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XIII   Die vorweggenommene Utopie

«Unsere Chance zu überleben, als einzelne, als Volk oder als Gattung Mensch, hat damit zu tun, von welchen Utopien wir uns leiten lassen: von der hoffnungslosen, tödlichen Utopie einer perfekten, errüstbaren, machbaren Sicherheit oder von der lebendigen Utopie einer lebensfähigen, gewaltlosen Weltgesellschaft. Wer sein Leben so erhalten will, wie wir es bisher versucht haben, dürfte es verlieren


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Die Ersatz-Utopie von der technokratisch produzierbaren, lückenlos machbaren Sicherheit erweist sich, das haben wir im ersten Teil dieses Buches gesehen, als nekrophile Illusion, auch und gerade in der Gestalt der totalen, einseitigen Abschreckung, die sie in den Planungsstäben Ronald Reagans angenommen hat. Wo man erst die Drohung mit dem gewinnbaren Atomkrieg als hinreichend glaubwürdige Abschrek-kung gelten lassen will, hat der Frieden keine Chance.

Nirgendwo haben mehr Menschen das Tödliche in dieser schäbigen Utopie erspürt und erkannt als da, wo sie entworfen wurde: in den Vereinigten Staaten. Die Bewegung des «freeze», die inzwischen parlamentarische Mehrheiten mobilisieren kann, ist nicht denkbar ohne das Erschrecken vieler Amerikanerinnen und Amerikaner vor dem, was Colin Gray als Theorie entworfen, Caspar Weinberger in die Zahlen seines Rüstungsbudgets umgesetzt und Ronald Reagan mit seiner Rhetorik abgedeckt hat.

Auch in Europa, besonders in Deutschland, wächst das Bewußtsein, daß die Jagd nach der lückenlos errüstbaren Sicherheit nur im Tode enden kann. Kräfte werden frei, die zur Umkehr drängen. Sie finden sich, wie könnte es anders sein, zuerst einmal im Nein zu der Rolle, die man den Europäern und wiederum besonders den Deutschen in der Strategie der totalen Abschreckung zugedacht hat.

In jedem begründeten, legitimen Nein steckt das Ja zu einer Alternative, zu anderen Zielen und anderen Wegen. Darum kreist heute die Diskussion nicht nur in der Friedensbewegung. Wir haben gesehen, daß es auch in unserer Zeit nicht nur die schäbige, sondern auch und immer noch die bewegende, ja die lebensnotwendige Utopie gibt. Wir haben Schritte skizziert auf dem Weg zur Utopie der gewaltlosen Weltgesellschaft, nicht weil Utopia um die nächste Ecke läge, sondern aus der Einsicht, daß nur der Aufbruch nach diesem Utopia die Kräfte freisetzen kann, die stark genug sind, den


Holocaust abzuwenden. Allerdings: Die Zahl der Menschen wächst, die zu oft auf eine bessere Zukunft vertröstet wurden, als daß sie noch bereit wären, die lebendige, erfüllte oder doch erfüllbare Gegenwart ihres Alltags einem Bild von Zukunft zu opfern, das, so haben sie es erfahren, immer weiter in die Ferne zurückweicht, je mehr sie sich abmühen, ihm näher zu kommen. Vor allem für viele Jüngere ist eine Utopie so viel wert, wie sie ihr Leben hier und heute bestimmen und bereichern kann, wie sie sich heute und morgen durch eigenes Tun vorwegnehmen, zeichenhaft realisieren läßt.

Die Utopie von der gewaltlosen Welt erweist ihre Kraft oder ihre Ohnmacht darin, ob sie Menschen bewegen kann, hier und heute glaubhafte und unübersehbare Zeichen des Friedens aufzurichten. Die Zeiten der traditionellen Friedenskämpfer, jener ehrenwerten Idealisten, die oft ein Leben lang nicht müde wurden, Frieden und Abrüstung zu fordern, für den Frieden zu «kämpfen», zu «streiten», gehen zu Ende. Denn dieses «Kämpfen» für den Frieden bediente sich meist nur all der Waffen, die im politischen Machtkampf üblich und wohl auch unvermeidlich sind: der überzeichneten Feindbilder, etwa des Militaristen, des Kriegshetzers und Kriegstreibers, des Monopolkapitalisten und seiner Handlanger, schließlich der Verdächtigung all derer, die anderer Meinung waren.

