S. 157 ff.; vgl. ferner I.W. Dobrowolski (Hg.): Schwarzbuch Gulag, Graz 2002.

  • 6 Vgl. z.B. Fjodor Michailowitsch Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Berlin 2015; Arthur Koestler: Sonnenfinsternis, London 1946; Imre Ker-tesz: Roman eines Schicksallosen, Reinbek b. Hamburg 2006; Primo Levi: Ist das ein Mensch?, München 2006; Julius Margolin: Reise in das Land der Lager, Berlin 2013; Wilfried F. Schoeller: Leben oder Schreiben. Der Erzähler Warlam Schalamow, Berlin 2013; Leon W. Wells: Ein Sohn Hiobs, München/Wien 1979.

  • 7 Vgl. Anne Applebaum: Roter Hunger, op. cit., S. 336.


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Wenige Jahre nach den Schrecken des Hungers und der Deportationen wird die Ukraine von der Deutschen Wehrmacht überfallen. Mit dem Angriff beginnt der Krieg gegen die Sowjetunion und die endgültige Vernichtung der europäischen Juden. Anfang August 1941 dringen die deutschen Panzerverbände über die Prypjat-Sümpfe und Galizien in die Ukraine ein. Da sich die Rote Armee ins russische Kernland zurückgezogen hat, wird die Ukraine militärisch nicht verteidigt, Widerstand leisten ukrainische Partisanen. Die Wehrmacht erobert Kiew und nach wenigen Monaten die gesamte Dnjepr-Region bis zum Schwarzen Meer. Auch den Deutschen geht es um die »Schwarze Erde«. Die Strategie war bereits vor dem Überfall auf die Ukraine festgelegt worden. Die »Kornkammer« soll »die Ernährungsbasis für das Großdeutsche Reich« werden, ein reines Bauernland ohne Industrie, ohne Stadtbevölkerung, ohne Intelligenz, die Städte sollen »ganz von der Landkarte verschwinden«.(8) Ausführlich protokolliert ist die entscheidende Besprechung vom 16. Juli 1941 in der Wolfsschanze, Hitlers Hauptquartier im Süden Ostpreußens in der Nähe des Flughafens Rastenburg (heute Ketrzyn).

In der Rassenhierarchie der Nazis standen die slawischen Völker ganz unten; dies erklärt, warum der Krieg gegen die Russen und Ukrainer besonders grausam geführt wurde. Hitler gab Folgendes zu Protokoll:

Die Slawen sollen für uns arbeiten. Soweit wir sie nicht brauchen, mögen sie sterben. Impfzwang und deutsche Gesundheitsförderung sind daher überflüssig. Die slawische Fruchtbarkeit ist unerwünscht. Sie mögen Präservative benutzen oder abtreiben, je mehr desto besser. Bildung ist gefährlich. Es genügt, wenn sie bis 100 zählen können. Höchstens die Bildung, die uns brauchbare Handlanger verschafft, ist zulässig. Jeder Gebildete ist ein künftiger Feind. Die Religion lassen wir ihnen als Ablenkungsmittel. An Verpflegung bekommen sie nur das Notwendigste. Wir sind die Herren, wir kommen zuerst.(9)

  • 8 Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter. Erich Koch - eine politische Biografie, Osnabrück 2007, S. 342.


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Erich Koch, der Gauleiter Ostpreußens und Reichskommissar des Reichskommissariats Ukraine, erklärte:

Wir sind wahrlich nicht hierhergekommen, um Manna zu streuen, wir sind hierhergekommen, um die Voraussetzungen des Sieges zu schaffen [...]. Wir sind ein Herrenvolk, das bedenken muss, dass der geringste deutsche Arbeiter rassisch und biologisch tausendmal wertvoller ist als die hiesige Bevölkerung.(10)

Zuerst aber werden die Juden ermordet. Drei Wochen nach dem Einmarsch beginnen die Massenerschießungen. Auf dem Weg nach Kiew werden in der westukrainischen Stadt Kamjanez-Podilskyi 23.000 Menschen zusammen­getrieben und erschossen. Es sind Juden und Roma, die vor der Wehrmacht nach Ungarn geflohen waren und von dort nach Galizien abgeschoben wurden. Zwei Wochen später, am 15. September 1941, sind es im galizischen Berdytschiw 12.000 jüdische Menschen. In dem größten Einzelmassaker des Holocaust liquidieren die Deutschen am 29. und 30. Oktober 1941 innerhalb von 36 Stunden 30.000 Juden aus Kiew in der Schlucht von Babyn Jar. In einer öffentlichen Bekanntmachung werden die Juden von den deutschen Besatzern aufgefordert, sich auf einem Friedhofsgelände vor der Stadt einzufinden:

  • 9 Zit. n. Ernst Piper: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2015, S. 482.

  • 10 Zit. n. Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter, op. cit., S. 339.


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Sämtliche Juden aus der Stadt Kiew haben sich am Montag, dem 29. September 1941 um 8:00 Uhr Ecke der Melnik- und Dokteriwski-Straße 31 (an den Friedhöfen) einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen sowie warme Bekleidung, Wäsche usw. Wer diesen Aufforderungen nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen.(11)

An den Friedhöfen müssen die Menschen ihr Gepäck abgeben, sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und in die Grube steigen. Wer sich weigert, wird geschlagen, es kommt zu sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen. Dann werden sie erschossen. Tausende werden in den folgenden Stunden gezwungen, sich auf die Leichen zu legen, mit dem Kopf nach unten. SS-Leute stehen in der Grube, um die wenigen, in denen noch Leben ist, zu töten. Die Täter sind Soldaten und Offiziere der Wehrmacht, deutsche Berufspolizisten, Verbände und »Einsatzgruppen der SS«.

