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VII  Sprache ohne Wirklichkeit    Eppler-1983

 

«Wo Krieg nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, nicht mehr bewaffneter Streit, ein begrenztes militärisches Kräftemessen, sondern schlicht Auslöschung bedeutet, ist <Frieden> auch nicht mehr einfach das, was vor dem <Krieg> war und danach wieder sein wird, nicht mehr das Ende oder das Ausbleiben des Kampfes. Wo <Krieg> ein anderes Wort für <Tod> wird, muß <Frieden> ein anderes Wort für <Leben> werden.»


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Wie kommt es, daß intelligente, friedliebende Völker sich Regierungen wählen, die den Weg in den Tod als Weg zur Sicherheit, ja zur Unverwundbarkeit ausgeben? Wie ist es möglich, daß viele Menschen das Tödliche in jener schäbigen Utopie gar nicht wahrnehmen?

Ein Grund mag darin liegen, daß Sprache und Wirklichkeit nirgendwo so weit voneinander entfernt sind wie da, wo über Sicherheit nach außen gesprochen wird. Nicht nur die Sprache der Experten, unsere eigene ist oft außerstande, Wirklichkeit zu fassen, zu greifen, in den Griff zu bekommen. Die Sprache, in der heute Leitartikel über Krieg und Frieden zusammengestoppelt werden, fängt keine Wirklichkeit ein, sie bekommt sie gar nicht in den Blick, sie verhüllt und verformt Wirklichkeit, manchmal mit, meist aber ohne Absicht. Wie soll menschliche Einsicht und menschlicher Wille zum Frieden führen, wenn menschliche Sprache die Wirklichkeit verfehlt, die es da zu gestalten gälte? Es gibt mehrere Wege, sich sprachlich an der Wirklichkeit unserer Tage vorbeizudrücken: den romantischen Weg, den technokratischen und den der bewußten Irreführung.

Romantisch nenne ich den Versuch, die Wirklichkeit von heute in einer Sprache einzufangen, die aus einer längst verschwundenen Zeit stammt. Wir leben, ob wir wollen oder nicht, mit einem sprachlichen Erbe, das die Realitäten der Lutherzeit besser trifft als die der unseren.

Wir sprechen von Verteidigung. Wir haben nicht mehr, wie noch in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts, ein «Kriegsministerium», sondern ein «Verteidigungsministerium». Und wer «für Verteidigung» ist, klebt sich auf sein Auto einen Igel: So wie der Igel mit seinen Stacheln, sollen wir uns wohl mit Raketen «verteidigen». Dabei ist der Igel das klassische Beispiel passiven Widerstandes. Er rollt sich ein, tut nichts, läßt den Hund bellen, solange, bis dieser aufgibt. Und wenn der Hund nachher etwas Blut an der Schnauze hat, dann ist das seine Schuld und im übrigen nicht weiter schlimm.

Wenn unseren Kriegsdienstverweigerern die Frage gestellt wird, ob sie wohl, wenn jemand ihre Mutter oder ihre Freundin überfiele, diese verteidigen würden, dann wird der ursprünglichste menschliche Akt des Beschützens in eins gesetzt mit dem, was moderne Vernichtungsmaschinerien an Drohung und Gegendrohung produzieren.

In den Schulen soll «Verteidigungsbereitschaft» geweckt werden, als ob der junge Soldat, der entschlossenen Blickes mit dem Karabiner in der Hand seine Lieben in der Heimat beschützt, etwas anderes wäre als schlechte Romantik. Meinungsforscher stellen die Frage, wer bereit wäre, im Notfall «sein Vaterland zu verteidigen» und bekommen meist die Antwort «ja», gelegentlich auch ein «Nein», aber sie hören nicht, was wirklich dazu zu sagen wäre: «Was soll die Frage, die vielleicht vor hundert Jahren noch einen Sinn gehabt hätte!» Der größte Teil der Wehrpropaganda verführt die Menschen dazu, auf raffiniert falsche Fragen harmlos falsche Antworten zu geben.