Sicher, Frieden wird künftig weniger denn je zu haben sein, wenn nicht Millionen von Menschen dafür einstehen, ohne sich einschüchtern oder verängstigen zu lassen. Auch in diesem Sinn muß Friedensbewegung eine Bewegung des Mutes sein. Aber schon die Form solchen Einstehens, Geradestehens, solchen Auf Stehens gegen todessüchtige Utopien muß etwas von dem ausstrahlen und vorwegnehmen, was mit gewaltloser Gesellschaft gemeint ist.

Die Fälle in der Geschichte, in denen wirklich ein hehrer Zweck fragwürdige Mittel hätte rechtfertigen oder gar heiligen können, sind wesentlich seltener als jene andern, in denen schmutzige Mittel den großartigsten Zweck entheiligt, entwertet, unglaubhaft gemacht, ja zum Verschwinden ge-

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bracht haben. Das Mittel der Ketzerverbrennung war durch keinen Zweck zu heiligen, aber es hat bis heute die Glaubwürdigkeit der Kirchen untergraben. Die Zwecke des Nationalstaates haben dem Mittel des Krieges keinen Glanz verleihen können, wohl aber spricht heute das Instrument des Krieges gegen den souveränen Nationalstaat.

Gerade wo es um Frieden geht, können die Mittel den Zweck diskreditieren. Haß, Verleumdung, Feindschaft, Fanatismus, Eitelkeit, Geltungssucht oder gar Gewalt lassen sich nicht in den Dienst des Friedens nehmen. Sie gewinnen sehr bald ihr Eigenleben, machen sich selbständig und werden dann ein normaler Teil jener Welt des Unfriedens, gegen die sie angehen sollten.

Es ist auch durchaus nicht sicher, daß Angst zum Motor des Friedens taugt. Natürlich gehört eine gute Portion Heuchelei dazu, wenn Politiker, die jahrzehntelang von der Angst vor dem Bolschewismus gelebt haben, jetzt darüber lamentieren, daß die Angst vor dem Atomkrieg zu Kurzschlußreaktionen führen könne. Ihnen geht es nicht darum, daß die Menschen keine, sondern daß sie die richtige, nutzbare, ihren politischen Zwecken dienliche Angst haben.

Trotzdem: Angst lähmt. Sie treibt die Menschen meist in die Arme derer, die seit Menschengedenken so etwas wie Sicherheit zu verkörpern scheinen. Wenn Mut die Fähigkeit ist, Angst zu überwinden, dann muß die Friedensbewegung eine Bewegung des Mutes, nicht der Angst sein.

Wo Mut wachsen soll, tun wir gut daran, die Angst zu benennen, auszusprechen, so mit ihr umzugehen, daß wir mit ihr fertig werden, nicht sie mit uns. Verdrängte Angst läßt keinen Mut aufkommen. Kraft zum Handeln entsteht, wo wir die Angst vor der Angst verlieren, wo Angst der Hintergrund wird, der dem Mut zum Leben nicht Abbruch tut, sondern ihm seine Tiefendimension gibt. Schon vor einem Vierteljahrhundert hat Günther Anders den «Mut zur Angst» verlangt, allerdings zu einer Angst «besonderer Art».

1. Eine furchtlose Angst, da sie jede Angst vor denen, die uns als Angsthasen verhöhnen könnten, ausschließt. 2. Eine

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belebende Angst, da sie uns statt in die Stubenecken hinein in die Straßen hinaus treiben soll. 3. Eine liebende Angst, die sich um die Welt ängstigen soll, nicht nur vor dem, was uns zustoßen könnte.1

Wir lernen heute: Friede breitet sich nur da aus, wo er ansteckend wirkt. Friedensarbeit wird nur wirksam, ihrem Ziel nur angemessen, wenn sie Frieden anschaulich, erlebbar macht, wenn sie Frieden ausstrahlt. Dies heißt aber auch: Wo immer Frieden nicht nur gefordert, eingeklagt, sondern gelebt, praktiziert, ausgestrahlt wird, blitzt etwas von der Utopie der gewaltlosen Welt auf. Daß der 10. Oktober 1981 in die Geschichte Europas einging, ist sicher nicht den Reden zu verdanken, die dort im Bonner Hofgarten gehalten wurden. Geschichtlich wirksam wurde, daß die Tausende von Polizisten, die ein kluger Innenminister so dezent auftreten ließ, nicht Steine, sondern Blumen an die Köpfe geworfen bekamen, daß die verängstigten Bonner Geschäftsleute, die ihre Läden vor dem «Mob» meinten sichern zu müssen, beschämt ihre Jalousien hochzogen.

