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XI   Auf dem Weg zur überlebensfähigen Welt      Eppler-1983

«Auch der Weg nach dem Utopia der überlebensfähigen Menschheit wird an Abgründen vorbei und über schmale und wacklige Stege führen. Auch die überlebensfähige Erde wird kein Ort vollkommener Sicherheit sein, sondern ein Planet, auf dem geboren und gestorben wird. Auch dort werden Menschen mitten im Leben vom Tod umfangen sein. Wer aus dieser Realität ausbrechen will, zerstört auch noch den Rest relativer Sicherheit, der uns als Menschen zukommt.»


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Wer sich unbeschwert und leichtfüßig nach Utopia aufmacht, weil die Wirklichkeit ihn nicht anficht, weil er sie nicht sehen kann oder gar nicht sehen will, ist in der Tat ein Träumer, vielleicht ein sympathischer, jedenfalls einer, der Wirklichkeit nicht gestalten wird. Solches Gestalten gelingt immer nur in der Spannung zwischen beflügelnder Utopie und ernüchternder Wirklichkeit. Umgekehrt: Wer sich nicht mehr nach Utopia aufmacht, weil er der Wirklichkeit kein Fünkchen Hoffnung mehr abgewinnen kann, wird nur die Lähmung verbreiten, die den nekrophilen Technokraten freie Bahn verschafft.

Wer uns versichert, der atomare Holocaust sei im nächsten Jahrzehnt äußerst wahrscheinlich, ohne anzugeben, wie dem zu steuern wäre, darf sich ein hohes Maß subjektiver Redlichkeit zubilligen lassen, letztlich beschleunigt er nur, ja er zieht herbei, was er befürchtet. Denn nichts macht den Holocaust wahrscheinlicher als der Glaube an seine Unvermeidlichkeit.

Es mag schon stimmen, daß die atomare Rüstung uns in die Situation des Bergsteigers in der Eiger-Nordwand gebracht hat, der plötzlich bemerkt, daß er sich «verstiegen» hat und daher den Gipfel nie erreichen wird. Natürlich ist dann der Abstieg nicht weniger lebensgefährlich als der Aufstieg. Gut, wenn das Bild vom verstiegenen Kletterer uns zur Umsicht mahnt. Schlimm, wenn daraus geschlossen wird, es sei nun alles gleich falsch und gleich hoffnungslos. Es sei falsch, neue Raketen aufzustellen, aber auch höchst gefährlich, dies zu unterlassen. Fehlt dem Träumer der Bezug zur Wirklichkeit, so fehlt dem Resignierten der Bezug zur Utopie.

Wie sehen die Konturen von Wirklichkeit aus, wenn sie sich von der Utopie einer gewaltlosen Weltgesellschaft abhebt? Zur Wirklichkeit gehört, daß alles menschliche Leben unsicher, Gefährdungen ausgesetzt, verletzbar, sterblich ist. Das «sichere Leben» - so der Titel einer Versicherungszeitschrift - gibt es nicht. Das wußte die Mutter, die in einer der Pest-Epidemien des späten Mittelalters keinem ihrer vielen Kinder helfen konnte, eines nach dem andern begrub, bis die Pest nach ihr selbst griff, sicher besser als wir heute. Trotzdem hat sich im Kern wenig verändert.

Nimmt man alle modernen Gefährdungen zusammen, vom Auto- oder Betriebsunfall über die Schwermetalle in der Nahrung, über Krebs und Herzinfarkt bis hin zur drohenden Austilgung durch Massenvernichtungsmittel, dann haben sich nur die Formen unserer Unsicherheit verschoben, der Grad unserer Sicherheit ist - bestenfalls - geblieben, wie er immer war. Und es ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, daß sich dies ändert. Nur eines ist klar: Es gibt kaum ein größeres Risiko als den Versuch, allen Risiken zu entlaufen. Der letzte Rest von Sicherheit könnte der technokratischen Utopie von der totalen Sicherheit zum Opfer fallen. Alles Nachdenken über Sicherheit endet in schäbigen Utopien, wenn es sich an der Grundbefindlichkeit unserer Unsicherheit vorbeimogelt.