Es mag die romantische Vokabel von der Verteidigung gewesen sein, die uns Zentraleuropäer übersehen ließ, daß die nun schon zwei Jahrzehnte gültige Doktrin von der «flexiblen Antwort» im Kern nichts anderes ist als unsere Drohung mit kollektivem Selbstmord. Denn wenn einmal der Schlagabtausch mit taktischen Atomsprengsätzen beginnt - und dies gehört nun einmal zur flexiblen Antwort -, dann beginnt der Holocaust auf dem engen Raum des dicht besiedelten Zentraleuropa. Mit dieser Doktrin sagen wir der Sowjetunion: «Wenn ihr uns angreifen wollt, werden wir uns notfalls alle umbringen oder umbringen lassen und so viele von euch wie möglich mitnehmen.»

Was immer sonst für oder gegen diese Strategie vorzubringen wäre, mit Verteidigung hat sie nichts zu tun, allenfalls mit Abschreckung. Aber dies bedeutet eben, daß, sobald die Abschreckung versagt, sobald es wirklich zum Schlagabtausch kommt, mit der physischen Existenz des eigenen Volkes gespielt wird.

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Kurz: wer so unbeschwert von Verteidigung spricht wie die jeweils dafür zuständigen Minister, muß in die Wirklichkeit zurückgeholt werden. Er muß gezwungen werden, sich der Realität zu stellen, auf die er sich so selbstzufrieden zu berufen pflegt.

Zu den romantischen Mißverständnissen gehört wohl auch das Reden vom Angreifer oder, wie es meist heißt, vom «potentiellen Angreifer». Es gab Zeiten, da war nicht der leiseste Zweifel, wer angegriffen hatte. Als Friedrich II. von Preußen 1740 in Schlesien einfiel, zweifelte niemand - er selbst eingeschlossen - daran, wer der Angreifer war. Natürlich suchte er irgendwelche Urkunden heraus, die seinen Angriff begründen sollten, aber das war Beiwerk. Schon im Ersten Weltkrieg stritt man sich darum, ob das Deutsche Reich, das Rußland und Frankreich den Krieg erklärt hatte, wirklich der Angreifer war. Hatte nicht der Zar schon vorher seine Armeen mobilisiert? Wollte nicht die deutsche Offensive im Westen den Franzosen zuvorkommen?

Sollte einmal der Funke eines Konflikts in der Dritten Welt (etwa in Nahost) auf Europa überspringen, weil beide Weltmächte ihr Gesicht nicht verlieren wollen - und dieses «Szenario» ist sehr viel wahrscheinlicher als der unprovozierte Überfall des einen auf den andern -, so ist nur eines sicher: daß jede Seite behaupten wird, sie werde angegriffen und müsse zurückschlagen, zumal beide - durchaus redlich - für sich in Anspruch nehmen, sie wollten das Gemetzel nicht. Was dann die Wahrheit ist, wird zumindest für alle, die unmittelbar betroffen sind, kaum mehr auszumachen sein. Waren die Pershing II schon gestartet, als die SS 20 losschlugen? Oder waren sie nur in höchster Alarmstufe? Waren die Sprengköpfe der Sowjets schon in der Luft und wenn ja, waren sie schon scharf, als ...

Es gibt unzählige Varianten solch makabrer Fragen, die sich jedenfalls zu dem Zeitpunkt nicht beantworten lassen, wenn man dem Bürger sagt, er werde überfallen. Zwischen

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Angreifer und Angegriffenem läßt sich um so weniger unterscheiden, je weiter die Vorwarnzeiten schrumpfen. Vielleicht geht es da wirklich, wie Peter Bender meint,1 weniger um den Gegner als um den Gegensatz, den Gegensatz, der seine eigene Dynamik entwickelt und beide gleichzeitig zu Angreifern und Opfern, zu Mördern und Gemordeten macht?

Auch das Wort «Krieg» verdeckt mehr Realität, als es benennt. In Kriegen, soweit sie nicht rein dynastische, für die Menschen belanglose Interessenkonflikte austrugen, ging es allenfalls darum, wie Menschen leben sollten oder wollten, nach ihren eigenen Wertvorstellungen oder nach denen anderer, in ihrer eigenen Kultur und Sprache oder unter dem Druck einer anderen, reicher oder weniger reich, selbstbestimmt oder fremdbestimmt. Sicher war die Rhetorik der Herrschenden meist meilenweit entfernt von den Interessen der Menschen, aber es gab schon Kriege, vom Bauernkrieg bis zum Zweiten Weltkrieg, in denen darüber entschieden wurde, wie Menschen leben sollten.