Wirksam wurden die 300000 Menschen, ihr Singen, ihr Lachen, ihre Phantasie, ihre Einfälle, ihre Freundlichkeit und ihre Geduld. Das steckte und steckt an, auch da, wo singende Menschen sich ohne Gegenwehr wegtragen und aufs Polizeirevier transportieren lassen, es steckt sogar manchen Polizisten an, der da keineswegs als Feind begeifert oder als Bulle beschimpft, sondern als pflichtbewußter Staatsdiener in seiner Rolle respektiert wird und allenfalls Mitgefühl erregt. Friedensarbeit kann nur dann - aber dann eben doch - etwas in den Köpfen und Herzen bewegen, wenn sie etwas von der bewegenden Utopie der friedlichen Welt vorwegnimmt. Wo immer Menschen, jüngere oder ältere, für den Frieden demonstrieren, sei es schweigend oder singend, sei es durch Pantomime oder Straßentheater, mit Transparenten oder Plakaten, mit Märschen von Stadt zu Stadt oder bewegunslosem Verharren, muß etwas von jener Utopie gegenwärtig und

1 Günther Anders, a. a. O., S. 98

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spürbar sein, die diese Menschen motiviert. Nicht das Schlag-Wort macht nachdenklich, sondern das Zeugnis von Menschen, das als menschliches Zeugnis wahrgenommen und angenommen wird. Dabei kann das Zeugnis einer einzigen Frau, eines einzigen Mannes mehr bewirken als die Sprechchöre von Tausenden.

Von daher bekommt die Verweigerung des Kriegsdienstes einen Charakter, der wohl den Vätern des Bonner Grundgesetzes so noch nicht vor Augen stand. Es geht nicht mehr allein, ja nicht mehr primär um den klassischen Gewissensgrund dessen, der nicht zu töten bereit ist, um sein «ich kann nicht» oder «ich könnte nur um den Preis eines zerbrochenen Gewissens», es geht um ein Zeichen für das, was kommen muß, um das Zeugnis für die gewaltlose Weltgesellschaft. Aber eben auch zu diesem Zeugnis kann das Gewissen drängen. Nur ein individualistisch verengter Gewissensbegriff kann zu dem Mißverständnis führen, eine am Überleben aller orientierte Entscheidung sei weniger vom Gewissen gefordert als eine, die nur um Schuld oder Sünde des Betroffenen kreist. Es gibt das Zeichen, das aus dem Gewissen kommt.

Wenn Friedensbewegung sich darin bewährt, daß sie etwas von der Utopie der Gewaltlosigkeit im Zeichen vorwegnimmt, fallen die Barrieren, die vor allem in der deutschen Geistesgeschichte zwischen privatisierter Ethik und politischem Handeln aufgerichtet wurden. Da ist dann nicht mehr aufrechtzuerhalten, was die Exegeten Martin Luthers aus seiner Lehre von den zwei Reichen geschlossen haben: daß zwar für das Reich Gottes das Evangelium, auch die Bergpredigt gelte, im Reich dieser Welt mit ihren - notwendigen - Ordnungen aber das Schwert die letzte Instanz bleibe. Dann ist auch die ebenso einleuchtende wie bequeme These nicht zu halten, mit der Bergpredigt lasse sich nun einmal keine Politik machen. Wenn Jesus mit Feindesliebe eben nicht Unterwerfung, Anbiederung, also das Kriechen vor dem Feinde meint, sondern, wie uns der jüdische Philosoph Pinchas Lapide nahelegt, die Entfeindungsliebe, die dem andern die Chance gibt, nicht Feind bleiben zu müssen, etwas anderes zu werden

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als der Feind, vielleicht sogar einmal der Freund, dann ist diese Botschaft von der Ent-Feindungsliebe eminent politisch und gleichzeitig unmittelbar praktisch. Denn eben darum, aus Feinden etwas anderes zu machen als Feinde, indem wir den Feind als Menschen annehmen, in ihm unsere eigenen Schwächen, Irrtümer und Sehnsüchte wiederfinden, darum geht es überall, wo Frieden gestiftet werden soll.