Auch der Weg nach dem Utopia der überlebensfähigen Menschheit wird an Abgründen vorbei und über schmale und wacklige Stege führen. Man kann da abstürzen, ausgleiten, der Erschöpfung erliegen, überfallen werden. Auch die überlebensfähige Erde wird kein Ort vollkommener Sicherheit sein, sondern ein Planet, auf dem geboren und gestorben wird, auf dem junge Menschen an Krebs dahinsiechen, auf dem Menschen sich gegenseitig verletzen, physisch und psychisch, bewußt und noch mehr unbewußt.

Auch dort werden Menschen mitten im Leben vom Tod umfangen sein. Wer aus dieser Realität ausbrechen will, zerstört auch noch den Rest relativer Sicherheit, der uns als Menschen zukommt.

Politisch ist die realistische Frage also nicht: Sind die Alternativen zum Rüstungswahn sicher? Sondern: gibt es etwas, was bedrohlicher wäre als die schäbige Utopie der perfekten Sicherheit? Ist diese Frage mit Nein beantwortet, dann geht es lediglich darum, auf dem unvorstellbar langen Weg zur gewaltlosen Welt die einzelnen Strecken daraufhin zu untersuchen, welche etwas weniger unsicher sein könnte als die andere.

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Natürlich bieten die verschiedenen militärischen Defensivmodelle,(1) die heute von Afheldt bis Löser angeboten werden, keine «Sicherheit».

Natürlich machen sie einen Krieg nicht unmöglich. Natürlich wäre ein konventioneller Krieg schrecklich genug. Und es wäre nicht einmal völlig auszuschließen, daß er in einen atomaren Schlagabtausch eskalierte. Aber es ist auch nicht einzusehen, warum dadurch Krieg wahrscheinlicher werden sollte. Wenn das System von Drohung und Gegendrohung, das sich heute Abschreckung nennt, eine Dynamik zur Selbstaufhebung und Selbstauslösung in sich trägt, wenn weniger die Aggressivität des Gegners als die Eigengesetzlichkeit des Gegensatzes zur Entladung drängt, dann dürfte Umkehr allemal etwas weniger gefährlich sein als Fortsetzung.

Alfred Mechtersheimer nennt reine Defensivwaffen «abrüstungstauglich»,(2) weil sie in sich ein Element von «Vertrauensbildung, Transparenz, Nichtangriffserklärung» tragen. Der Schritt zur Abrüstung wird wohl erst möglich, wenn das unendliche Nullsummenspiel gegenseitiger Vernichtungsdrohung abgebrochen wird. Die Frage lautet also nicht: Führen reine Defensivwaffen in eine gefahrlose Welt? Auch nicht: Sind reine Defensivwaffen die «Lösung»? Die Frage lautet: Könnte eine Umstellung auf reine Defensivwaffen, die niemanden gefährden als einen wirklichen Aggressor, der in unser Territorium eindringt, könnte eine solche Umstellung von ständig gesteigerter Drohung und Gegendrohung auf so etwas wie «Verteidigung» Ängste mildern, Vertrauen fördern und damit Abrüstung erleichtern?

Läßt sich diese Frage mit einem Ja beantworten, und sei es noch so bedingt und angefochten, dann wäre eine «Umrüstung» als Schritt auf einem langen Wege sinnvoll. Und dann wäre schon eine einzige Geste der Umrüstung - kein neuer Kampfpanzer, kein neues Kampfflugzeug - hilfreich.

 

1 siehe auch Erhard Eppler, Wege aus der Gefahr, Reinbek 1981, S.212ff

2 Alfred Mechtersheimer, a. a. O., S. 157

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Natürlich garantieren atomwaffenfreie Zonen keine «Sicherheit», ganz gleich wie sie angelegt sind: Nicht der kleine Streifen entlang der Demarkationslinie, den die Palme-Kommission vorschlägt, nicht die Rapacki-Zone, die Deutschland, Polen und die CSSR umfaßt, nicht das atomwaffenfreie Europa, das alle Staaten einschließt, die selbst keine atomaren Sprengkörper herstellen.