Sobald allerdings das atomare Inferno über Zentraleuropa hereinbricht, geht es nicht mehr darum, wie wir künftig leben werden, sondern ob überhaupt noch eine Gesellschaft, ein Volk übrigbleiben wird, das weiterleben könnte. Ist das dann noch Krieg? Kann man noch für die Freiheit kämpfen, wenn es nachher niemanden mehr gibt, der frei oder unfrei sein könnte? Tote Menschen sind weder frei noch unfrei, sie sind tot. Der Arbeitsbericht vom 30.6.1982 über die Konsultationen zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR hat dazu ausgeführt:

«Für unsere Situation müssen wir erklären:

Kein Ziel oder Wert kann heute die Auslösung eines Krieges rechtfertigen. Die Abwesenheit des Krieges ist die Voraussetzung für die Verwirklichung von Menschenrechten, von

  • 1 auf der Friedenstagung des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Bad Boll, November 1982, abgedruckt in EPD-Dokumenta-tt'o« Nr. 6/83, S. 25ff

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Freiheit und Gerechtigkeit. Die Kirche hat die Verpflichtung, darauf hinzuweisen, daß ein Krieg Freiheit und Gerechtigkeit und mit ihnen die Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben nicht verteidigt, sondern vielleicht sogar unwiederbringlich zerstört.»

Ist das, wovor dieser Bericht warnt, noch «Krieg»?

Der Wiener Kardinal König hat die Wurzel unseres sprachlichen Unvermögens offengelegt:

«Das Langsamste auf dieser Welt ist die Entwicklung des menschlichen Denkens. Unsere Technik ist uns um große Schritte voraus. Unsere Phantasie, unsere Vorstellungen, unser Vorstellungsvermögen ist zurückgeblieben.

Unser Denken verläuft in den Bahnen vergangener Zeiten. Wir reden von Dingen, die es nicht mehr gibt. Wir legen Denkmuster an Vorgänge, die ohne Vorgang sind. Die Wirklichkeit ist stärker als unsere Vorstellungskraft.

Wir reden vom Krieg, wie die Menschen seit Jahrhunderten vom Krieg geredet haben. Wir reden vom Krieg, weil wir kein anderes Wort haben. Aber ist das, was uns heute droht, in aller Furchtbarkeit droht, nur ein Krieg? Kann man das noch als Krieg bezeichnen? Im Krieg hat es immer Vernichtung gegeben. Aber immer ist noch jemand dagewesen, um nachher zu weinen, zu klagen, die Toten zu bestatten und wieder neu anzufangen über Trümmern, Schutt und Rauch. Doch nach der totalen Vernichtung wird es niemanden mehr geben, der klagen kann und neu beginnen. Der Mensch kann sich das nicht vorstellen. Darum nennt er noch immer Krieg, was nicht Krieg ist.

Krieg und <Atomkrieg> können und dürfen nicht in Verbindung gebracht werden. Mit Atombomben und Atomstrahlen kann man keinen Krieg führen, damit kann man nur die gesamte Menschheit ausrotten. Kriegführen und der Einsatz von Atomwaffen widersprechen einander von Grund auf.

Wenn wir erkennen, daß die große Vernichtung nicht als Krieg bezeichnet werden kann, dann fällt auch alles weg, was Menschen sich ausgedacht haben, um Kriege zu regulieren), zu <moralisieren>, zu <domestizieren>. Es fällt weg der

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so lang verwendete und so oft mißbrauchte Begriff vom gerechten Krieg. Was heißt hier noch gerechter Krieg? Auch das Wort vom Verteidigungskrieg .ist in diesem Zusammenhang ein sinnloses Wort geworden. Was soll und von wem verteidigt werden?»2

Daß Vernichtung etwas anderes ist als Krieg, haben zuerst die Militärstrategen gespürt, daher ihr verzweifeltes Bemühen, atomaren Schlagabtausch wieder kalkulierbar, begrenzbar, führbar und gewinnbar zu machen. Zumindest für Europa haben sie den Krieg damit nicht gerettet. Wir alle benutzen nach wie vor das Wort «Krieg». Es läßt sich - so wie unser Wortschatz beschaffen ist - nicht vermeiden. Aber wo immer wir - und andere - es gebrauchen, müssen wir wissen: Wir verharmlosen die Realität.