Diese Entfeindungsliebe ist, wenn wir Pinchas Lapide folgen, die Alternative zur tödlichen Utopie der Sicherheit:

«In unserer verunsicherten Welt liegt der ... Friede weder in der Macht unserer Waffen noch in der Distanz vom Gegner, sondern im Herzen eben dieses Gegners, den es einfühlsam und mit Geduld zu entfeinden gilt.»2

Wer die Bergpredigt dem Utopia der gewaltlosen Welt zuordnen will, kann sie damit nicht mehr entschärfen, sobald wir verstanden haben, daß sich dieses Utopia überall und immer als Zeichen vorwegnehmen läßt.

Dann fällt auch die fatale Unterscheidung zwischen Gesin-nungs- und Verantwortungsethik, die der geniale Max Weber im Winter 1918/19 in einer polemischen Rede vor Münchner Studenten in die deutsche Diskussion eingeführt hat. Wer hier und heute die lebensnotwendige Utopie von der gewaltlosen Welt zeichenhaft durch sein Tun vorwegnimmt, ist kein «Ge-sinnungsethiker», der nur um sein eigenes Seelenheil kreist oder sich gar an der eigenen ethischen Überlegenheit berauscht, sondern ein politisch Verantwortlicher, der mit seinen Zeichen auf das Ganze, auf die Gesellschaft, auf das Überleben aller zielt, einer, der Ent-Feindung versucht, weil es ohne sie keine überlebensfähige Menschheit gibt.

Dies muß dann allerdings auch heißen, daß Friedensbewegung nicht ein Feindbild durch ein anderes ersetzen darf. Der Offizier, dem die Friedensbewegung nicht als Feind, sondern als Partner bei der Suche nach dem Frieden gegenübertritt, muß, wie Erfahrungen zeigen, nicht Gegner dieser Bewegung

  • 2 Aus Pinchas Lapide, Mit einem Juden das Evangelium lesen, in Vorbereitung für GTB-Taschenbücher, Gütersloh

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bleiben. Er kann sehr wohl den Zweifeln Raum geben, die ihn vielleicht schon lange beunruhigt haben. Der Politiker, den die Friedensbewegung nicht als hoffnungslos erstarrte Charaktermaske abtut, sondern als möglichen Bundesgenossen anspricht, kann sehr wohl aus dem abstumpfenden Trott seiner politischen Alltagsarbeit herausgeholt werden.

Wenn Sicherheit allein im Herzen des Gegners zu finden ist, dann können wir dem Frieden - und damit einer relativen Sicherheit - nur im Prozeß der Ent-Feindung näherkommen. Und wer dies da versuchen will, wo Mißtrauen, Angst und Feindschaft sich am übelsten ineinander verknäuelt haben, also zwischen Staaten, Systemen und Ideologien, der muß mit der Ent-Feindung zu Hause beginnen, wo es um die Wege zum Frieden geht. Dies erspart nicht die saubere, oft auch harte Argumentation, aber es gebietet zum Beispiel, daß jedem zuerst einmal der Wille zum Frieden zugestanden wird, dann erst bleibt zu fragen, welcher Weg am ehesten dahin führen kann und welcher auf keinen Fall.

Und es verbietet, daß sich eine Friedensbewegung in Eifersüchteleien und Gruppeneogismus verfängt. Es verhindert, daß die bequeme Selbsttäuschung eines Ronald Reagan, es gehe um einen Streit zwischen Gut und Böse, mit umgekehrten Vorzeichen in die Friedensbewegung eindringen kann. Wer den selbstgerechten Kampf der Guten gegen die Bösen lediglich mit vertauschten Etiketten führen will, gehört nicht zur Friedensbewegung.