Damit wären die atomaren Vernichtungsmittel nicht aus der Welt, sondern aus dem Lande. Wer die Bosheit des Gegners mehr fürchtet als die Selbstentzündung des Gegensatzes, wird sogar argumentieren, die Gefahr eines konventionellen Überfalls wachse dadurch. Nicht einmal davor sind solche Zonen absolut «sicher», daß - allen Beteuerungen der Atommächte zum Trotz - die atomare Vernichtung sie aussparen würde.

Auf jeden Fall aber können atomwaffenfreie Zonen die atomaren Kontrahenten auseinanderrücken und damit der rasanten Schrumpfung der Vorwarnzeiten Einhalt gebieten. Je knapper die Vorwarnzeiten, desto wahrscheinlicher, daß technische Pannen den Holocaust auslösen. Und darüber hinaus würde jede Atommacht noch einige zusätzliche Hemmschwellen zu überwinden haben, ehe sie die atomare Vernichtung in Länder trägt, in denen es Atomwaffen nicht gibt, aus denen für sie also keine atomare Bedrohung kommt.

Die Frage ist also nicht, ob atomwaffenfreie Zonen uns «sicher» machen. Die Frage ist, ob durch solche Zonen der Holocaust weniger wahrscheinlich wird und ob sie die Chance erhöhen, daß die Menschen in diesen Gebieten einen Schlagabtausch zwischen den Großen eher überleben. Lassen sich beide Fragen mit Ja beantworten, und sei das Ja noch so zögerlich, dann ist es richtig, auch diese Station auf dem Wege zur gewaltlosen Welt einzuplanen und anzusteuern. Mehr als eine Station wird es ohnehin nicht sein können.

Natürlich kann niemand dafür bürgen, daß ein einseitiger Schritt zur Abrüstung die Antwort der anderen Seite findet, auf die er setzt. Niemand kann ausschließen, daß die Gegenseite den Schritt, der Vertrauen schaffen soll, als Zeichen der

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Schwäche mißversteht, als Propagandatrick abtut oder einfach ignoriert.

Dies alles haben beide Seiten mehr als einmal getan. Als die Sowjetunion tausend Panzer aus der DDR abzog, hieß es, die seien ohnehin verschrottungsreif gewesen; als die USA tausend taktische Atomwaffen aus der Bundesrepublik entfernte, war die Antwort, da komme es auf tausend mehr oder weniger nicht an, es stünden da immer noch mehr, als sich je einsetzen ließen. Wenn in alledem ein Kern Wahrheit stecken sollte, so spricht dies nur dafür, solche einseitigen Schritte weniger halbherzig zu tun, etwas mehr dabei zu wagen.

Die Frage ist wiederum nicht, ob einseitige Rüstungsverminderung ein «sicherer» Weg zum Frieden ist. Die Frage lautet: Kann einseitiges Abrüsten den Prozeß der De-Eskala-tion, des Herunterschraubens der Rüstungen, in Gang setzen? Wie könnten die Schritte aussehen, bei denen die Chance am größten ist?

Im übrigen: Es gibt auch einseitige Schritte im Unterlassen. Auch wer an einem entscheidenden Punkt nicht weiter aufrüstet, kann die Rüstungsdynamik bremsen oder gar brechen. Dies ist eines von vielen Argumenten, die gegen die Stationierung neuer Mittelstreckenraketen in Europa sprechen. Vor allem aber beruht auf dieser Einsicht der Erfolg der wenigen, die in den USA aus der «freeze»-Initiative eine Massenbewegung gemacht haben.