Wo Krieg nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, nicht mehr den bewaffneten Streit, ein zeitlich begrenztes militärisches Kräftemessen, sondern schlicht Auslöschung bedeutet, ist «Frieden» auch nicht mehr einfach das, was vor dem «Krieg» war und danach wieder sein wird, nicht mehr das Ende oder das Ausbleiben des Kampfes. Wo «Krieg» ein anderes Wort für «Tod» wird, muß «Frieden» ein anderes Wort für «Leben» werden. Dann ist das Gegenteil von Frieden nicht mehr Unfrieden, Konflikt, Streit, sondern Tod. Frieden, das ist der Zustand, in dem Leben möglich ist. Umgekehrt: Wo Leben, pflanzliches, tierisches, vor allem aber menschliches Leben sich entfaltet, sich erfüllt, sich feiert, wird dies heute als Zeichen des Friedens empfunden. Ökologiebewegung und Friedensbewegung hätten sich nicht so nahtlos verschmelzen können, wären sie nicht beide ein Aufstand des Lebens gegen den Tod, ein Aufstand des Lebendigen gegen das Nekrophile, Todessüchtige in der technisierten Welt.

Von daher ist es nicht mehr ganz korrekt, «inneren Frieden» - wie dies politische Parteien tun - in eine Parallele zum «äußeren Frieden» zu setzen. Wenn innerer Friede weniger Streiks, Demonstrationen oder einfach weniger Konflikte

  • 2 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3.3.1982, S. 10

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meint, so hat dies nicht mehr viel zu tun mit dem Frieden, der Leben heißt. Innerer Konflikt, etwa um die Wege zum Frieden , kann sehr wohl ein Zeichen der Lebendigkeit sein, dafür, daß Menschen sich technokratisch-nekrophilen Zwängen widersetzen.

So richtig es ist, daß Friedensbewegung nicht nur Frieden fordern, sondern praktizieren und ausstrahlen muß, so deplaziert sind die abwiegelnden Ermahnungen, wer für Frieden sei, solle erst einmal seine Mitmenschen in Frieden, also in Ruhe lassen. Wenn schon Polizeipräsidenten gestehen, drei große Friedenskundgebungen machten ihnen weniger Sorgen als ein Fußballspiel der Bundesliga, dann sind die Quellen gewalttätigen Unfriedens nicht ausgerechnet in der Friedensbewegung zu suchen.

Wenn bei dem, was wir immer noch «Krieg» nennen, die Dimension der Auslöschung nicht in den Blick kommt, führt die Parallele zwischen innerem und äußerem Frieden in die Irre. Dies gilt auch für die «zehn Gebote für den Frieden», die der Vorsitzende der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland, Trutz Rendtorff, in die kirchliche Friedensdiskussion eingeführt hat. Nicht von ungefähr ist da von Massenvernichtungsmitteln gar nicht die Rede, wohl aber davon, «daß auch der Schutz und die Verteidigung des Lebens vor dem Angreifer noch die Bereitschaft einschließen, notfalls zur Waffe zu greifen».3

Wo Begriffe wie «Verteidigung», «Angreifer» oder auch «Waffe» so gebraucht werden, als lebten wir noch im 19. Jahrhundert, wird Friede ganz von selbst der Gegensatz zu Unfrieden, Unfriede die harte, auf ein Ergebnis drängende Austragung von Konflikten. Da kann man dann auch behaupten: «Wir dienen dem Frieden konkret, wenn wir gelungene Formen und Strukturen des Friedens wahren und aufrechterhalten und nicht um eines globalen Friedens willen konkrete Ordnungen des Friedens verraten und verlassen. Das ist

  • 3 Die Zehn Gebote für den Frieden, neuformuliert und ausgelegt von Trutz Rendtorff, Sonderdruck 1983, S. 6

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heute ein sehr reales Problem in der Friedensbewegung unserer Tage.»4

Abgesehen davon, daß Ausdrücke wie «verraten» jede Friedensdiskussion vergiften müssen - Verräter hat man zu allen Zeiten umgebracht -, so beweist sich hier Friedenswille im Bekenntnis zum Bestehenden, dessen friedenstiftende Kraft nicht um des «globalen Friedens», also des Lebens willen gemindert werden darf. So richtig es ist, daß die Formen, in denen der Streit um den Frieden auszutragen ist, dem Ziel des Friedens angemessen sein müssen, so schief ist eine Argumentation, die den Aufstand für das Leben schon deshalb abwerten will, weil er nicht abgeht ohne Konflikte, die auch bestehende Strukturen in Frage stellen.