Es gibt auch zeichenhaftes Vorwegnehmen, das in den Bereich politischer Entscheidungen hineinreicht. Wenn eine Gemeinde in der Bundesrepublik und ihre Partnergemeinde in der Sowjetunion sich gegenseitig «den Frieden erklären», so hat dies natürlich keinerlei staatsrechtliche Bedeutung, aber es ist ein politisches Zeichen. Wenn eine Gemeinde nach der andern sich zur «atomwaffenfreien Zone» proklamiert, so hat dies zwar keinerlei rechtliche Wirkung, aber die Räte der Gemeinden nehmen als Zeichen etwas vorweg, was sie für das ganze Land - völkerrechtlich bindend - anstreben. Wenn Arbeiter darüber beraten, was sie an Stelle von Granatzündern

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herstellen könnten, so ändert dies nichts am Wettrüsten. Aber sie setzen ein Zeichen für das, was kommen muß. Vielleicht haben wir bislang der Phantasie viel zu wenig Raum gelassen, wo es um solche Zeichen ging.

Wenn schon eine Abrüstung, die große Mittel für die armen Länder freimacht, in weiter Ferne liegt, warum sollten nicht zwei Staaten, etwa die Bundesrepublik und Polen, sich darauf verständigen, einen einzigen Panzer weniger anzuschaffen und das eingesparte Geld für ein gemeinsames Be-wässerungs- oder Aufforstungsprojekt in der Sahel-Zone zu verwenden? Warum, wenn schon der Propagandakrieg im Äther zwischen den Weltmächten noch nicht abzustellen ist, schaffen wir (ein Bundesland an der innerdeutschen Grenze, zusammen mit andern, vielleicht kirchlichen Trägern) nicht einen Rundfunksender, der ausschließlich der Sachinformation beider Seiten über einander und dem Dialog zwischen beiden dient?

Wenn Frieden heute ein anderes Wort für Leben ist, gehört zu den Zeichen, durch die sich das Utopia des Friedens vorwegnehmen läßt, jede Geste des Friedensschlusses mit der Natur. Es gibt unzählige solcher Zeichen, und niemand sollte sich daran stoßen, daß sie oft unscheinbar, für das Ganze der Natur unerheblich sind und vielleicht auch das Lächeln manches Mitbürgers herausfordern.

Auch gegenüber der Natur gibt es so etwas wie eine tödliche Utopie der Sicherheit. Da werden Unmengen von Gift auf die Felder gestreut gegen Schädlinge, die es noch gar nicht gibt, die es aber - vielleicht - geben könnte. Also müssen die möglichen Schädlinge «prophylaktisch» bekämpft werden, auch wenn damit Millionen von Lebewesen vertilgt werden, denen dieser Vernichtungsfeldzug gar nicht galt. Tiere, in Massen gemästet unter unnatürlichen Bedingungen, werden vorsorglich geimpft und mit Hormonen und Antibiotika traktiert gegen Krankheiten, die bei gesund aufwachsenden Tieren kaum vorkommen. Flüsse werden begradigt, Weiden und Erlen am Ufer abgeholzt, damit mögliches Hochwasser rasch abfließen kann. Und dann wundert man sich, wenn bei diesen

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Flüssen, auch ohne Hochwasser, die Ufer erodieren und sich in die Uferlandschaft hineinfressen.

Wie Zeichen des Friedens heute Zeichen des Lebens sind, so können Zeichen eines wiederhergestellten oder unversehrten Lebens auch zu Zeichen des Friedens werden.

Wo immer ein Stückchen Erde entgiftet wird, wo unzählige winzige Organismen den Boden wieder dauerhaft fruchtbar machen können, wo im Kleinen wieder ein ökologisches Gleichgewicht hergestellt wird, geschieht ein solches Zeichen. Jeder Rosenstrauch, dessen Blüten wieder ahnen lassen, warum einmal der Duft der Rose als betörend gefeiert wurde, jede intelligente Zuordnung von Gemüsen, die sich gegenseitig vor Schädlingen schützen, jeder Apfelbaum, dem gute Düngung die heute üblichen zwei Dutzend Spritzungen erspart, all dies sind Gesten, die auf ein neues Gleichgewicht in der malträtierten Natur weisen. Jedes Kalb, das, wie es Kälber seit Jahrtausenden hielten, wieder seine skurrilen Sprünge auf der Weide vollführt, jede Hecke, die dem Wind widersteht, den Boden schützt und Vögeln Nistplätze bietet, jeder kleine Tümpel, in dem Kröten sich ansiedeln können, nimmt etwas vom Frieden mit der Natur vorweg.