Natürlich macht auch ein «freeze», wie ihn die amerikanische Friedensbewegung verlangt3 die Welt noch lange nicht «sicher». Wenn Entwicklung, Produktion, Erprobung und Stationierung neuer atomarer Sprengkörper wirklich gestoppt wäre, bliebe vorläufig das ganze Arsenal der Vernichtung intakt und erhalten. Nur: Wenn Reagan der Mehrheit seiner Landsleute, die das Einfrieren wollen, entgegenhält, Einfrieren reiche nicht, man müsse die «Waffen» reduzieren, so ist dies durchsichtige Heuchelei:

3 siehe Randall Forsberg, Stopp der Atomrüstung. Spektrum der Wissenschaft, Jan. 1983, S. 16ff

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Sein Vorschlag, beide Seiten sollten ihre strategischen Waffen um ein Drittel vermindern, dann aber dürfe keiner mehr als die Hälfte seiner Interkontinentalraketen auf dem Lande stationiert haben, würde die Sowjetunion zwingen, die Hälfte ihrer landgestützten Raketen zu verschrotten, und ihr gleichzeitig - theoretisch - erlauben, neue, enorm teure U-Boote zu bauen, während die USA ihre landgestützten Raketen behalten könnten.

Da ist der Gedanke des Einfrierens doch redlicher, denn er verlangt von beiden Seiten dasselbe. Er ist realistischer, denn er läßt sich notfalls durch einseitige, befristete Willenserklärung verwirklichen, wobei der andere dann unter den Druck einer Weltmeinung gerät, die eine Weigerung als politisch äußerst kostspielig erscheinen ließe. Er ist einfacher, so daß jeder ihn verstehen kann. Schließlich läßt sich ein «freeze» leichter nachprüfen, einfacher verifizieren als jede andere Form der Rüstungskontrolle.

Das Festschreiben der Atomrüstung könnte vor allem, wie Ted Kennedy und Mark Hatfield betonen, «dem Aufbau einer Erstschlagskapazität beider Seiten zuvorkommen»,4 also den Prozeß der DeStabilisierung gerade noch rechtzeitig stoppen, der in diesem Buch beschrieben wurde. Es bliebe dann dabei, daß, wer als erster schießt, als zweiter stürbe, und es käme nicht dazu, daß jeder in permanenter Versuchung lebt, loszuschlagen, weil er dem Entwaffnungsschlag des andern meint zuvorkommen zu müssen. Das wäre wiederum keine «Lösung», aber ein Zeitgewinn, der genutzt werden könnte zur stufenweisen Abrüstung. Wer eine Dynamik der Abrüstung in Gang setzen will, muß erst einmal die Dynamik der Aufrüstung brechen.

Es ist kein Ruhmesblatt deutscher Geschichte, daß die Bundesrepublik Deutschland am 14.12.82 in der UNO zusammen mit ihrem großen Verbündeten gegen das dort vorgeschlagene Einfrieren der Atomrüstung stimmte, während sämtliche Ostblockstaaten dafür votierten. Schlimmer ist,

4 Edward M. Kennedy und Mark O. Hatfield, Stoppt die Atomrüstung, Reinbek 1982, S. 163

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daß nur wenige deutsche Zeitungsleser dies bemerkt haben, weil kaum eine deutsche Zeitung dafür mehr als ein paar Zeilen im Innern ihres Blattes übrighatte.

Natürlich brächte eine Auflösung der Militärblöcke in Europa keine «Sicherheit». Die Blöcke haben ja auch innereuropäische Streitigkeiten - etwa zwischen Rumänien und Ungarn, Großbritannien und Irland oder der Türkei und Griechenland - gedämpft oder entschärft. Natürlich hat alles, was die Blockdisziplin mindert, seine eigenen Risiken, die man gewöhnlich mit dem vielseitig brauchbaren Wort «Destabili-sierung» umschreibt. Alte Nationalismen könnten wieder aufleben. Aber wenn die Logik der Blöcke letztlich die Konfrontation der Supermächte zum beherrschenden Gesetz aller Politik und aller Strategie erheben muß, dann ist alles gut, was die Blöcke auflockert, was Freiräume innerhalb der Blöcke nützt oder neu schafft, was gemeinsames Handeln über die Blöcke hinweg ermöglicht. Auf dem Weg zur gewaltlosen Welt liegt irgendwo, sicher nicht am Anfang, auch die Auflösung der Blöcke, ihre Überführung in ein System gemeinsamer Sicherheit. Wenn, wie der Palme-Bericht sagt, «Sicherheit» nicht mehr gegen den andern, sondern nur mit ihm zu finden ist, dann ist die Konsequenz daraus die gemeinsame, «kollektive» Sicherheit. Dabei kann man durchaus bei der Realität der Blöcke ansetzen, aber man wird ihre Bedeutung relativieren, sie weniger notwendig und schließlich entbehrlich machen müssen.