Als vier Monate später am 20. Januar 1942 die Wannsee-Konferenz tagt, beziffert das Protokoll die Zahl der ukrainischen Juden exakt auf 2.994 .684.(12)

Zu diesem Zeitpunkt sind bereits mehrere hunderttausend ukrainische Juden erschossen worden. In den folgenden Monaten können 900.000 Juden aus der Ostukraine in den sowjetischen Oblast Woronesch fliehen; über ihr Schicksal ist wenig bekannt geworden. Von den galizischen Juden überleben etwa einhunderttausend im Untergrund. Ende 1942 ist die Ukraine »judenfrei«, noch bevor die Massendeportationen in die Gaskammern der Vernichtungslager beginnen. Vom Überfall der Wehrmacht auf die Ukraine bis zur endgültigen Vollstreckung des Genozids werden im Mittel jeden Tag viertausend ukrainische Juden in Massenerschießungen ermordet.


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Im September 1943 muss die Wehrmacht aus der Ukraine abziehen; die Rote Armee dringt von Osten in das »Reichskommissariat Ukraine« ein. Der Rückzug der Wehrmacht erfolgt nach dem Prinzip der »verbrannten Erde«. Der Reichskommissar der Ukraine Erich Koch befiehlt, dass alle Maschinen, Vorräte und arbeitsfähigen Menschen mitzunehmen sind. Die nicht als Arbeitskräfte nach Deutschland deportiert werden können, werden erschossen.

Eine Ausgabe von Lebensmitteln oder Bedarfsgütern an die Bevölkerung hat unbedingt zu unterbleiben. [...] Der Bevölkerung ist auch die letzte Kuh, alle vorhandenen Pferde und Panjewagen bei der Räumung zu nehmen. [...] Nicht arbeitsfähige Kräfte bleiben in der Räumungszone zurück. Die Saaten sind durch Umackern zu vernichten. [...] Die Dörfer und Städte, in denen Teile der Bevölkerung zurückbleiben müssen, sind zu verbrennen.(13)

Zweieinhalb Jahre führen die Deutschen Krieg gegen das ukrainische Volk. Sieben Millionen Ukrainer werden von der Wehrmacht und der SS erschossen oder verschleppt. Hunderttausende geraten in Kriegsgefangenschaft. Zwei Millionen Ukrainer werden zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich deportiert. Die nach dem Krieg in ihre Heimat zurückkehrten, riskierten, von der siegreichen Sowjetunion als Kollaborateure der Nazis verfolgt zu werden.14 Insgesamt zerstört die Wehrmacht Tausende Dörfer und Städte und Millionen Gebäude.

  • 13 Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter, op. cit. S. 391.

  • 14 Vgl. Nazarii Gutsul, Sebastian Müller: Ukrainische Displayced Persons in Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung, Deutschlandarchiv 2014;  https://www.bpb.de/themen/deutschiandarchiv/187210/ukrainische-dis placed-persons-in-deutschland/ (letzter Zugriff 20.09.2022).


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Zur Leidensgeschichte des ukrainischen Volkes gehört, dass die Kriegsverbrechen und Völkermorde aus dem Gedächtnis der Täter getilgt wurden. In der Geschichtsschreibung Russlands ist für den Hunger-Genozid kein Raum, auch nicht für die »Entkulakisierung« und die Deportation der ukrainischen Bauern in die sowjetischen Gulags. Und bis heute ist Babyn Jar für Russland kein Massaker an ukrainischen Juden, sondern eines an sowjetischen Bürgern.

Für die Deutschen blieb die Ukraine nach dem Krieg eine Black Box, ein Niemandsland. Tag für Tag hatten die Volksempfänger die Frontberichte des Oberkommandos der Wehrmacht gesendet. Hundertausende deutsche Soldaten waren bis zum Schwarzen Meer marschiert, um »unsere Kornkammer« zu erobern. Als der Krieg zu Ende war, ist nichts gewesen. Nicht einmal die genozidären Massaker der Wehrmacht und der SS am Volk der Ukraine schaffen es ins kollektive Gedächtnis der Deutschen.

Unerkannt bleiben die großen Kriegsverbrecher. Symptomatisch ist die Geschichte von Erich Koch, dem Gauleiter Ostpreußens, der nach Kriegsbeginn von Hitler zum »Reichskommissar der Ukraine« ernannt worden war.15 Koch war von Pillau, dem Vorhafen von Königsberg, kurz vor Eintreffen der Roten Armee über die Ostsee geflohen. Am 7. Mai 1945 legte die »Ostpreußen« im Hafen von Flensburg an. Als Koch erfuhr, dass sich Hitler erschossen hat, rasierte er seinen Hitlerbart ab und floh auf einem gestohlenen Fahrrad in Richtung Süden, bis er in Hasenmoor unterkam, einem Straßendorf in der Nähe von Bad Segeberg. Er hatte sich Papiere auf den Namen »Major Rolf Berger« besorgt, bestellte einen Kleingarten und besuchte seine Frau Kläre, die in der Altstadt von Lübeck nahe der gotischen Marienkirche eine gutgehende Kneipe unterhielt.