Auch das Wort «Waffe» verharmlost. Darauf hat Günther Anders schon 1962 verwiesen.5

Mit «Waffe» wird das Stilett bezeichnet, mit dem ein Mensch bedroht oder gar getötet werden kann, aber auch die Wasserstoffbombe, die Millionen von Menschenleben auslöscht. Wo schlägt da die Quantität in neue Qualität um? George Kennan bestreitet, daß atomare Sprengkörper Waffen seien:

«Von vornherein müßte ich bestreiten, daß diese Massenvernichtungsmittel - die sogenannten Kernwaffen - wirklich Waffen sind, daß sie diese Bezeichnung verdienen. Eine Waffe ist etwas, womit man versucht, auf Ziele und Vorstellungen eines Gegners einzuwirken. Sie ist nicht etwas, womit man blindlings die ganze Zivilisation dieses Gegners (und wahrscheinlich auch die eigene) restlos zerstört.»6

Auch dies haben zuerst die Militär-Technokraten begriffen. Aber wenn eine Megatonnen-Bombe keine Waffe mehr ist, dann vielleicht eine von fünf, sieben oder 15 Kilotonnen, die «nur» so gewaltig ist wie die von Hiroshima oder gar nur halb so stark? Es ist das bewußte Ziel strategischer Planer,

  • 4 a.a.O., S. 7

  • 5 Günther Anders, a. a. O., S. 126

  • 6 Rede bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, Frankfurt 1982

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den Unterschied zwischen Waffen und Massenvernichtungsmitteln zu verwischen, die «Atomschwelle zu erniedrigen». Und sie profitieren davon, daß wir selbst, wollen wir ihren tödlichen Utopien auf die Spur kommen, dem Wort «Waffe» oft nicht ausweichen können. Nur: es benennt eine neue, nie dagewesene Wirklichkeit mit einem Wort, das zu eng und zu harmlos ist, diese Wirklichkeit zu fassen.

Der zweite Weg vorbei an der Wirklichkeit ist die Sprache der Technokraten. Das einzige Wort in der Sprache der Planer, das die menschliche Dramatik unserer Situation einigermaßen aufnimmt, heißt «Brudermord». Aber eben dieses eine Wort bezieht sich nicht auf Menschen oder Völker, sondern auf Atomsprengköpfe, die sich, wenn sie zu nahe beieinander und nicht exakt im selben Moment detonieren, gegenseitig unschädlich machen können. Dazu paßt, daß der Ausdruck «survivability» (Überlebensfähigkeit) selten für Menschen, sondern meistens für Raketen benutzt wird. Dafür nennt man das Verbrennen und Verdampfen von Hunderttausenden, die bei einem atomaren Schlagabtausch gegen mehr oder minder «militärische» Ziele nebenbei umkommen, «collateral damage» (Neben-Schaden).

Wo es nicht um atomare Sprengsätze, sondern nur um Menschen geht, ist die Sprache sehr viel blasser, meist völlig abstrakt. Das beginnt bei der Unzahl von Abkürzungen, hinter denen jeweils das Inferno lauert. Der gesamte Wortschatz setzt an die Stelle der Wirklichkeit die Abstraktion - oder das falsche und verharmlosende Bild. Im Kauderwelsch der Strategen wird die Atomschwelle gesenkt, wenn der Übergang zum atomaren Holocaust rascher und leichter vor sich gehen kann. Wenn die USA den Europäern versichern, sie würden bei einem Konflikt in Europa notfalls ihre strategischen Sprengkörper einsetzen, so leben wir unter dem amerikanischen «Atomschirm». Wo die kaum mehr vorstellbare Vernichtungskraft der verschiedenen Größen atomarer Sprengkörper miteinander verglichen wird, ist von «yield» die Rede, was am ehesten mit «Ertrag» zu übersetzen wäre.