Keiner der hier genannten Zwischenschritte schließt den andern aus. Im Gegenteil: Sie könnten sich sehr wohl ergänzen, einer könnte zum andern führen. Es ist auch nicht nötig, sich heute schon um die Reihenfolge der Schritte zu streiten. Worauf es ankommt, ist, an die Stelle einer Dynamik der Aufrüstung eine Dynamik der Abrüstung zu setzen. Diese Gegendynamik erst einmal anzustoßen - gegen sämtliche Rüstungslobbys, gegen die Technokraten der «Sicherheit», gegen alle Ängste und Trägheiten -, dies ist die Aufgabe, an der wir, gegen alle Erfahrung, nicht verzweifeln dürfen. Daher muß alles, was diese umgekehrte Dynamik auslösen könnte,

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versucht werden. Ist sie einmal in Gang gebracht, ergibt sich ein Schritt aus dem anderen.

Auch das radikalste Modell, Theodor Eberts «Soziale Verteidigung»,5 also der zivile gewaltlose Widerstand durch Verweigerung jeder Kooperation mit Besatzern, läßt sich zwar nicht einfach mit militärischen Modellen kombinieren, aber es läßt sich sehr wohl vorbereiten für eine spätere Phase im Prozeß der Abrüstung. Der - unbestreitbare - Tatbestand, daß Eberts Modell heute noch nicht mehrheitsfähig ist, daß es - wie könnte es anders sein - Risiken in sich birgt, die eine Mehrheit heute noch verschrecken, spricht nicht dagegen, es schon heute in das Bewußtsein der Menschen zu heben. Es ist gut, wenn wir, mag dies für manchen auch als Schock wirken, mit dem Gedanken vertraut gemacht werden, daß wir ganz ohne Waffen sogar heute schon sicherer wären, als wir es auf der hoffnungslosen Jagd nach der perfekten militärischen Sicherheit sind.

Zu der Realität, der wir uns stellen müssen, wenn wir uns nach dem Utopia der gewaltfreien Konfliktlösungen aufmachen, gehört nicht nur die Anerkennung, die bewußte Annahme unaufhebbarer Unsicherheit, die sich immer nur graduell vermindern läßt. Dazu gehört auch, daß wir das schwer deformierte Verhältnis erkennen zwischen Politik und Rüstung, zwischen politischer Gestaltungskraft einerseits, strategischer Planung und waffentechnischer Entwicklung andererseits. Die Formel des Harmel-Berichts (1967), daß die Strategie der NATO auf zwei Säulen ruhe, einmal der militärischen Sicherheit, zum andern der politischen Entspannung, war zu Beginn der siebziger Jahre nützlich. Sie ist heute noch handlich, wenn Politiker zu erklären haben, warum der politischen Entspannung keine militärische Abrüstung gefolgt ist. Aber sie stimmt nicht mehr, sofern sie jemals gestimmt haben sollte. Heute ist es die Dynamik der Rüstung, die alle Friedenspolitik zu überrollen und niederzuwalzen droht. Es ist einfach nicht mehr möglich, daß man sich in Eu-

5 Theodor Ebert, Soziale Verteidigung, Waldkirch 1981

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ropa gegenseitig mit immer präziseren Raketen bedrohen und gleichzeitig «Entspannungspolitik» betreiben kann. Denn solche Raketen schaffen, zumal wenn die Vorwarnzeiten schrumpfen, Nervosität, Bedrohungsängste, Spannung, die notwendig auch die Politik ergreift.