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Den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, in dem auch er auf der Anklagebank sitzen sollte, konnte Koch aus Hasenmoor im Radio verfolgen, sogar live die Verkündung des Urteils gegen Alfred Rosenberg (»death by hanging«), der wegen seiner Verbrechen als »Reichsminister für die besetzten Ostgebiete« zum Tode verurteilt und am 16. Oktober 1946 hingerichtet wurde. Koch war im Nürnberger Prozess von mehreren Zeugen belastet worden, unübersehbar wog seine Schuld schwerer als die von Alfred Rosenberg. Zeitungen berichteten über die Fahndung der Alliierten nach den flüchtigen Gauleitern; während der vier Jahre, die Koch sich in Hasenmoor versteckte, wurden sechs Gauleiter von den Alliierten festgenommen und hingerichtet. Im Mai 1949 wird Koch von Flüchtlingen aus Ostpreußen, die es ebenfalls nach Hasenmoor verschlagen hatte, erkannt und der britischen Militärjustiz übergeben. Die Deutschen hatten schon am Nürnberger Prozess wenig Interesse gezeigt, und auch für Kochs Kriegsverbrechen interessierte sich kaum jemand. Dies änderte sich, als bekannt wurde, dass Koch nach Polen oder in die Sowjetunion ausgeliefert werden sollte.16 Zunächst sind es die Zeitungen der Flüchtlinge aus Ostpreußen, dann treten liberale Journale gegen Kochs Auslieferung an, allen voran Die Zeit. Ihr Thema waren nicht die Verbrechen Kochs am ukrainischen Volk, sondern Verfehlungen Kochs gegen deutsche Flüchtlinge im Hafen von Pillau. Koch habe, so das Wochenblatt, »im entscheidenden Moment das Weite« gesucht und »den Tod und das Leiden von ungezählten Deutschen im Osten auf dem Gewissen«. Und es folgt der pathetische Ausruf:

Wir verlangen, dass Koch vor ein deutsches Gericht gestellt wird - zunächst einmal haben wir mit ihm abzurechnen.(17)

  • 16 Vgl. ibid.

  • 17 Marion Gräfin Dönhoff: Der Henker von Ostpreußen, in: Die Zeit vom 11.11.1949, zit. n. Ralf Meindl: Ostpreußens Gauleiter, op. cit. S. 475 f.


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Damit war die Grundlage geschaffen für eine bis heute wirksame Legende: Nicht die Deutschen waren schuld, sondern der Gauleiter Koch, die Deutschen waren in der Ukraine nicht die Täter, sondern die Opfer - es gab keine deutschen Kriegsverbrechen in der Ukraine, die der Erinnerung bedurften. Acht Monate dauert die Kampagne, acht Monate wird über Kochs Verfehlungen gegen die deutschen Flüchtlinge berichtet. Am 10. Januar 1950 wird Koch nach Polen ausgeliefert. Angeklagt wird er wegen seiner Verbrechen als Gauleiter Ostpreußens, zum Tode verurteilt und begnadigt; im Jahre 1986 stirbt er, neunzigjährig, im Zuchthaus von Wartenburg (heute Barczewo). In Deutschland bleibt er vergessen - und mit ihm die Verbrechen der Deutschen am Volk der Ukrainer.

Als der Zerfall der Sowjetunion beginnt, erklärt die Ukraine am 24. August 1991 ihre Unabhängigkeit. Am 1. Dezember 1991 entscheiden sich in einem Referendum über neunzig Prozent der Ukrainer für die Souveränität, die schließlich formell am 26. Dezember 1991 in Kraft tritt. Damit war die Ukraine eine Atommacht geworden. Im Jahre 1991 lagerte in der Ukraine das weltweit drittgrößte Kernwaffenpotential mit 1 832 Nuklearsprengköpfen. Außerdem waren rund eintausend hochqualifizierte Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure in den militärischen Nuklearanlagen tätig, insbesondere in Raketensilos und mobilen Abschussstationen. Die Ukraine erklärte sich aber bereit, diese Waffen an Russland abzuliefern und selbst auf Atomwaffen zu verzichten, wenn ihre territoriale Integrität garantiert würde.

Die entscheidenden Verhandlungen enden mit dem sogenannten Budapester Memorandum vom 5. Dezember 1994.18 Russland und die anderen Signatarstaaten, darunter die

  • 18 Memorandum über Sicherheitszusagen in Verbindung mit dem Beitritt der Ukraine zum Vertrag über die Non-Proliferation nuklearer Warfen, »Budapester Memorandum«, vom 05.12.1994, Ziff. 1 und 2.


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USA und Großbritannien, verpflichten sich, »die Unabhängigkeit und die Souveränität der gegenwärtigen Grenzen der Ukraine zu respektieren«, und garantieren, dass sie »niemals ihre Waffen gegen die Ukraine einsetzen würden, es sei denn zur Selbstverteidigung oder anders in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen«." Die Ukraine liefert ihre Atomwaffen an Russland ab, tritt dem Atomwaffensperrvertrag Start-I bei, verzichtet auf die Weitergabe militärischen Nuklearmaterials und erklärt sich 1996 für atomwaffenfrei.

Im Jahr 2014 überfällt Russland den Südosten der Ukraine, annektiert die Krim und übernimmt die Macht in Teilen des Donbas und des Donjezk-Beckens. Es handelte sich um einen Angriff auf die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine; Russland rechtfertigt den offensichtlichen Bruch des Budapester Memorandums als Akt der »Selbstverteidigung«.