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Die Initialzündung für den Holocaust ist der «erste Schlag», als ob sich da zwei Boxer gegenüberstünden. Die tödliche Antwort darauf - von der man im Ernstfall kaum wissen kann, ob sie Minuten vor oder nach der angenommenen Initialzündung ausgelöst wurde - ist der «zweite Schlag». Und dann gibt es noch den dritten, vierten.

Wenn es um die Frage geht, wo der «zumutbare Schaden» solcher «Schläge» aufhört, wird in «Megatoten» gerechnet. Warum sollte man bei einer Million toter Menschen nicht von Megatoten sprechen, wenn doch das Äquivalent für eine Million Tonnen herkömmlichen Sprengstoffes eine Megatonne ist?

Es mag sein, daß kein Mensch das Geschäft dieser Planer aushielte, ohne die Wirklichkeit hinter einer bis zur Unkenntlichkeit abstrakten Sprache zu verstecken. Nur: wir müssen uns dessen bewußt sein: Diese Sprache hat mit der Wirklichkeit weniger zu tun als die griechische Grammatik mit einer Tragödie des Sophokles. Denn die Verse des Sophokles folgen noch den abstrahierbaren Regeln der Grammatik. Der atomare Holocaust dürfte sich den Klügeleien der Strategieplaner rasch entziehen.

Wo lebendige Sprache sich in den Jargon der Technokraten verflüchtigt, ist der Übergang zur bewußten Täuschung fließend.

Wenn ein atomarer Sprengsatz liebevoll «nuke» genannt wird und daraus dann - wie praktisch! - auch ein Verbum gebildet wird, so daß der Vorgang, wodurch eine Stadt atomar ausgetilgt wird, einfach mit «nuke a city» umschrieben wird, ist das noch Technokraten] argon oder schon zynische Irreführung?

Das «Fenster der Verwundbarkeit», ein Ausdruck, der, wie wir gesehen haben, Bände spricht - ist zu den bewußten Täuschungen zu zählen. Gemeint ist damit die Tatsache, daß, zumal wenn die Interkontinentalraketen und ihre vielen unabhängigen Sprengköpfe immer genauer ihr Ziel finden, alle landgestützten Raketen noch verwundbarer werden. Das Groteske daran ist, daß nicht die Landmacht Sowjetunion, die drei Viertel ihrer strategischen Atomstreitmacht auf dem

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Lande stationieren muß, dies als besondere Gefährdung empfindet, sondern die Seemacht USA, die neben einer wesentlich stärkeren Bomberflotte auf ihren 32 Atom-U-Booten Raketen mit etwa 5000 Sprengköpfen montiert hat, also die Hälfte ihrer strategischen Macht. Das «Fenster der Verwundbarkeit», so meinen seine Erfinder, könnte sich gegen Mitte der Achtzigerjahre dem Gegner weit öffnen, wenn die landgestützten Sowjetraketen so zielgenau - oder vielleicht noch genauer - sein könnten, wie es die amerikanischen Minute-man-Raketen schon sind. Weinberger:

«... ein sowjetischer Erstschlag - wir würden keinen Erstschlag machen - aber ein sowjetischer Erstschlag würde dann mehr als 75 Prozent unserer landgestützten Raketen ausschalten.»7

Natürlich: den Holocaust löst immer nur der andere aus, selbst ist jeder dazu viel zu moralisch. Und den Einwand, 75 % der landgestützten Raketen seien für die USA - im Gegensatz zu der UdSSR - weniger als 20 % der gesamten strategischen Streitmacht, läßt Weinberger nicht gelten. Denn «die U-Boote, die übrig blieben, haben nicht den ausreichenden Grad von Zielgenauigke'it für gehärtete Ziele .. .»8

Abgesehen davon, daß diese Zielgenauigkeit der U-Boote noch in diesem Jahrzehnt hergestellt werden soll, sie könnten - und würden - noch mit einem Drittel ihrer Sprengköpfe die Sowjetunion lebensunfähig schießen.

Nur eines fehlte dann in der Tat: Die Fähigkeit zum systematischen Niederkämpfen der gegnerischen Kräfte, die nötig ist, wenn man die totale, einseitige Abschreckung will, die wiederum allein den außenpolitischen Handlungsspielraum öffnen kann.

So zieht Weinberger aus der Tatsache, daß eines Tages die strategischen Atomträger der Seemacht USA einer Gefährdung ausgesetzt sein könnten, die nur einen Bruchteil der Ge-

7 Wireless Bulletin front Washington, Nr. 54/1982, vom 19.3.1982, S. 3

8 a.a.O.