Was den Westen angeht, so bestimmt die amerikanische Utopie von der Handlungsfreiheit in aller Welt durch die perfekte Abschreckung des - unterlegenen - Gegners, die Utopie von der Pax Americana, gleichzeitig die militärische und politische Strategie, Rüstung und Außenpolitik. Schlimmer: Hier verkommt Politik zum Büttel der Strategie, auch und gerade, wenn es den Atomstrategen nicht gelingen dürfte, der Politik den erträumten Handlungsspielraum freizuboxen.

Reagans Embargo-Politik gegen Polen und die Sowjetunion war Ausfluß einer militärisch-politischen Strategie. Dies gilt auch für den Versuch, die Europäer vom Gas-Röhrengeschäft abzubringen. Politisch entspricht dem militärischen Ziel des gewinnbaren - und dann nicht mehr nötigen -Atomkrieges nicht die Entspannung, sondern der Kalte Krieg in seiner bittersten Form. Dazu gehört die ökonomische Schwächung des Gegners. Daran läßt die Reagan-Regierung selbst keinerlei Zweifel.

Mancher, der schon zu Beginn der siebziger Jahre am Ringen um den Frieden teilnahm, dürfte mit Schrecken gewahr werden, wie inzwischen die Ebenen der Argumentation gewechselt haben. 1972 wurde gestritten um die Oder-Neiße-Grenze, um den freien Zugang zu Berlin, um das Verhältnis der zwei deutschen Staaten zueinander, um Verständigung, ja Versöhnung mit Polen, um einen neuen Ansatz gegenüber der Sowjetunion. Kurz: es ging um Politik.

Wenn heute um Frieden gestritten wird, werden Raketen und Sprengköpfe gezählt. Es werden Raketenlücken beschworen - die es, wenn überhaupt, damals auch schon gab -, es wird über die Vollständigkeit und Glaubhaftigkeit der «flexiblen Antwort» diskutiert, es werden - mehr oder minder manipuliert - militärische Gleichgewichtsrechungen aufgemacht, Divisionsstärken verglichen und verrechnet. Von Poli-

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tik ist da kaum mehr die Rede. Wie die Wirtschafts-Technokraten die Innenpolitik immer mehr zur Konjunktur- und Wachstumspolitik schrumpfen ließen, schnurrt Außenpolitik immer mehr zur Nebenfunktion einer - überdies illusionären - Militärstrategie zusammen.

Wo immer technokratische Rechenkünste, zumal wenn sie im Dienste schäbiger Utopien stehen, sich an die Stelle politischer Gestaltung setzen, bewegen wir uns auf das Ende einer Sackgasse zu. Nirgendwo ist dies gefährlicher, nirgendwo ist das Ende der Sackgasse so nah wie in dem Bereich des Verhältnisses zwischen den Staaten. Wo immer Militärtechnokraten ihre Vorgaben nicht von einer klar formulierbaren, für jeden erkennbaren Friedenspolitik bekommen, wo statt dessen der Handlungsspielraum auswärtiger Politik von militärischen Zielsetzungen abgesteckt und eingeengt wird, läßt sich die Katastrophe absehen, vielleicht sogar errechnen. Daher ist die Wiedereinsetzung der Politik in ihre Rechte und Pflichten nirgendwo dringlicher als in der Außenpolitik.

Wenn heute der Primat der Politik nur noch in Sonntagsreden vorkommt, hat dies seinen guten Grund: Außenpolitik verlangt neben der sauberen Analyse politischer Kräfte und Interessen auch Phantasie, die Fähigkeit, sich die Beziehungen zwischen Völkern und Staaten anders, besser, fruchtbarer, konstruktiver vorzustellen, als sie heute sind. Außenpolitik, die nur das Bestehende mehr schlecht als recht verwaltet, wird, ob sie es will oder nicht, eher früher als später zum Erfüllungsgehilfen der Militärstrategie degradiert. Umgekehrt: An einen Primat der Politik gegenüber dem Militär ist nur dann zu denken, wenn es eine Politik gibt, die diesen Namen verdient.