Im Dezember 2021 beginnt mit einem Schauprozess der Showdown für den nächsten Krieg Russlands gegen die Ukraine. Angeklagt ist »Memorial«, die »Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge«, eine Menschenrechtsorganisation, bestehend aus achtzig regionalen Gruppen in Russland, postsowjetischen Staaten und Westeuropa. »Memorial« war weder antirussisch noch regierungsfeindlich. Ihre bescheidene Arbeit bestand darin, zu erinnern an die Leiden der Deportierten in den Lagern und an den »Großen Terror« der dreißiger Jahre. Am 28. Dezember 2021 wird »Memorial« verboten und aufgelöst: Dokumente werden beschlagnahmt, Ausstellungen geschlossen, Gedenktafeln demontiert. Vor dem Angriff auf die Ukraine muss die letzte Erinnerung an die Verbrechen der Tscheka getilgt werden; auch der amtierende Präsident hatte schließlich als Tschekist begonnen.

  • 19 Ibid.


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Nach dem Verbot fahren die russischen Panzer auf. Innerhalb weniger Wochen wird die Ukraine auf einer Länge von 2 200 Kilometern eingekesselt; Kanonenboote und Kriegsschiffe liegen vor den Hafenstädten Odessa und Mariupol im Schwarzen und im Asowschen Meer, der einzigen natürlichen Grenze der Ukraine. Erstmals in der Geschichte der Menschheit ist der Aufmarsch der Kombattanten und ihrer Panzerverbände weltweit live zu verfolgen. In der Cyberwelt wird der konventionelle Krieg durch Satellitenbilder präsent, die mediale Wahrnehmung entspricht einem Computer-Kriegsspiel. Aber der Angriff muss noch etwas warten; der einzige Partner Russlands feiert gerade das Fest der Völkerfreundschaft. Die olympische Flamme erlischt am 22. Februar 2022. Vierzig Stunden später beginnt unter den Augen der Welt der nächste Krieg Russlands gegen das ukrainische Volk.

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    II-   Chernobyl und Saporischschja: Atomanlagen als Kriegsgeiseln        I-      II-      III-   ^^^^

 

Obwohl die Geschichte der Nuklearzeit eine des Krieges ist, sind die Risiken militärischer und terroristischer Angriffe auf zivile Nuklearanlagen wie Kernkraftwerke und Brenn-stofflager im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. Bis zum Ukraine-Krieg 2022 schien der größte anzunehmende Unfall, eine Kernschmelze, nur durch inhärentes Versagen eines Reaktors selbst oder durch Fehler seiner Ingenieure möglich zu sein. Als russische Panzerverbände 2022 die Kernanlagen Chernobyl und Saporischschja in der Ukraine angreifen, wird bewusst, dass Atomkraftwerke und Brenn-stofflager in einem konventionellen Krieg zu Geiseln der Aggressoren werden können.

Ende Februar 2022 dringen russische Panzerverbände von Norden in die Ukraine ein. Der Angriff wird geführt über die Prypjat-Sümpfe, den kürzesten Weg nach Kiew, den schon


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die Wehrmacht vor Jahrzehnten gewählt hatte. Zehn Kilometer südlich der Grenze hatte die Sowjetunion seit den siebziger Jahren den Chernobyl-Komplex errichtet.20 Seit Anfang der siebziger Jahre werden sukzessive sechs Leichtwasserreaktoren des Modells RBMK gebaut. Der vierte wird 1986 - zwei Jahre nach Betriebsbeginn - durch eine Kernschmelze zerstört. Die betriebenen drei ersten Reaktoren werden nach der Havarie sukzessive stillgelegt, die Reaktoren 5 und 6, die weitgehend fertiggestellt waren, gehen nicht mehr in Betrieb. Die Gesamtkosten des Cherno-byl-Projekts werden umgerechnet mit 18 bis 20 Milliarden Euro angegeben.

Als die russischen Panzer Chernobyl erreichen, lagern sie im »Roten Wald«, einem schwer verstrahlten Gebiet des Chernobyl-Komplexes, das nicht sanierungsfähig ist und seit 1986 von niemandem betreten werden darf. Es wird offenkundig, dass weder die Soldaten noch die Kommandanten von dem Strahlenrisiko wussten. In Chernobyl arbeiten zu der Zeit 250 Ingenieure und Facharbeiter, die meisten sichern die Lager der verstrahlten Kernbrennstoffe. Mit dem Beschuss durch russische Panzerkanonen wird die Situation prekär. Die russischen Truppen nehmen den Standort ein, aber das operative Know-how liegt in den Händen ukrainischer Ingenieure. Nachdem die Stromleitungen mehrere Tage unterbrochen sind, droht eine unkontrollierte Überhitzung.

Zwei Wochen später dringen russische Panzerverbände über die Ostgrenze der Ukraine zum Dnjepr vor und besetzen Saporischschja, den größten Kernkraftwerkskomplex Europas.

20 - Die Wahl des Standorts an der Mündung des Pry'pjat in den Dnjepr hatte militärische Gründe. Die spärlich bewohnte und unwirtliche Sumpfgegend war der sicherste Ort für die DUGA, das größte Radarsystem, das weltweit je gebaut wurde. Das gigantische Konstrukt, 600 Meter lang und 140 Meter hoch, sollte eine Entdeckungsreichweite von bis zu 15.000 Kilometer ermöglichen. Der Energieverbrauch betrug mehr als die Leistung eines Nuklearreaktors, die ersten beiden Chernobyl-Blöcke waren allein für die Stromversorgung der DUGA bestimmt. Richtig funktioniert hat sie nie, und nach dem Chernobyl-Unfall im Jahre 1986 wurde die Anlage aufgegeben.