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fährdung ausmachen würde, die heute schon für die Landmacht Sowjetunion besteht, den Schluß: «So sind wir in einer Situation, in der wir alle drei Teile unserer Verteidigungstriade modernisieren und verstärken müssen.»9 Die Modernisierung der landgestützten Raketen, der Bomberflotte und der Raketenträger auf U-Booten zu legitimieren, wurde das Bild vom Fenster der Verwundbarkeit ersonnen. Es ist also einer jener alarmistischen Kniffe, mit denen man seine Öffentlichkeit dazu bringt, mehr Rüstung zu billigen und - vor allem - zu bezahlen. Und daher kommt es nicht darauf an, was stimmt, sondern was wirkt. Wenn man Geld für die Rüstung braucht, ist keine sprachliche Primitivität zu albern. Präsident Reagan schärft seinen Landsleuten immer wieder ein, sie müßten Sicherheit, ja den Frieden «kaufen». «We must buy peace» lautet die Formel, in der zwei schäbige Utopien zusammenfließen, die ökonomische und die sicherheitspolitische. Dem Einwand, Friede lasse sich wohl doch nicht kaufen, vielleicht seien die 26 Milliarden für die MX vergeudetes Geld, begegnet Reagan markig:

«Ein vergeudeter Dollar ist ein Dollar, welcher der gewaltigen Anstrengung, für unser Volk eine sichere Zukunft zu bauen, verloren geht.»10

Will man die totale Abschreckung, so kann man zwar zu wenig, niemals aber zu viel rüsten. Wo alles käuflich ist, sollte da nicht auch der Friede käuflich sein? Und so wird der Militärhaushalt, von dem der alte Fulbright, ein Vierteljahrhundert Vorsitzender des außenpolitischen Senatsausschusses, sagte, er sei «so groß, die Betonung der Nuklearwaffen so stark und der Redeschwall über die sowjetische Bedrohung so extrem, daß man dem Gefühl nicht widerstehen kann, daß wir uns darauf vorbereiten, einen Atomkrieg zu führen und zu gewinnen»11, propagiert mit der Verheißung, so und nur so könnten die Bürger ihren Frieden kaufen.

  • 9 a.a.O.,S. 3

  • 10 a. a. O., Nr. 243/1982, vom 29.12.1982, S. 2

  • 11 Süddeutsche Zeitung vom 18.3.1982

Von da aus ist es durchaus konsequent, die MX-Rakete «Friedenswahrer» (peace-keeper) zu taufen. Wenn alle Rüstung nur dem hehren Ziele dient, einen blutrünstigen Aggressor in seine Schranken zu verweisen, warum soll dann die Rakete, die gleichzeitig die Erst- und Zweitschlagskapazität wesentlich steigern soll, nicht den Namen bekommen, den sie verdient?

Hier sind wir allerdings an dem Punkt, wo aus der Täuschung die Demagogie, die Verführung wird. Wer so plump meint verführen zu müssen, dürfte es nötig haben. Wie nötig, zeigt die wachsende Friedensbewegung in den USA.

Auch der Begriff der Nachrüstung - ein Wort, das sich in keine fremde Sprache übersetzen läßt - gehört in diese Kategorie. Die Aufstellung neuer Typen von Mittelstreckenraketen in Europa ist nicht mehr und nicht weniger Nachrüstung als alles, was heute in Ost und West geschieht. Seit eh und je wird jeder neue Schritt der Aufrüstung damit gerechtfertigt, die andere Seite habe vorgerüstet. Auch hier gilt: Daß man dies nun für eine bestimmte Drehung der Spirale plakatieren muß, deutet auf wachsende Unsicherheit. Das Überzogene solcher Prägungen macht auch den gutgläubigen Beobachter stutzig. Er spürt, daß man es nötig hat, mit Tricks zu arbeiten. Und dem Nachdenklichen zeigt die hüllenlose Sprach-Demagogie, daß da etwas zuende geht, was sich nicht nur überdreht, sondern überlebt hat.

Mag sein, daß wir die Sprache des Friedens noch nicht gefunden haben. Aber die Sprache der schäbigen Utopien nutzt sich ab.

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