Politik ist mehr als Verwaltung. Wo sie nicht mehr sein will, ist sie bald weniger. Wo Politik nur verwalten will, entgleitet ihr schließlich auch die Verwaltung. Politik kann nicht ohne langfristige Ziele leben, nur dann kann sie gestalten, Menschen bewegen. Auch Außenpolitik lebt in und von der Spannung zwischen Vision und Realität.

Eine Vision deutscher Außenpolitik könnte das ganze, in sich vielgestaltige, aber eben doch durch gemeinsame Tradi-

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tionen, Interessen und Aufgaben zusammengehaltene Europa sein, ein ganzes Europa des Friedens und der Partnerschaft mit den anderen Teilen der Erde, besonders der Dritten Welt. Daß dieses Europa auch dem geteilten Volk in seiner Mitte wieder erlauben könnte, näher zusammenzurük-ken, wäre nicht sein Zweck, vielleicht aber eine seiner Auswirkungen. Dabei ginge es gerade nicht darum, den alten Nationalstaat der Deutschen wieder herzustellen, wohl aber darum, Mauer und Stacheldraht auf Grenzen zu reduzieren, die mit der Zeit ebenso ihr Trennendes verlieren müßten wie andere Grenzen auch. Ist dieses Europa ein Fernziel, dann wäre die unmittelbare Aufgabe deutscher Außenpolitik, in ganz Europa neues Vertrauen, ja ein Gefühl der europäischen Solidarität wachsen zu lassen. Und dazu käme eine andere: Der Dritten Welt zu vermitteln, daß die Deutschen, ähnlich wie heute schon Skandinavier und Niederländer, ihre ökonomische Kraft nicht gebrauchen wollen, um immer aufs neue das Recht des Stärkeren gegen die vielen Schwachen durchzusetzen, sondern vor allem dazu, den armen Ländern neue Lebenschancen zu öffnen.

Vielleicht war der einzige bleibende Erfolg der Deutschen in Europa in den letzten Jahren - die Versöhnung mit dem polnischen Volk - nicht das Werk kluger Diplomatie, sondern die Folge einer menschlichen Geste - des Kniefalls von Willy Brandt - und der Bereitschaft von Millionen Bürgern, den bedrängten polnischen Nachbarn zu helfen. Es waren wohl vor allem Frauen, die hier etwas bewirkt haben, was für die europäische Geschichte wichtiger ist als jene unendliche Serie von offiziellen Besuchen, die meist mehr der Publizität der Minister dienen als dem Vertrauen zwischen den Völkern.

Sogar die Bürokraten im Kreml haben immer gespürt, daß sich «Entspannung» - übrigens kein gutes Wort, da es keine Perspektive hat - nicht verwalten läßt, daß konstruktive Politik sich langfristige Ziele setzen muß, weil sie ohne Vision nicht auskommt.

Wir haben dies vergessen und finden uns jetzt in einer Lage wieder, wo alle Außenpolitik nur noch um die Frage kreist, ob wir es uns leisten können, die militärischen Wünsche einer amerikanischen Regierung nicht zu erfüllen. Wer uns jetzt rät, die Raketen erst einmal zu stationieren und dann wieder auf Politik zu setzen, geht an der Wirklichkeit vorbei. Jetzt reicht es auch nicht mehr, einfach die Raketen Raketen sein zu lassen und nach Friedenspolitik zu rufen. Denn Politik muß sich nun, ob sie will oder nicht, erst darin bewähren, daß die Raketen uns erspart bleiben, an denen vorbei es Friedenspolitik kaum geben kann. Jetzt muß das Nein zu einer militärischen Strategie - zu der die Raketen gehören - Ansatzpunkt und Auftakt zu einer Politik des Friedens werden. Erst wenn die technokratische Utopie der perfekten Sicherheit uns nicht mehr dem Tode entgegenführt, wird Politik des Friedens möglich, aber auch unerläßlich.

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