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Zwischen 1978 und 1986 hatte die Sowjetunion am unteren Dnjepr-Lauf insgesamt sechs Druckwasserreaktoren des Modells WWER-1000 gebaut mit einer Bruttoleistung von je 1000 MW. Die Reaktoren waren neben dem Chernobyl-Komplex das größte Investitionsprojekt in der Spätzeit der Sowjetunion. Beim Nahen der russischen Panzer waren die meisten Reaktoren abgeschaltet. Am 10. März 2022 wird Saporischschja beschossen, verstärkt wieder seit August 2022; mehrere Gebäude in der Nähe der Brennstoff-lager geraten in Brand.21

Bei militärischen oder terroristischen Angriffen auf zivile Nuklearanlagen bilden die Lager der verstrahlten Brennelemente die Achillesferse. Ein Anschlag mit konventionellen Waffen - etwa Panzergranaten - kann eine größere Strahlenfreisetzung bewirken als eine taktische Atomwaffe. In Chernobyl lagern gegenwärtig 22.000 verstrahlte Brennelemente aus dem Betrieb ukrainischer Reaktoren, der Rest lagert in Saporischschja. Die meisten sind in sogenannten Nasslagern abgestellt und daher besonders gefährdet. Weder in Chernobyl, noch in Saporischschja sind die Lagerhallen ausgelegt gegen Panzerbeschuss. Im Jahre 2022 sollte in Chernobyl ein oberirdisches Lager für alle Brennelemente in der Ukraine entstehen, um die Sicherheitsstandards zu erhöhen und die Abhängigkeit von Russland zu beenden, das verstrahlte ukrainische Brennstoffe gegen erhebliche Geldzahlungen abnimmt. Der Ukrainekrieg hat diese Pläne für unbestimmte Zeit verhindert.

  • 21 International Atomic Energie Agency (IAEA): Nuclear Safety, Security and Sa-feguards in Ukraine, 2nd Summary Report by the Director General, 28 April -5 September 2022, Wien 2022, Randnr. 30,163 ff.


   III-   Abstieg in die Stadt der Zukunft (22)  

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Am 26. April 1986 versagen die beiden Kühlsysteme des Reaktors 4 in Chernobyl während des laufenden Betriebs. Die Hitzeenergie der Brennelemente ist nicht mehr zu kontrollieren. In der folgenden Kernschmelze kollabiert die gesamte Anlage. Mehrere Wochen lang versuchen Soldaten die Ruine mit Beton zuzuschütten, um die Strahlung zu verringern, 410.000 Kubikmeter Beton und 7.000 Tonnen Stahl wurden verbaut. Der sogenannte »Sarkophag« beginnt schon nach kurzer Zeit zu havarieren; er wird undicht, verstärkt tritt wieder Strahlung aus, es droht eine Kontamination des Pry'pjat-Flusses, der einige Kilometer weiter in den Dnjepr mündet. Weiterhin liegen etwa 150 Tonnen verstrahltes, geschmolzenes Material im Inneren des Sarkophags. Mit Hilfe der Europäischen Union wurde ab 1992 eine neue Schutzhülle über dem havarierten Reaktorblock entwickelt und 2017 fertiggestellt. Die Strahlenabschirmung dieses sogenannten New Safe Confinement ist gering, doch es wird gebraucht, um die hochaktiven Trümmer des zerstörten Reaktors in den nächsten achtzig bis hundert Jahren zu bergen und an einen sicheren Ort zu bringen. Nach der Kernschmelze wird die Umgebung weiträumig abgesperrt. Die Sperrzone umfasst inzwischen 3.500 Quadratkilometer und überlagert Gebiete im Norden der Ukraine, im Südosten Weißrusslands und im Westen Russlands. Unmittelbar betroffen von dem Fallout der ionisierenden Strahlung ist eine Fläche von insgesamt etwa 300.000 Quadratkilometern in der Ukraine, in Russland und in Weißrussland. Etwa 6.400 Quadratkilometer an landwirtschaftlicher Fläche und Waldgebieten in der Nähe des Reaktors mussten endgültig für die menschliche Nutzung aufgegeben werden.


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Betroffen sind darüber hinaus Finnland, Schweden, Norwegen, Bulgarien, Rumänien, Polen, Deutschland und Österreich, ferner Gebiete in Vorderasien und Nordafrika. In Europa werden etwa 4.000.000 Quadratkilometer, fast vierzig Prozent der Gesamtfläche, spürbar kontaminiert. Ein starker Fallout trifft Regionen auf der Alpennordseite, da hier in den Tagen nach dem 26. April 1986 aufgrund der Wetterlage ionisierte Partikel aus verstrahltem Regenwasser ausgewaschen wurden. Die regelmäßigen Analysen des Bundesamtes für Strahlenschutz ergeben im Jahre 2022, dass in Teilen des Alpenvorlandes Waldpilze aufgrund der Chernobyl-Kernschmelze unverändert mit Cäsium 173 kontaminiert sind und daher nicht in den Handel gelangen dürfend

Seit der Evakuierung im Mai 1986 ist der Aufenthalt in der Toten Zone verboten. Ausgenommen sind die Ingenieure, die im Sarkophag arbeiten oder die Lager der verstrahlten Brennelemente bewachen. Zur Minimierung der Strahlen­exposition dürfen sie nur kurzzeitig in der Toten Zone arbeiten. Vor dem Ukraine-Krieg war es möglich, die Tote Zone in Begleitung eines Radiologen zu bereisen. Jeder Besucher wurde mit einem Detektor ausgestattet, der Kontaminationen während des Besuchs aufzeichnen sollte. In der Toten Zone bestehen die wenigen Straßen aus großen Betonplatten. Eine erhöhte Ionisierung ist in vier Kilometern Entfernung von dem Reaktor nicht festzustellen. Mein Begleiter legt einen Detektor neben die Straße, die angezeigte Exposition aus dem Fallout ist hoch, sie war von den Betonplatten auf den Waldboden abgespült worden und bleibt in der Biosphäre, im Boden und im Wasser, über Jahrhunderte gespeichert.