Vom Frieden im Kleinen ist nur ein Schritt zu dem Zeichen des Widerstandes gegen die Zerstörung im Großen. Wenn unsere Wälder sterben - wir haben uns noch nicht klargemacht, was dies für Klima und Wasserversorgung bedeutet -, dann ist jedes Verhalten, das diesem Sterben entgegenwirkt, ein Zeichen. Wenn Autos Stickoxyde erzeugen, dann können wir unser Auto auch einmal stehen lassen und ein öffentliches Verkehrsmittel benutzen. Vor allem aber - und da beginnt nun wieder die Politik - können wir den Druck auf die Energieversorgungsunternehmen verstärken, damit sie endlich die Entschwefelungsanlagen einbauen, um die sie sich so lange gedrückt haben, und ihre alten Kohlekraftwerke durch modernere, umweltfreundlichere, ersetzen. In jeder Gemeinde lassen sich Signale setzen: Wenn Gemeindeverwaltungen gedrängt werden, weniger Salz zu streuen, Hecken am Wegrand wieder sachgemäß schneiden und nicht von Maschinen zerfet-

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zen zu lassen, das Gras an Straßenrändern mähen und nicht vergiften zu lassen, die Müllabfuhr zu differenzieren oder zur Energiegewinnung zu nutzen.

Jede Ordnung bedarf um so mehr der Gewalt, je ungerechter sie ist. Man kann Gewalt durch Gerechtigkeit, noch mehr durch Solidarität ersetzen. Auch wenn dies nie vollständig gelingen dürfte, so zielen doch alle Zeichen für mehr Gerechtigkeit, alle Zeichen der Solidarität auf weniger Gewalt.

Wenn es politisch darum geht, mehr nach Süden als nach Osten zu blicken, so ist jedes kleine Projekt, das uns dazu verhilft, ein Zeichen der Hoffnung. Die Dorfschule auf Haiti, das Eukalyptuswäldchen in Ober-Volta, die Krankenstation in einer Holzhütte im Regenwald Sumatras, ein paar Brunnen in Eritrea, die mit Sonnenenergie betriebene Wasserpumpe in Peru, das Sozialzentrum in den Slums von Nairobi oder gar die Jutetasche aus dem Dritte-Welt-Laden, das alles ändert zuerst einmal so gut wie nichts am Zustand der armen Völker. Aber es weist in Richtung auf ein politisches Handeln, das helfen könnte. Auch die Spende für «Brot für die Welt» oder «Misereor» bekommt einen Sinn, wenn sie nicht als Ablaßpfennig, sondern als - bescheidenes - Zeichen verstanden wird.

Es war abzusehen, daß in den achtziger Jahren das Elend des Südens zu einem wachsenden Einwanderungsdruck auf den Norden führen mußte. Westeuropa spürt dies nicht weniger als die USA. Natürlich läßt sich das Elend rund um das Mittelmeer nicht dadurch beseitigen, daß in der Bundesrepublik schließlich nicht 60, sondern 120 Millionen Menschen einander auf die Zehen treten. Nur: was sich heute «Ausländerproblem» nennt, ist das Hereinschwappen der Ausweglosigkeiten des Südens in unsere gute Stube. Was uns wenig kümmerte, weil es lange so weit weg war, rückt uns nun auf den Leib. Der Test auf unsere Friedensfähigkeit gegenüber dem Süden, dem wir bisher ausgewichen sind, bleibt uns jetzt im eigenen Lande nicht erspart. Daher sind auch hier Zeichen nötig: Jede Gruppe, die Ausländerkindern bei ihren Schulaufgaben hilft, jeder Sportverein, der Portugiesen und Türken selbstverständlich einbezieht, jeder Arbeiter, der den ausländischen Kollegen im Auto zur Arbeitsstelle mitnimmt, sie alle setzen Zeichen.

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Solidarität nach außen ist meist nur Spiegelbild der Solidarität nach innen. Wenn es sich nun nicht mehr verbergen läßt, daß mit wirtschaftlichem Wachstum, auch wenn es solches gäbe, die Arbeitslosigkeit nicht zu überwinden ist, dann wird es Zeit, die Arbeit - und ihren Ertrag - neu zu verteilen. Es ist doch wohl nicht denkbar, daß z.B. ausgebildete Theologen oder Diakone in den Kirchen keine Arbeit finden, weil die Gehaltsordnungen des öffentlichen Dienstes auch dort für tabu erklärt werden. Wo immer Zeichen der Solidarität mit den Arbeitslosen gesetzt werden, die zur Nachahmung anregen, wächst die Chance, Verzweiflung, Zwang und Gewalt zu überwinden.