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Wir erreichen die verlassene Stadt Prypjat, die seit 1970 als Retortenstadt gebaut wurde für die Ingenieure und Facharbeiter der Reaktoren von Chernobyl. Dort lebten vor allem junge Familien. Das Durchschnittsalter betrug zum Zeitpunkt der Havarie 26 Jahre. Bis zum April 1986 waren bereits ca. 44.000 Menschen angesiedelt worden. Nach der Schmelze des Reaktorkerns erfahren die Menschen in Prypjat nichts von der Gefahr ihrer Verstrahlung. Am Morgen des 27. April 1986, mehr als einen Tag nach der Havarie, werden sie durch Lautsprecher aufgefordert, sich um 14:00 Uhr zu einem Abtransport bereitzuhalten; Gepäck darf nicht mitgenommen werden, die Evakuierung werde nur wenige Tage dauern, 1200 Militärbusse fahren vor, am Abend ist Prypjat für immer von Menschen geräumt.

Man geht in einen Kindergarten, sieht die Schnuller und Bilderbücher der Kinder, die aufgeschlagenen Lehrbücher in russischer Sprache. In den beiden großen Schulen in der Mitte der Stadt finden sich Räume mit Bergen von Gasmasken, drei verschiedene Größen für Kinder, Frauen und Männer. Die Masken boten keinen Schutz vor ionisierender Strahlung, sie waren vorgesehen für Katastrophenübungen im Falle eines Angriffs des westlichen Militärs auf die Raketenabwehr und die Reaktoren von Chernobyl. Es gibt ein zentrales Theater, in dem die Reliquien zur Feier des 1. Mai 1986 herumstehen: große Tafeln, Bilder alter Männer mit Uniformen und Orden, Repräsentanten der ruhmreichen Sowjetunion und ihrer Kommunistischen Partei. Am Ortsrand, auf dem kleinen Vergnügungspark, rostet ein Riesenrad, das am Kampftag der Arbeiterklasse eingeweiht werden sollte. Man kann die Straßen ablaufen mit den verlassenen Plattenbauten, die Straße der Völkerfreundschaft, die Straße der Enthusiasten, die Hydroprojektstraße, die Leninallee, die Allee der Bauarbeiter, die Straße der Helden Stalingrads und die Straße der Ukrainischen Wälder. Kein Mensch ist mehr hier, kein Bewohner, kein Besucher, niemand.


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In das Krankenhaus von Prypjat wurden in den ersten Tagen nach der Kernschmelze Hunderte Soldaten eingeliefert, die stark verstrahlt worden waren und nach kurzer Zeit starben. Sie waren als »Liquidatoren« eingesetzt wurden. Filmaufnahmen zeigen, wie sie durch den Reaktor laufen und versuchen, glühende Brocken Graphit in die Keller des Reaktors zu werfen. Ihre Einsatzzeit ist auf wenige Minuten pro Tag begrenzt, aber die meisten der »Liquidatoren« erleiden nach wenigen Tagen die gleichen leukämischen Symptome wie die Opfer in Hiroshima und Nagasaki und sterben am Verbluten innerer Organe. Zwischen April 1986 und Ende 1987 werden 800 000 überwiegend junge ukrainische Soldaten der sowjetischen Armee als Liquidatoren eingesetzt. Statistiken über die Zahl der Erkrankten und Verstorbenen besagen, dass etwa 300 000 bis 350 000 Liquidatoren in den folgenden Jahren gestorben sind, und es kann angenommen werden, dass die meisten von ihnen Opfer der hohen Strahlenbelastung wurden. In der Toten Zone von Chernobyl wurde ihnen ein Denkmal gesetzt.

Es gibt ergreifende Zeugnisse ihres Sterbens. Die Soldaten wurden in Krankenhäuser nach Moskau verlegt, sie konnten nicht mehr ernährt werden, nach wenigen Tagen verfärbte sich ihre Haut, es gab keine Hoffnung. Einigen Frauen aus Prypjat war es gelungen, zu den Betten ihrer Männer vorzudringen:

Anstelle der üblichen Trostworte sagte ein Arzt nun zu der Frau eines sterbenden Mannes: »Nicht nahe herangehen! Nicht küssen! Nicht streicheln! Das ist nicht mehr der geliebte Mensch, es ist ein verseuchtes Objekt.« Dagegen verblasst selbst Shakespeare. Und der große Dante. Das ist die Frage: Zu ihm gehen oder nicht? Küssen oder nicht küssen? Eine meiner Interviewpartnerinnen (sie war schwanger) ging zu ihrem Mann und küsste ihn, ließ ihn bis zu seinem Tod nicht im Stich. Dafür bezahlte sie mit ihrer Gesundheit und mit dem Leben ihres Kindes. Aber wie sollte sie wählen zwischen Liebe und Tod? Zwischen Vergangenheit und unbekannter Gegenwart? Und wer würde es wagen, die Frauen und Mütter zu verurteilen, die nicht bei ihren sterbenden Männern und Söhnen saßen? Bei radioaktiv verseuchten Objekten. In ihrer Welt veränderte sich auch die Liebe. Und der Tod.(24)


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Die Sprache der Chronistin ist fragmentarisch, atemlos, ohne Reflexion. Große Literatur über das Leiden der Menschen kennt kein Pathos. Fjodor Dostojewski, Arthur Koestler, Alexander Solschenizyn, Primo Levi, Warlam Schalamow: Sie waren Opfer, Zeugen, sie haben alles gesehen: die Lager, die Folterzellen, das Leiden der Menschen, und sie haben gelitten. Die dichterische Hand hat alles abgeräumt, was den Blick auf das wirkliche Leiden und Sterben verklärt. Zu Recht wurde Swetlana Alexijewitsch 2015 der Nobelpreis für Literatur verliehen.

Acht Tage nach der Kernschmelze wurde auch das Krankenhaus von Prypjat evakuiert. Nichts ist seitdem verändert worden. Man sieht Krankenbetten, Bücher und Briefe der letzten Patienten, Kinderspielzeug. Der Detektor zeigt eine erhöhte Dosis an. Im unteren Geschoss des Krankenhauses befanden sich die Waschräume und Duschen. Ich kann in diese Räume hineinsehen, betreten darf sie nur mein Begleiter, der einen Overall und eine Schutzmaske trägt. Die Kontaminierung ist erheblich höher als in den oberen Etagen. Der Radiologe hält das Gerät an Stiefel und Hosen, die erkrankte Soldaten zurückgelassen hatten. Das Ticken des Geigerzählers nimmt dergestalt zu, dass die Signale nicht mehr zu unterscheiden sind; die Strahlenbelastung der Lederstiefel ist etwa hundertfach höher als die der Luft.

  • 24 Swetlana Alexijewitsch: Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft, München/ Berlin 2015, S. 49 f.


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Noch Jahrzehnte nach der Verstrahlung der Männer, die diese Kleidung trugen, ist die Kontamination nicht signifikant zerfallen. Es ist nichts zu hören, zu sehen und zu riechen. Eine Lichtquelle, die man mit der ionisierenden Strahlung dieser Stiefel betreiben würde, hätte etwa die Energie von 200 bis 300 Watt. Würde man die Strahlung in akustische Signale übertragen, wäre der Lärm ohrenbetäubend.

Es gibt auf der Erde Orte, die von ihren Bewohnern verlassen wurden und seither in ihrem Status quo ante konserviert sind. Diese Orte konfrontieren ihre heutigen Besucher mit der Erfahrung vergangener Kulturen. Jahrhunderte waren vergangen, bevor Archäologen sie wieder freilegten. Die Tempel in Oberägypten, die Ausgrabungen von Knossos, die Pyramiden von Yucatan sagen uns viel über die Menschen und Kulturen, die sie erschaffen hatten. Und es gibt Orte, die durch katastrophale Ereignisse innerhalb weniger Stunden oder Tage untergegangen sind und seither in diesem Zustand unberührt blieben. Pom-peii und Herculaneum wurden im Jahre 79 n.Chr. unter der Asche eines Ausbruchs des Vesuvs begraben. Es waren kleine, wohlhabende Städte im Golf von Neapel zum Ende der aetas aurea, des Goldenen Zeitalters Roms. Die Ausgrabungen legten im 19. Jahrhundert die Städte so frei, wie sie in wenigen Stunden in den pyroklastischen Strömen untergegangen waren. Im archäologischen Nationalmuseum von Neapel finden sich die Abgüsse menschlicher Körper, die unter den heißen Staubmassen begraben wurden, viele verkrampft, in embryonalen Stellungen, Mütter, die ihre Kinder im Sterben fest an sich drücken.

Prypjat ist nicht Pompeii, es ist anders, mehr. Prypjat ist bezeichnet worden als ghosttown, als »Gespensterstadt«, eine »Mahnung« an kommende Generationen. »Mahnungen« haben etwas Moralisches, Gespenster etwas Menschliches. Aber hier gibt es keine Moral, es gibt keine Gespenster, es ist nichts menschlich, und es ist nichts unmenschlich. Prypjat ist verlassen und wird nie mehr von Menschen bewohnt werden. Pompeii führt uns in die Vergangenheit zurück, nach Prypjat reisen wir mit einer Zeitmaschine in die Zukunft. Dieser Ort antizipiert den Zustand der Erde nach einem Atomkrieg.


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IV  Leben in der Toten Zone   ^^^^

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Das Dorf wurde fluchtartig verlassen. Offene Türen, zerbrochene Fenster, Birken wachsen durch Dächer, auf den Tischen Essgeschirr, Kinderbetten mit Puppen, halbleere Flaschen. Hier in Kopachi, im nördlichen Sumpfland der Ukraine, in der Toten Zone von Chernobyl, lebt Olga W. Hier wurde sie vor über achtzig Jahren geboren, hier wird sie sterben.