Noch einmal: Dies alles sind keine «Lösungen» für «Probleme». Vielleicht gehört es zum mechanistischen Denken einer technokratisch bestimmten Epoche, daß wir immer fragen, welches Problem aufweiche Weise zu lösen sei. In Wirklichkeit werden Probleme selten «gelöst», und dann meist mit dem Erfolg, daß neue, schwierigere sich stellen. Man kann das «Problem» der Energieversorgung so «lösen», daß entweder die Wälder sterben oder die atomare Abrüstung undenkbar wird. Man kann das «Problem» des Autoverkehrs in den Städten so «lösen», daß nachher nichts mehr übrig ist, was den Namen einer Stadt verdient. Man hat das «Problem», die Milliardeneinkünfte der reichen Ölländer in die Industrieländer zurückfließen zu lassen (re-cycling) so gründlich «gelöst», daß die Gesellschaften mancher OPEC-Länder völlig aus dem Gleichgewicht gerieten und sich überdies so verschuldeten, daß die Problemloser der siebziger Jahre heute einen Zusam-

enbruch des Finanzsystems befürchten, wenn der Ölpreis ieder sinkt. Man kann versuchen, das «Problem» der militärischen Sicherheit so zu «lösen», daß schließlich die «Unverwundbarkeit» von Raketen wichtiger wird als das Überleben eines Kontinents. Probleme werden - glücklicherweise - meist nicht «gelöst», sie werden entschärft, relativiert, in einen ande-

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ren Zusammenhang gerückt, auf eine neue Ebene gehoben, verwandelt und überlebt. Menschliches oder gesellschaftliches Leben ist weder einfache noch höhere Mathematik.

Es mag in einer Regierung unerläßlich sein, daß jedes Ressort - und im Ressort jede Abteilung oder gar jedes Referat-an säuberlich isolierten «Problemen» arbeitet.

Nur: die Addition dessen, was dann angeliefert wird, ist noch lange keine Politik. Denn meist schließt eine «Problemlösung» drei andere aus. Vielleicht ist es fruchtbarer, nicht in Problemlösungen zu denken, sondern in Schritten, mittleren, kleinen, winzigen Schritten in Richtung auf die überlebensfähige Welt. Und in Zeichen, die diese Welt vorwegnehmen.

Dann entsteht auch ein neues Spannungsverhältnis zwischen Politik und Lebensstil, Die Art, wie Politiker leben oder miteinander umgehen, spricht meist nicht eben dafür, daß sie die «Probleme», von denen sie reden, meistern können. Auf der andern Seite erscheint manches, was an neuem Lebensstil versucht wird, als Flucht, als Ausstieg, als Resignation. Wo im Zusammenleben von Menschen Neues versucht wird, kann es wohl nur dann ansteckend wirken, wenn es als Zeichen für eine überlebensfähige, also friedlichere, gerechtere und solidarischere Welt gelebt wird. Zeichenhafte Vorwegnahme aber ist erst sinnvoll, wenn diese überlebensfähige Welt auch politisches Ziel wird.

Wie Versuche eines neuen Lebensstils sich totlaufen, wo kein gesellschaftliches Ziel sichtbar wird, auf das sie verweisen, so bleibt jeder politische Aufbruch in Richtung auf das Utopia der friedlichen Welt im Gestrüpp unzähliger Widerstände stecken, wenn nicht die Vorwegnahme der Utopie hier und heute immer wieder Zeichen der Hoffnung aufleuchten läßt.

Politik des Friedens hat nur eine Chance, wenn sie mehrheitsfähig wird. Sie kann nur Mehrheiten gewinnen, wenn die Kräfte zusammenfinden, die entweder von ihrer Tradition her einer Welt verpflichtet sind, in der Konflikte nicht mehr mit Gewalt ausgetragen werden oder die, vom Bewußtseinswandel des letzten Jahrzehnts erfaßt, der Realität totaler Bedrohung ihr unbedingtes Ja zum Leben und damit zum Frieden entgegensetzen.