In den letzten Apriltagen des Jahres 1986 erfahren die Bewohner von Kopachi aus dem Radio von einem Brand in Chernobyl. Es gibt für sie keinen Grund, besorgt zu sein. Sie leben bei ihren Äckern und wissen nichts von den Risiken nuklearer Verstrahlung. Am 3. Mai 1986 werden sie von Soldaten abtransportiert. Svetlana Alexijewitsch hat die Berichte Evakuierter dokumentiert:

Die Häuser wurden gestürmt. Die Leute hatten sich eingeschlossen, hatten sich versteckt. Das Vieh brüllte, die Kinder weinten! Krieg! Und die Sonne schien [...] Ich hatte mich einfach hingesetzt und gewartet, eingeschlossen hatte ich mich nicht. Die Soldaten klopften an. »Na Frau, bist Du soweit?« Ich fragte: »Wollt Ihr mir mit Gewalt die Hände und Füße fesseln?« Sie sagten nichts, dann sind sie gegangen. Ganz junge Kerle waren das! Kinder noch! Die Frauen sind vor den Häusern auf Knien herumgerutscht, haben gebetet [...]. Die Soldaten packten eine nach der anderen unterm Arm und - ab ins Auto. Ich habe ihnen gedroht, wenn mich auch nur einer anfaßt, kriegt er eins mit dem Stock übergezogen. Ich habe geflucht! Fürchterlich geflucht! Ich habe nicht geweint. Damals habe ich nicht geweint.25


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Und die Chronistin beschreibt »die hilflosen Schreie der Tiere«, die nach der Vertreibung der Menschen in den leeren Dörfern erschossen wurden.26 Angesichts des maßlosen Leids der Menschen Empathie zu bezeugen für die sterbende Kreatur, bezeugt den hohen literarischen Rang Svetlana Alexijewitschs.

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Ich besuchte Kopachi in Begleitung eines ukrainischen Radiologen. Seit 1986 lebt Olga W. hier alleine. Sie hat ihre Evakuierung nie akzeptiert und kehrte über verlassene Wege durch die Tote Zone immer wieder zurück. Nachdem sie noch zweimal vertrieben worden war, ließ man sie schließlich in Ruhe. Ihr verlassenes Dorf hat sie seit vielen Jahren nicht verlassen, weil sie nicht mehr gehen kann. Sie hält ihr Backsteinhaus instand und baut Rote Bete an, Kartoffeln und Kohl. Olga W. trinkt Wasser aus einem nahgelegenen Brunnen, obwohl dies wegen der hohen Kontamination verboten ist. Am Boden ihres kleinen Ackers zeigt der Detektor eine zwanzigfache Überschreitung der zulässigen Dosis; die Strahlenbelastung wird erst in einigen Jahrhunderten signifikant abnehmen. Olga W., die letzte Bewohnerin von Kopachi, weiß, dass in ihrem Dorf menschliches Leben nicht mehr möglich ist. Als sie das rasende Ticken des Geigerzählers an ihren Kohlköpfen hört, lacht sie leise und winkt ab. Olga W. spricht mit meinem Begleiter über den Alltag, ihre Rückenschmerzen, die Soljanka auf dem Herd, den Tod eines ihrer drei kleinen Hunde.

  • 25 Ibid., S. 59; vgl. auch S. 127-135.

  • 26 Vgl. ibid., S. 47-


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Es war schwer für mich, mit Olga W. Kontakt aufzunehmen. Sie hatte nur meinen Begleiter aus Kiew erwartet, der ihr gelegentlich Decken und Wäsche bringt und Würste, die sie in ihre Soljanka schneidet. Olga W. geht gebeugt, sie trägt eine ausgebeulte Arbeitshose und große Pantoffeln. Sie spricht ukrainisch, nicht russisch. Es ist trotzdem möglich, einige Sätze mit ihr zu wechseln. Olga W. erzählt, sie sei schon zu alt gewesen, um russisch zu lernen, als die sowjetischen Ingenieure in den siebziger Jahren die Reaktoren bauten. Und sie sagt, dass sie hier immer gewesen ist und nicht weggehen wird, sie würde auf jeden Fall wiederkehren, falls sie nochmals vertrieben werden sollte.

Mir fiel Ernst Bloch ein, dessen utopischer Marxismus in den siebziger Jahren für meine Generation eine große Bedeutung hatte. Bloch hatte den Hoffnungsglauben der Juden und Christen angereichert mit dem Geist des Materialismus. Die Naturwissenschaften und die Segnungen der Technik waren für Bloch Instrumente, deren sich die Weltgeschichte auf dem Weg ins Reich der Freiheit bediente, und die Spaltung des Atoms war für Bloch, wie für alle Marxisten, eine Gnade der Geschichte, die Menschheit vom Joch der Arbeit zu befreien und in eine Welt des ewigen Friedens zu führen. Er hatte die Shoah im Exil überlebt, war Zeuge geworden der Kriege und Völkermorde seiner Zeit und war davon beseelt, in den Katarakten der Geschichte den Glanz einer utopischen Zukunft aufzuspüren: In aufrechtem Gang werde die Menschheit das Reich der Utopie betreten, das uns der Evangelist Johannes und die Propheten des Alten Testaments offenbart hatten. Und so schwärmt Bloch in seinem enzyklopädischen Werk »Das Prinzip Hoffnung« von der Atomkraft, die uns eine »blaue Atmosphäre des Friedens« schenken werde:

Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.(27)

Ich hatte Bloch nicht persönlich kennengelernt, aber einige seiner Bücher gelesen und Vorträge gehört. Zum Abschluss seiner Reden zitierte er diesen Satz mit lauter, pathetischer Stimme. Zuletzt fast blind, starrte er durch starke Brillengläser ins Auditorium, hob den Kopf, stach mit dem rechten Zeigefinger zweimal in die Luft, um den alles entscheidenden Doppelpunkt zu betonen und nach einem kurzen, atemlosen Ritardando in stolzem Trotz das Wort »Heimat« auszustoßen.

Und nun, ein halbes Jahrhundert später, sitze ich am Kohlfeld von Olga W. in der Toten Zone des geschmolzenen Reaktors von Chernobyl. So sieht sie also aus, die utopische Heimat, die uns die Kernspaltung geschenkt hat.

  • 27 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, op. cit., S. 1628.

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Geulen-2023