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Dabei geht es nicht um ein parteipolitisches, sondern um ein soziales Bündnis zwischen klassischer Arbeiterbewegung und den «neuen sozialen Bewegungen», deren Realität und Gewicht bald niemand mehr wird leugnen können.

Welche Formen dieses Bündnis annehmen soll, muß der Einsicht nachgeordnet werden, daß es unerläßlich ist. Wenn sich diese Einsicht auf beiden Seiten durchgesetzt haben sollte, werden sich Formen finden lassen.

Entscheidend ist der Konsens in der Sache. Und da werden sich die neuen Bewegungen, allen voran die Friedensbewegung, nicht ihr Ziel abhandeln lassen, ihr Utopia von der lebensfähigen gewaltlosen, solidarischen Welt. Wir haben gesehen, daß diese Utopie lebensnotwendig geworden ist, daß sie die einzig konstruktive, Hoffnung schaffende Antwort auf die Möglichkeit des «zweiten Todes» ist.

Die Arbeiterbewegung wird, in mehr als einem Jahrhundert schlimmer und ernüchternder Erfahrungen gereift, vor allem auf die Realitäten verweisen, auf Machtstrukturen und Zwänge. Wir haben gesehen, daß niemand sich ungestraft an der Realität vorbeidrückt, daß aber die Realität erst voll in den Blick kommt, ergreifbar, begreifbar und gestaltbar wird, wenn im Hintergrund Utopia aufleuchtet. So wird das neue Bündnis vor allem damit beginnen müssen, daß beide Seiten die Spannung zwischen Utopie und Wirklichkeit aushalten.

Dies gelingt nur, wenn die neuen Bewegungen erkennen, daß die Vorwegnahme der Utopie nicht ausreicht, nicht den langen, ermüdenden Weg politischer Realisierung überflüssig machen kann, und wenn die alte, reifere, aber eben daher von Resignation und Anpassung bedrohte Arbeiterbewegung begreift, daß es nötig, hilfreich ist, die große Utopie im Kleinen vorwegzunehmen. Die Zeichen werden erst sinnvoll, wenn sie auch politisch etwas bewegen wollen, der politische Aufbruch zum Utopia der lebensfähigen Welt bedarf immer neuer Zeichen, wenn er nicht im Morast von Sonderinteressen und Korruption stecken bleiben soll. Weil Friedenspolitik auf Zeichen des Friedens angewiesen ist, braucht die klassische Arbeiterbewegung die neuen sozialen Bewegungen. Und weil Zeichen des Friedens nur Hoffnung geben, wo sie eine realistische Politik des Friedens ermutigen können, brauchen die neuen Bewegungen die Arbeiterbewegung.

Niemand weiß, wie nahe wir dem Utopia der gewaltlosen Weltgesellschaft je kommen werden. Niemand weiß vor allem, ob wir uns rasch genug auf dieses Ziel zubewegen können, um den Katastrophen zu entgehen, die uns noch in diesem Jahrhundert einholen können. Vielleicht dürfen wir dankbar dafür sein, daß wir es nicht wissen. Nur eines scheint klar zu sein: Unsere Chance zu überleben, als einzelne, als Volk oder als Gattung Mensch hat damit zu tun, von welchen Utopien wir uns leiten lassen: von der hoffnungslosen, tödlichen Utopie einer perfekten, errüstbaren, machbaren Sicherheit oder von der lebendigen Utopie einer lebensfähigen, gewaltlosen Weltgesellschaft.

Wer sein Leben so erhalten will, wie wir es bisher versucht haben, dürfte es verlieren. Wir müssen schon viel riskieren, Unsicherheit auf uns nehmen, Mut schöpfen, um es zu erhalten, es neu zu gewinnen. Und wir müssen auf dem Hintergrund der lebenschaffenden Utopie unsere Wirklichkeit so sehen, wie Hans Jonas sie beschreibt:

«Plötzlich steht das schlechthin Gegebene, als selbstverständlich Hingenommene, niemals fürs Handeln Bedachte: daß es Menschen gibt, daß es Leben gibt, daß es eine Welt hierfür gibt, im Wetterlichte der Bedrohung durch menschliches Tun. In eben diesem Lichte erscheint die neue Pflicht.»(3)

  • 3 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Ffm. 1979, S. 249

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